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Leben im Transit

International Tracing Service legt Publikation über Displaced Persons vor…

Von Nicole Grom

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielten sich in Deutschland etwa sieben Millionen Menschen auf, die als Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene oder Häftlinge von Konzentrationslagern heimat- bzw. staatenlos geworden waren. Die (West-)Alliierten sahen sich mit der schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert, neben der Registrierung und Versorgung dieser sogenannten Displaced Persons (DPs) eine Strategie für deren Repatriierung zu entwickeln, was die UNRRA bzw. (ab 1947) die IRO maßgeblich koordinierte. Die in den Westzonen entstehenden DP-Camps wurden zu – um die etablierten Wortsymbole zu gebrauchen – ‚Wartesälen‘ im ‚Transit‘, in denen sich gleichwohl ein soziales und kulturelles Leben sui generis entwickelte – dies ein Thema, das sich bislang den Zugriffen von ‚NS-Forschung‘ und ‚Nachkriegsgeschichte‘ entzogen hat und noch nicht im kollektiven Geschichtsbewusstsein der Deutschen verankert ist.

Ein wichtiges Thema also, dessen sich das vorliegende Jahrbuch des International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen annimmt. Und tatsächlich wäre kaum eine andere Institution für diese Auseinandersetzung prädestinierter als eben der ITS, der, wie im Geleitwort der Direktorin Rebecca Boehling zu lesen ist, eine IRO-Gründung darstellt, der die Klärung individueller Schicksale oblag (S. 9). So erweist sich der ITS, der sich als Dokumentations-, Forschungs- und Bildungszentrum ausweist, mit seinem seit 2007 für die Allgemeinheit zugänglichen Archiv als „Schatzgrube“ (S. 9) für den Forschungsschwerpunkt Displaced Persons, wovon einige Beiträger des Bandes denn auch profitierten. Insofern stellt das Jahrbuch zu Recht auch eine Art ‚Anschauungsobjekt‘ für die Möglichkeiten der Datenerhebung im Hause dar. Diese illustriert auch eine Bibliografie zu maßgeblich auf Grundlage von ITS-Dokumenten entstandenen Publikationen des Jahres 2013, die den Band beschließt.

Der inhaltliche Bogen des 26 deutsche bzw. englische Beiträge umfassenden Jahrbuchs ist durchaus facettenreich gespannt, wobei der Schwerpunkt auf den jüdischen DPs liegt, also der Scheerit Haplejta, dem ‚Rest der Geretteten‘, wie diese sich selbst nannten. Allerdings drängt sich rasch eine Frage auf: Warum wird die große und disparate Gruppe der baltischen DPs nicht eigens verhandelt?  Es wäre der Institution doch ein Leichtes gewesen, etwa Markus Velke, der erst kürzlich sein einschlägiges Promotionsthema vor Ort präsentierte, oder den ausgewiesenen Fachmann Christian Pletzing, der – wie etwa Mitherausgeberin Susanne Urban – zum Network Displaced Persons Research an der Universität Bonn zählt, für einen Beitrag zu gewinnen.

Rätselhaft blieben ferner die beiden Überschreibungen, die dem Band durch Bündelung von Beiträgen eine gewisse Binnenstruktur verleihen sollen, nämlich ‚Erkenntnisse‘ (S. 17-52) und ‚Freilegungen‘ (bis S. 272) – die Betitelungen sind im Grunde austauschbar, sie sollen lediglich eher subjektive von wissenschaftlichen Zugängen separieren. Trotzdem hat die Idee, über den ersten Teil einen stärker persönlich-emotionalen Einstieg zu schaffen, etwas für sich. Peter Finkelgruen etwa berichtet hier über seine Odyssee von Shanghai über Prag nach Israel (S. 17-20); in Savyon Liebrechts Erzählung ‚Kahlschlag‘ figuriert das Grauen von Auschwitz als nimmermüde Erinnerung, die die Gegenwart der Überlebenden beherrscht (S. 21-26); Jutta Fleckenstein, Kuratorin am Jüdischen Museum München, benennt sehr sensibel Fragen der Musealisierung einer DP-Geschichte (S. 40-50), deren einzig Objektivierbares das Ephemere ist: „Wie kann eine Geschichte in Bewegung – ein Leben im Transit – thematisiert werden? Das Weitergehen? Das Zufällige? Eine Zwischen-Zeit? An einem Zwischen-Ort?“ (S. 42).

Nun zu den ‚Freilegungen‘. Zunächst stellt hier Jure Gombač in „Repatriation to Slovenia after World War II“ Hindernisse der – auf der Konferenz von Jalta Anfang 1945 beschlossenen – ausnahmslosen Repatriierung von DPs vor, die gerade in Richtung Osten oft unglücklich und unsicher verlief. Die schließende Frage „After the return: Being at home?“, die letztlich als Leitfrage für die gesamte Publikation gelten kann, charakterisiert die alte Heimat als Ort der Entfremdung und die Heimatlosigkeit als spezifische Verfasstheit der DPs schlechthin. Große Themenkreise des Bandes bilden in redaktionell geschickter Verknüpfung die medizinische Versorgung und Beurteilung der Überlebenden im Hinblick auf die Erlaubnis zur Emigration, die Frage nach Herkunft und Verbleib der zahlreichen gestrandeten Kinder, die auch deren etwaige ‚Germanisierung‘ tangiert, Geschichte, Organisation und Binnendifferenzierung ausgewählter DP-Camps, Flüchtlingsbewegungen mit besonderem Fokus auf dem Schicksal der polnischen Juden im sowjetischen/zentralasiatischen Exil, Momente nationaler, religiöser sowie persönlicher Identität (auch in ihrer literarischen Veräußerung) sowie der Umgang mit tatsächlichen und nur vermeintlichen NS-Kollaborateuren. Ein Beitrag über die australische DP-Politik zwischen 1945 und 1955 rundet den Aufsatzteil ab.

Um es kurz zu sagen: Allzu viel Neues kam bei den ‚Freilegungen‘ nicht ans Licht, obschon die Überschreibung eben dies ja suggeriert. Offensichtlich wird dieser Missstand besonders bei folgenden Autoren, die teils gänzlich, teils tragend aus eigenen Vorgängerpublikationen schöpfen, so dass die Inhalte hier nicht referiert werden müssen: Ada Schein („Medical Rehabilitation of Holocaust Survivors in the DP-Camps in Germany“), Anna Andlauer („Die Kinder von Indersdorf“), Holger Köhn („Die Lage des DP-Lagers Zeilsheim“; hier im Gegensatz zur Dissertation1 dankenswerterweise ohne nähere Einlassung auf raumbezogene Semantiken), Atina Grossmann („Remapping Relief and Rescue: Flight, Displacement and International Aid for Jewish Refugees during World War II“); hierher gehören leider auch die an sich sehr tiefsinnigen Ausführungen von Margarete Myers Feinstein („Jewish DPs and Questions of Gender“). Eine weitere Gruppe bilden solche Beiträge, die sich zwar weitgehend auf bislang unzitierte Quellen – oft biographische Informationen, oft aus dem ITS selbst – stützen, die Archivalien aber nicht für eine im engeren Sinne wissenschaftliche Aufarbeitung nutzen, sondern eher schlichte ‚Erlebnisberichte‘ Überlebender produzieren, die in dieser Form nicht Eingang in die ‚Freilegungen‘ hätten finden dürfen; zu sehen bei Iris Helbing („Suche und Fürsorge. Die UNRRA und die ‚germanisierten‘ polnischen Kinder“), Elisabeth Schwabauer („Die Gegenwart des Vergangenen. Erinnerungen in den Akten des Child Search Branch“) sowie, trotz des ambitionierten Untertitels, bei Susanne Urban („’Mit Jidiszm Grus‘ und Davidstern. Jüdische Selbstdefinitionen nach der Shoah in Dokumenten des ITS“).

Dennoch gibt es sie, die ‚Freilegungen‘, die Schlaglichter setzen und unbekannte Perspektiven eröffnen. Hierher gehört etwa der Beitrag von Markus Nesselrodt, der sich im Rahmen der Evakuierung polnischer Juden in die Sowjetunion 1939-1946 mit dem Bedeutungsträger der „ghost language“ Jiddisch befasst. Tamar Lewinsky fasst in gewohnter Qualität zentrale Motive der jiddischen DP-Literatur ins Auge und verhandelt die Grenzen der literarischen Darstellbarkeit des Churbn, der ‚Zerstörung‘, wie der Holocaust auf Jiddisch heißt. Eine kenntnisreiche Darstellung der Repatriierung sowjetischer DPs, die im eigenen Land unter dem Generalverdacht der Nazi-Kollaboration standen, steuert Ulrike Goeken-Haidl bei. Jim Tobias berichtet aus der bislang weithin unbekannten Geschichte der friesischen DP-Camps Emden, Sengwarden und Jever. Herausragend der Beitrag von Jan-Hinnerk Antons, der Mechanismen ukrainischer Identitätskonstruktion innerhalb von DP-Camps präzise herauspräpariert.

Fazit: Mit halb so vielen, sorgsam ausgewählten Beiträgen hätte man den Band doppelt so gut gestalten können. In vorliegender Form besitzt das Jahrbuch als Überblickswerk, das einen Einstieg in die Lebensrealität der DPs bietet, zweifelsohne seinen Wert, wird insgesamt aber der Prätention, die das ITS als international renommiertes Institut an sich stellen sollte, nicht gerecht.

Abschließend noch ein Wort zu dem webbasierten DP-Camp-Verzeichnis des ITS für die westlichen Besatzungszonen, auf das auch im Prolog (S. 12) verwiesen wird. Dessen umfassender Anspruch wird bereits durch die Eigenaussage, „dass dieses Verzeichnis sicherlich Lücken oder Fehler aufweist“ (!)2 deutlich gemindert. Und dem ist auch so: Das Verzeichnis ist in aktueller Form eher ein Quell der Verwirrung denn Informationsträger – etwa fällt auf, dass häufig exakt dasselbe Eröffnungsdatum erscheint, dass ein Erdinger DP-Camp gleich drei Mal genannt ist, obwohl ein Camp in Erding gar nicht nachgewiesen ist, oder dass für München-Freimann mehrere Einträge für dieselbe Einrichtung existieren. Die Liste ließe sich verlängern.

Boehling, Rebecca; Urban, Susanne; Bienert, René (Hgg.): Freilegungen. Displaced Persons. Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang (= Jahrbuch des International Tracing Service, Bd. 3). Göttingen: Wallstein Verlag, 2014.

  1. Holger Köhn: Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands. Essen: Klartext Verlag, 2012. []
  2. http://dpcampinventory.its-arolsen.org/ []