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Vertrieben sind wir, Verbannte

Portraits fünf deutsch-jüdischer Juristen aus Wittlich…

Mit Beginn der NS-Herrschaft verschärft sich eine bereits in der Weimarer Republik in deutsch-nationalen Kreisen vorhandene antisemitische Stimmung gegen die deutschen Juden. Neben Geschäftsinhabern geraten vor allem jüdische Juristen und Ärzte in das Visier der Nationalsozialisten – ihre Kanzleien und Praxen werden reichsweit am 1. April 1933 boykottiert. Das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ und das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 bedeuten für viele jüdische Gerichtsassessoren und Juristen in der Praxis ein Ausbildungs- und Berufsverbot. Mit der 5. Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“ vom November 1938 fallen sämtliche Ausnahmeregelungen (z.B. für „Frontkämpfer“) weg – lediglich einige jüdische „Konsulenten“ werden noch geduldet, um bei der „Entjudung“ der noch bestehenden jüdischen Gewerbebetriebe zu Gunsten des NS-Staates mitzuwirken. Auch die hier porträtierten deutsch-jüdischen Juristen aus Wittlich bleiben von diesen staatlichen Sanktionen nicht verschont. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen können sie der Deportation und Ermordung entkommen – doch keinem gelingt es, im Exil wieder als Jurist zu arbeiten.

Franz-Josef Schmit, Vertrieben sind wir, Verbannte. Portraits fünf deutsch-jüdischer Juristen aus Wittlich, Band 17 der Schriften des Emil-Frank-Instituts, Paulinus Verlag 2015, 220 S., zahlreiche Abbildungen, Euro 14,90.

Aus dem Vorwort:

Das Interesse an einer weiterführenden Bildung über die jüdische Volksschule hinaus war auch bei Wittlicher Juden zu Ende des 19. Jahrhunderts und bis 1933 bemerkenswert. Trotzdem sind aus der recht großen Gemeinde insgesamt nur vierzehn Akademiker hervorgegangen – die meisten Juden aus Wittlich ergriffen für das deutsche Judentum typische Berufe: In Wittlich gab es viele Viehhändler (oft in Verbindung mit der Tätigkeit als Metzger), Handwerker, einige Landwirte und vor allem Kaufleute und Handelsmänner sowie drei Fabrikanten.

Leben und Wirken der aus Wittlich stammenden Lehrer sind weitgehend beschrieben. Dies gilt nur sehr eingeschränkt bis dato für die Juristen jüdischer Herkunft aus Wittlich. Schon länger bekannte, vor allem aber neue, hier erstmals ausgewertete Dokumente zu Dr. jur. Franz Archenhold (1890-1970) und grundlegende Anmerkungen zur Entrechtung jüdischer Rechtsanwälte in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmen den Umfang der Darstellung zu seiner Biografie. Dr. Archenhold lebte zudem am längsten als Jurist in Wittlich und war aufgrund seines Engagements im Wittlicher Sport- und Sozialwesen eine bekannte Persönlichkeit der Stadt.

Die Quellenlage zu Paul Sänger (1901-1985) und Otto Ernst Kann (1910-1990), die bereits in den 20er Jahren ihre Heimatstadt verlassen hatten, gestaltet sich weitaus schwieriger. Mit Unterstützung ihrer Nachkommen war es jedoch möglich, bislang nicht bekannte Stationen ihres Lebens nachzuzeichnen und Schwerpunkte zu setzen: Paul Sänger als Staatsanwalt im ober-schlesischen Abstimmungsgebiet und seine Emigration nach Argentinien, einem Exilland, das weit weniger im Bewusstsein ist als Israel und die USA. Otto Ernst Kann als Mitarbeiter der zionistischen Jugendbewegung und seine Emigration nach Palästina, wo er über Jahre in einem Kibbuz mit seiner Familie lebte.

Die knappe Darstellung zu Dr. jur. Rudolf Bär (1906-1967) stützt sich weitgehend auf seine Personalakte aus der Referendarzeit und seine Entschädigungsakte, die deutlich erkennen lässt, mit welchen besonderen Schwierigkeiten ein beruflicher Neuanfang für Akademiker in einem im Aufbau befindlichen Land wie Palästina / Israel verbunden war. Zu Dr. jur. Carl Max Hess (1891-1953) konnte die Personalakte des preußischen Justizministeriums bis zum Jahr 1922 ausgewertet werden. Besonders aufschlussreich erwies sich die umfangreiche Entschädigungsakte aus dem Hauptstaatsarchiv Hamburg. Nicht zuletzt wegen der schlechten Berufsperspektiven für Juristen (so genannte „Überfüllungskrise“ in der Weimarer Republik) hatte er erst gar nicht versucht, dauerhaft in den juristischen Staatsdienst einzutreten, sondern eine Beschäftigung in der Finanzwirtschaft gesucht. An seiner Geschichte kann ein wichtiger, häufig vernachlässigter Aspekt der Ausgrenzung und Verfolgung der deutschen Juden in der NS-Zeit dokumentiert werden: die staatliche Ausplünderung und Enteignung.

Die Geschichte der Eltern und Vorfahren von Dr. Franz Archenhold, Paul Sänger und Ernst Otto Kann wiederum kann hier nur noch in wenigen Punkten ergänzt werden. Seitdem die Bildungschancen für deutsche Juden sich insgesamt im Zuge der Emanzipationsbewegung und der rechtlichen Gleichstellung verbessert hatten, strebten auffällig viele jüdische Intellektuelle in die juristische Ausbildung. Dabei erschienen Anwaltschaft und Notariat als freie Berufe weitaus attraktiver als der staatliche Dienst als Richter oder Staatsanwalt. In dieser Entwicklung kann man insgesamt ein Bestreben sehen, den erreichten rechtlichen Status in Deutschland auch für die eigene Minderheit auf Dauer abzusichern, den eigenen Lebensstandard zu erhöhen und gesellschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Während die Mehrheit der deutschen Juristen der Weimarer Republik weitgehend ablehnend gegenüberstand oder diese sogar aktiv bekämpfte, war die Haltung der meisten jüdischen Juristen genau umgekehrt und gerade die im Republikanischen Richterbund zusammengeschlossenen Juristen zählten in ihren Reihen viele Juden. Der Staatsanwalt Paul Sänger war einer von ihnen. Du bist nichts, dein Volk ist alles! – so lautete einer der zentralen Grundsätze der NS-Ideologie zur Überhöhung der so genannten „Volksgemeinschaft“. Die Individualität und Person des Einzelnen sollten nur noch eine – auch im Recht – marginale
Rolle spielen. Wenn hier Lebensläufe jüdischer Juristen aus Wittlich nachgezeichnet werden, so ist es auch ein besonderes Anliegen des Verfassers, den Nachgeborenen an konkreten Beispielen zu vermitteln, was schrittweise Entrechtung und Ausgrenzung auf Grund einer zutiefst rassistisch bestimmten Staatsideologie für Menschen bedeuten kann. Die biografischen Darstellungen der jüdischen Juristen aus Wittlich werden hier ergänzt durch neun Zusammenfassungen zu historischen Hintergründen.

Für zumindest drei der vorgestellten Juristen – Paul Sänger, Otto Ernst Kann und Dr. jur. Hess – konnte den noch in Argentinien, Israel und den USA lebenden Familiennachkommen ein Teil ihrer Familiengeschichte neu erschlossen werden. Schon aus diesem Grund haben sich die Mühen umfangreicher Recherchen in deutschen Archiven und Instituten gelohnt.

Carlos Sänger, jüngster Sohn von Paul Sänger, Gilad Kenan, Enkel von Otto Ernst Kann, und Ursula Elizabeth Oscar-Hess, Tochter von Dr. jur. Hess, haben diese Untersuchung in ihrer Entstehung mit Interesse verfolgt und durch Dokumente und Fotos aus den Familienarchiven wesentlich unterstützt. Dafür ein herzliches Dankeschön vorweg.

Franz-Josef Schmit