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Eine Wiedererinnerung an Ostberlin

Martin Jander legt einen interessanten Stadtführer über Ostberlin vor…

Für heutige Schüler liegt die Existenz der DDR und Ostdeutschlands zeitlich so weit zurück wie für die heute 40 bis 50-jährigen die Zeit des Nationalsozialismus. Dementsprechend gering dürfte das Wissen über deren Alltagsrealität ausgeprägt sein, zumindest in Westdeutschland.  Dennoch war diese historische Epoche, einschließlich der mit ihr einhergehenden Teilung Deutschlands, eine bis heute prägende historische Zäsur. Die insbesondere in ostdeutschen Städten sehr starken Pegidademonstrationen dürften ein Indiz für das Fortwirken der ehemals starr geteilten Lebenswelten in West- und Ostdeutschlands und insbesondere Berlins sein.

Martin Jander, der 1955 geboren wurde und viele Jahre lang in Westberlin zum Totalitarismus und zum linksradikalen Terrorismus geforscht und publiziert hat, hat nun einen großzügig bebilderten historischen Reiseführer über „Berlin (Ost) 1945-1990“ vorgelegt – so lautet auch der Titel seines Werkes. In diesem beschreibt er, jeweils durch Fotos unterlegt, zentrale Entwicklungsphasen, Persönlichkeiten sowie bedeutsame Orte des ehemaligen Ostberlins. In den 70er Jahren hatte Jander als Geschichtsstudent in Westberlin einige Freunde aus den winzigen Ostberliner Dissidentengruppen kennengelernt, was sich für ihn als ein „Augenöffner“ (S. 14) erwies: Er machte sich bereits früh keinerlei Illusionen über die trostlose Atmosphäre und den diktatorischen Charakter dieses Staates DDR. Insofern war die Arbeit an diesem Reiseführer für ihn auch eine innere Wiederbegegnung mit diesen frühen Erfahrungen – was für viele Leser gleichermaßen gelten dürfte.

Von den frühen Spuren Ostberlins ist heute nicht mehr viel zu sehen. Deshalb stellt Jander einführend zentrale Forschungsinstitutionen, einschließlich deren Anschriften und Websites, vor, die sich heute noch mit der Geschichte der DDR sowie wichtiger, vor allem oppositioneller Persönlichkeiten der DDR beschäftigen. Für die jüngere Generation dürften viele dieser Namen kaum noch mit tiefergehendem Wissen  gefüllt sein.

Spannend sind einzelne Portraits: Der Schriftsteller Stefan Heym, 1913 in einer jüdischen Familie geboren, fiel nach seiner Rückkehr aus den USA in die DDR dort früh in Ungnade. Dennoch blieb er und verteidigte deren Existenz. Aufsehen erregte seine Rede als Ältester des Bundestages für die PDS im Jahr 1994. Sieben Jahre später starb Stefan Heym in Jerusalem. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beerdigt. Es folgen weitere Kurzportraits über Herrmann Weber, der als der wichtigste Historiker zur Geschichte der DDR gilt; über den Schriftsteller Erich Loest, der an der DDR litt und doch nie von ihr loskam, nach Haftstrafe und späterer Übersiedlung in die Bundesrepublik; über Paul Merker, der als Sozialist schon in den 50er Jahren mit Parteiordnungsverfahren überzogen wurde. Weitere Portraits handeln von Anna Segher, Victor Klemperer, Bruno Sattler, Rudolf Schottlaender, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann, jeweils mit Hinweisen auf noch verfügbare Publikationen und Websites.

Einen zweiten Schwerpunkt des Bandes bilden zentrale historische Orte Ostberlins, die heute in ihrem historischen Charakter kaum noch erkennbar sind. Einige seien genannt: Die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Gedenkstätte Hohenschönhausen, Majakowskiring (wo die DDR Elite wohnte), der Berliner Mauerweg, die Marienkirche, der Alexanderplatz mit Fernsehturm und das Stasi-Museum.

Erwähnung verdient die Wanderausstellung „Bruderland ist abgebrannt“ (S. 107f.), in der der – gesellschaftlich isolierende – Umgang der DDR mit ihren „Vertragsarbeitern“ (vor allem aus befreundeten afrikanischen Staaten sowie aus Kuba, Nicaragua, Vietnam, Polen und Jemen) beschrieben wird. Zu wirklichen Kontakten zwischen diesen und der DDR-Bevölkerung kam es nahezu nie. Die „Ausländer“ blieben die Fremden, ein wirkliches Kennenlernen, ein sozialer Austausch war ausdrücklich nicht erwünscht. Diese Fremdheit, diese gesellschaftliche Tabuisierung dürfte maßgeblich zu der heutigen, durch starke Fremdenfeindlichkeit geprägten Atmosphäre in vielen ostdeutschen Städten beigetragen haben, wie sie sich in den Pegidademonstrationen und in den Übergriffen gegenüber Flüchtlingsheimen in besorgniserregender Weise zeigt. Eine gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Probleme dürfte noch sehr viele Jahre in Anspruch nehmen, mit ungewissem Ausgang. Die demokratische Grundstruktur bleibt labil.

Einen dritten Schwerpunkt dieses informationsreichen Bandes bildet eine dichte Beschreibung der verschiedenen Phasen der Geschichte Ostberlins von der Befreiung 1945, der Gründung, der Abschottung – insbesondere durch den Mauerbau 1961 – der gesellschaftlichen Agonie und dem Aufbruch ab Mitte der 1980er Jahre, bis zu ihrer Auflösung 1989/90 und der Vereinigung. Die Bilder der Demonstrationen in der Endphase der DDR, ermöglicht vor allem durch Gorbatschows Entschlossenheit und Ermutigung und die Filmsequenzen von der  Maueröffnung 1989 dürfte unauslöschliche Erinnerungen in allen Menschen hinterlassen haben, die diese bewegende Zeit miterlebt – oder zumindest am Fernseher mitverfolgt – haben. Es war gleichermaßen eine historische wie auch eine gesellschaftliche Zäsur. Das Ende der DDR mochte „für viele Zeitgenossen überraschend“ gekommen sein. „Von heute aus gesehen sind die damaligen Vorgänge jedoch nicht wirklich verwunderlich“, konstatiert Jander (S. 137).

Abgeschlossen wird der Band durch eine dichte Chronik sowie einen Serviceteil.

Ein gut gemachter Reiseführer, der zu einer Wiederbegegnung mit einem – zum Glück – untergegangenen Staat bzw. einer Stadt einlädt. – (rk)

Martin Jander: Berlin (Ost) 1945-1990. Historischer Reiseführer durch die DDR, Mitteldeutscher Verlag, 2015, 192 S., 12,95 Euro, Bestellen?