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Moses Hess

Zwischen „zionistischem Erinnern“ und „sozialistischem Vergessen“…

Von Albrecht Spranger

Es ist nicht ungewöhnlich, dass das Gedenken späterer Generationen an die Geschichte historischer Bewegungen oftmals eigenwillige Wege geht. Da werden Mythen produziert, Personen glorifiziert, während einstige Protagonisten unter den Tisch, sprich dem Vergessen anheim fallen. Auch die Geschichte der Linken bildet hier keine Ausnahme, etwa wenn es um die Erinnerung an die Intellektuellen des Frühsozialismus im 19. Jahrhundert geht. Während Karl Marx und Friedrich Engels quasi als Synonyme dieser Bewegung erscheinen, sind in den Debatten sowie der öffentlichen Wahrnehmung andere Protagonisten kaum präsent.

Diese Problematik des Erinnerns treibt auch Volker Weiß in seiner im Februar 2015 im Greven Verlag erschienenen Moses Hess-Biographie um. Denn der führenden Rolle von Hess im Frühsozialismus zum Trotz, erinnerten die Erben der Arbeiterbewegung lange Zeit nicht an ihn. Diesem „sozialistischen Vergessen“ stellt Weiß ein „zionistisches Erinnern“ gegenüber, war Hess doch nicht nur Sozialist der ersten Stunde, sondern auch Wegbereiter und Vordenker des Zionismus, der schon 35 Jahre vor Herzl die Gründung eines jüdischen Staates zum Schutz verfolgter Juden forderte.

Geboren wurde Moses Hess 1812 im rheinischen Bonn als Sohn einer jüdischen Unternehmerfamilie. Das bei Eltern und Großeltern vorherrschende streng orthodoxe Umfeld wurde ihm aber schnell zu eng. In einer Zeit, in der sich alte Orientierungspunkte und traditionelle Sicherheiten in einer sich rasant veränderten Gesellschaft aufzulösen begannen, verließ Hess wie viele andere den traditionellen Rahmen der jüdischen Gemeinschaft und suchte außerhalb dessen nach neuen Wegen. Im Gegensatz zum Wunsch seines Vaters wollte sich Moses Hess weder mit einer rein religiösen Bildung zufrieden geben, noch sah er seine Zukunft im familiären Unternehmen. Über das Studium von Hegel und Spinoza, landete er so schließlich im Kreis der Junghegelianer, lernte hier Karl Marx und Friedrich Engels kennen und war in der Folge einer der führenden Köpfe des im Entstehen begriffenen Sozialismus. Die Suche nach einer Lösung der – den Zeitgenossen damals unmittelbar und krass vor Augen tretenden – sozialen Frage sollte fortan sein Leben prägen. Von einem anfänglichen „philosophischen Sozialisten“ entwickelte er sich dabei, zusammen mit Marx und Engels, zu einem Anhänger des „wissenschaftlichen Sozialismus“. Wie so oft in der Geschichte der Linken, kam es aber schließlich zum Zerwürfnis zwischen den Weggefährten. Trotzdem blieb Hess der Arbeiterbewegung verbunden und engagierte sich ebenso im „Bund der Kommunisten“ wie auch im von Ferdinand Lassalle begründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“.

Mehr noch als die Streitigkeiten in den eigenen Reihen, setzten Hess aber die Rückschläge im Kampf um eine bessere Welt zu. Nicht zuletzt die gescheiterte Revolution von 1848 war ihm eine bittere Niederlage. Um möglichen Repressionen zu entgehen, führte ihn sein Weg ins Exil. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben. Vor allem Frankreich und Paris waren ihm zur zweiten Heimat geworden. Hier begann er auch sich verstärkt mit naturwissenschaftlichen Studien und Anthropologie zu beschäftigen, was in Zusammenspiel mit seiner frühen Spinoza- und Hegel-Lektüre schließlich 1862 zur Veröffentlichung seines heute wohl prominentesten Werkes führte, dem frühzionistischen „Rom und Jerusalem“. Geprägt durch Erfahrungen von Antisemitismus und, wie Volker Weiß betont, resigniert ob dem Scheitern seiner bisherigen politischen Praxis (176), erweiterte er hier den europäischen Befreiungsnationalismus seiner Zeit um die jüdische Nation. Seinem lebenslang angestrebten Ziel, der Befreiung der Menschheit in einer schrankenlosen Gesellschaft, tat dies indes keinen Abbruch. Im Gegenteil galt ihm die Befreiung und Einheit der Menschheit, erst nach einer partikularen Befreiung der Juden als machbar.

Diese geistige Entwicklung, hier natürlich nur unter groben Auslassungen wiedergegeben, bildet die Folie vor der sich Volker Weiß mit dem Leben und Werk von Moses Hess auseinandersetzt. Seine sehr kenntnisreich und spannend verfasste Biographie ist jedoch, darauf weist er selbst hin, nicht die erste Veröffentlichung zu Hess. Zwar lief die Auseinandersetzung mit ihm in Deutschland nur schleppend an, aber nachdem Horst Lademacher 1977 eine erste Biographie veröffentlichte, entstanden mittlerweile, vor allem im Zuge des 200. Jubiläums von Hess‘ Geburtstag im Jahr 2012, eine ganze Reihe von Untersuchungen. Daneben existiert außerdem eine mehr oder minder ungebrochene zionistische Rezeption. Diese begann bereits in den 1890er Jahren mit der Neuveröffentlichung von „Rom und Jerusalem“ durch den ersten Vorsitzenden der deutschen Zionisten, Max Bodenheimer. Einen ersten Höhepunkt erreichte sie mit einer biographischen Studie, die Theodor Zlocisti 1905 im Auftrag der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ vorlegte. Ein Projekt, das wegen fehlender finanzieller Mittel mit einer Art Crowdfunding finanziert werden musste. 1921 ließ Zlocisti dann eine umfassendere und ausgebaute Version folgen. Daneben beschäftigten sich weitere zionistische Intellektuelle wie Martin Buber mit Hess. Auch in den Jahren nach der Staatsgründung Israels riss die Erinnerung nicht ab und es finden sich Arbeiten von israelischen Forscher wie Schlomo Na’aman, Zwi Rosen und Edmund Silberner zu Hess.

Warum also nun eine weitere Hess-Biographie könnte sich der Leser fragen. Für Weiß liegt die Antwort in dem Umstand, dass neben dem „zionistischen Erinnern“ eben auch ein „sozialistisches Vergessen“ existiert. Denn im Gegensatz zur zionistischen Bewegung vergaß die Linke den „Gründer der Sozialdemokratie“, wie es 1903 Weggefährten von Hess auf seinen Grabstein meißelten, überraschend schnell (202f). Diesem Missverhältnis, dessen Ursachen Weiß gründlich beleuchtet, will der Autor mit seiner Biographie ein Stück weit Abhilfe schaffen, indem er sowohl an den Frühzionisten als auch den rheinischen Revolutionär erinnert. Denn zeitlebens habe Hess von Synthese jüdischer Emanzipation und sozialistischer Revolution geträumt (205). Nicht zuletzt aufgrund dieser Kombination und seinem nie verleugneten Judentum sei er aber im Abseits der Parteigeschichtsschreibung gelandet (11).

Einen neuen Beitrag zur akademischen Hess-Forschung soll und kann das Buch allerdings explizit nicht darstellen (12). Stattdessen geht es darum an einen widersprüchlichen aber immer noch aktuellen Moses Hess zu erinnern: „In seiner Mischung aus revolutionärem Messianismus, Idealismus und der Aufmerksamkeit für die verfolgte Minderheit der Juden passte er nicht in eine Strömung, die auf den geradlinigen Verlauf der Geschichte setzte. Angesichts seiner Bedeutung und der ungebrochenen Relevanz der von ihm aufgeworfenen Fragen ist es an der Zeit, dieses Versäumnis nachzuholen. Einen kleinen Teil der Schuld zu begleichen ist Anspruch dieses Buches.“ (210-211)

Seinem Anspruch wird Weiß durchaus gerecht. Vor allem für die Lesbarkeit des essayistisch gehaltenen Buches ist es darüber hinaus von Gewinn, dass er hierbei von der Form eines klassischen Wissenschaftsbuches absieht. So verzichtet der Autor auf eine längere Einführung, die einen Überblick in den Stand der Hess-Forschung gibt oder den methodischen Zugang diskutiert. Trotzdem werden im Text immer wieder einschlägige Forschungsergebnisse, sowie Kontextualisierungen zur Geschichte des Kommunismus sowie zur allgemeinen Entwicklung des 19. Jahrhunderts und zur jüdischen Geschichte im Besonderen eingeflochten. Sein Buch ist daher bei weitem nicht nur für ein Fachpublikum der Geisteswissenschaften gedacht, sondern richtet sich an einen weiten Leserkreis. Der Autor umgeht damit den oftmals auf sich selbst bezogenen Kreis des akademischen Betriebs und hat mit seinem Buch sicherlich einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung an eine Person geleistet, an die es sich auch im 21. Jahrhundert zweifellos zu erinnern lohnt.

Volker Weiß: Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist, Greven Verlag 2015, 240 S., Euro 19,90, Bestellen?