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„Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen“

Manchmal ist es, obwohl es den Verdacht des Narzissmus nahelegt, doch notwendig, eine Rezension mit ganz persönlichen Empfindungen und Befindlichkeiten beginnen zu lassen: Bei Gedenktagen, die an den Mord der europäischen Juden erinnern sollen, beschleicht mich stets ein Gefühl größten Unbehagens, das allerdings zugleich von meinem schlechten Gewissen gemildert wird, jedoch nicht verdrängt werden kann…

Von Peter Waldmann

Das schlechte Gewissen entsteht, da ich als zuschauender Jude doch anerkennen muss, dass sich alle Beteiligten viel Mühe gegeben haben, diese Gedenktage im traurigen Monat November würdig abzuhalten. Die Repräsentanten des Staates bemühen sich, trotz übervollem Terminkalender, in ihren Reden noch irgendetwas zu sagen, was nicht nach einer Wiederholung aus dem Vorjahr klingt. Unterbrochen wird das Programm der gutgemeinten Reden von für diesen Anlass bestellten Musikern, die, auf ihre Gagen verzichtend, traurige Weisen, meist aus dem Soundtrack von Schindlers Liste, spielen. Zu guter Letzt taucht eine Gruppe von Schülern mit einem engagierten Lehrer auf, die ein pädagogisches Projekt vorstellen. Es geht dabei um ein persönliches, jüdisches Schicksal, das dem Vergessen entrissen werden und bei allen Beteiligten das Gefühl von Empathie auslösen soll. Bei mir stellt sich jedoch nur ein tiefes Unbehagen ein, das von der Hoffnung begleitet wird, dieses Spektakel möge bloß schnell enden. Von diesem Unbehagen zeugt auch der Begriff eines Gedächtnistheaters, den der Soziologe Bodemann zur Beschreibung solcher Veranstaltungen prägte.

Gedächtnistheater ist ein Begriff mit einer erheblichen Portion Zynismus. Denn eine Theateraufführung schließt stets auch den Akt der Inszenierung mit ein. Und die Katastrophe von Auschwitz eignet sich so gar nicht, um inszeniert und damit zu einem Zweck instrumentalisiert zu werden. Doch der Zynismus kann noch gesteigert werden, wenn man den Begriff Theater mit einem Spektakel assoziiert. Denn ein Spektakel hat immer auch den Anstrich des Unwahren und Unechten. Doch trotz dieser zynischen und beleidigenden Konnotationen beschreibt der Begriff eines Gedächtnistheaters genau meine Gefühle und mein Unbehagen während dieser Veranstaltungen. Diesem Gefühl gilt es nun nachzugehen, um würdigen zu können, welche Bedeutung dieses Buch der beiden Künstlerinnen und Herausgeberinnen Bolyos und Morawek für die Zukunft einer Gedenkkultur jenseits von plakativen Inszenierungen der Betroffenheit haben kann.

Das Gedächtnistheater zeigt sich in seiner Wirkung für Bodemann an Hand zweierlei Symptomen. Waren noch in den fünfziger Jahren die Gedenkstunden zur Reichspogromnacht geradezu intime Veranstaltungen, die meist außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung stattfanden, so werden heute schätzungsweise 10 000 Gedenkakte abgehalten, denen man schwerlich, auch medial, aus dem Weg gehen kann. Diese inflationäre Zunahme bemerkt auch Hans Steinitz, Herausgeber der Emigrantenzeitung Aufbau, wenn er feststellt „Wir nehmen von der Massenexplosion teilnahmsvollen Gedenkens der Kristallnacht mit bitterer und schmerzlicher Genugtuung Kenntnis.“ Neben der explosionsartigen Zunahme der öffentlichen Anteilnahme ändert sich auch die Rolle, die Politiker während dieser Gedenktage einnehmen. In den fünfziger Jahren waren zwar auch Repräsentanten des Staates anwesend, doch sie verhielten sich meist passiv, während die Opfer die Veranstaltungen organisierten und bestimmten. Heute dominieren die Politiker nicht nur mit ihren Reden die Gedenktage, sondern sie organisieren oftmals auch die Abfolge und den Charakter des Programms. Wie lassen sich nun diese signifikanten Veränderungen deuten? Eine positiv gefärbte Perspektive würde von einem Bewusstseinswandel bis in die Spitzen der Gesellschaft sprechen. Während in den fünfziger und sechziger Jahren Schuldabwehr und Verdrängung der eigenen aktiven Rolle beim Morden bestimmend waren, scheinen sich heute, zumindest in weiten Kreisen, die Deutschen ihrer Vergangenheit zu stellen. Die Aufarbeitung der Schrecken von Auschwitz ist, so könnte man sagen, Staatsdoktrin geworden. Doch neben der positiven gibt es auch eine negative Sicht auf dieses Geschehen. So spricht Alain Finkielkraut von einem neuen nationalen Stolz, der aus der Reue des Gedenkens erwächst. Was Finkielkraut mit der Aussage über den neuen Nationalstolz ausdrücken will, ist, dass die Erinnerung an die Shoah zur Legitimation des gesellschaftlichen Status quo genutzt wird. Das Gedenken an den Judenmord wirkt dabei als ein Ausweis, der belegt, wie tolerant und multikulturell die postmoderne Gesellschaft doch geworden ist. Unvermittelt entsteht durch dieses Gedächtnistheater ein neuer Antisemitismus, der sich in der Rolle des bußfertigen Richters ausdrückt. Das Gedenken an Auschwitz führt eben nicht mehr, wie Broder feststellt, zwangsläufig zu einer Solidarität mit den lebenden Juden.

Während also Auschwitz früher für einen für alle schmerzlichen Zivilisationsbruch stand, ist heute das Gedenken zu einer Inszenierung der Politik geworden. Wenn es jedoch eine neue Form der Erinnerungskultur jenseits der politischen Inszenierung geben soll, muss die Zivilisationskritik, für die Auschwitz wie kein anderes Ereignis steht, wieder in den Vordergrund gerückt werden. Aus diesem Grund machen sich die beiden Herausgeberinnen für den Begriff des Postnazismus zur Beschreibung des gesellschaftlichen Ist-Zustands stark. Sie gehen dabei von den Überlegungen Adornos aus, der vor einem Klima in der Bundesrepublik warnte, in dem sich das nationalsozialistische Erbe in den demokratischen Formen aufbewahrt hat. Diese, oftmals verborgenen Kontinuitäten müssen, so die beiden Herausgeberinnen, wieder sichtbar und fühlbar gemacht werden. Durch dieses Wissen, dass der Nazismus nicht einfach überwunden ist, kann die Gedenkkultur auch wieder aktualisiert werden. Aktualisierung ist eine Forderung, die Bolyos und Morawek in ihrem Vorwort immer wieder erheben, denn die langläufige Form der Erinnerungskultur, die ganz auf die Empathie mit Einzelschicksalen setzte, droht zukünftig, trotz ihrer gutgemeinten Intentionen, zu scheitern. Die Unmittelbarkeit der Gefühle des Mitleids und der Empathie werden zwangsläufig mit der immer größer werdenden historischen Distanz zu den Ereignissen abnehmen. Was nun übrig zu bleiben droht, ist ein sentimentales Spektakel aufgesetzter und damit unechter Trauer.

Es ist so nur konsequent, dass alle die in diesem Band gesammelten theoretischen Beiträge das Phänomen des Postnazismus beleuchten. So finden sich in diesem Buch ebenso Aufsätze, die von der Kontinuität des Nazismus in der Popkultur, wie in der Gestaltung von Kriegerdenkmälern, oder in Diskussionen um den Paragraphen 218 berichten. Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie davon künden, dass der Nazismus nicht einfach nach 1945, der vielgepriesenen „Stunde Null“, verschwunden ist und der Vergangenheit angehört, sondern unter der offiziellen Oberfläche weiterlebt. Auch die künstlerischen Arbeiten, die in diesem Band vorgestellt werden, thematisieren das untergründige Weiterleben des Nazismus. Ziel fast aller dort vorgestellten Künstler ist es, die blendenden Symbolzusammenhänge der zeitgenössischen Gesellschaft zu zerreißen, um den darunter versteckten Nazismus offenbar werden zu lassen. Beispielhaft für dieses ästhetische Verfahrens der symbolischen Destruktion kann eine Aktion während einer Retrospektive von Egon Schiele dienen. Auf den wohlgefugten Mauern des Museums, die für das ideologische Selbstverständnis der zeitgenössischen Gesellschaft stehen können, sind folgende Sätze mit roter Blutschrift aufgemalt: Raubkunst – Bewährt seit 70 Jahren.

Für alle Beiträge dieses Buches, die sich dem Thema des Postnazismus verschrieben haben, gilt der Satz von Walter Benjamin: Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dieser radikalen Zivilisationskritik muss sich jede Erinnerungskultur stellen, wenn sie nicht affirmativ und zu einer Inszenierung von Macht werden will. Und es ist das große Verdienst dieses Buches das Erinnern an Auschwitz dem Gedächtnistheater mit seinem Zynismus entrissen zu haben.

Lisa Bolyos und Katharina Morawek (Hg): Diktatorpuppe zerstört, Schaden gering. Kunst und Geschichtspolitik im Postnazismus, Mandelbaum Verlag 2012, 368 S., ca. 80 Abbildungen in Farbe, Euro 19,90, Bestellen?

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