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Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus

Obdachlose sind die vergessenen Opfer der Gesellschaft. Sie werden von Staat und Gesellschaft ausgegrenzt und auf der Straße angegriffen. Rechte TäterInnen praktizieren gegen obdachlose Menschen einen Sozialdarwinismus der Tat, der durch einen Sozialdarwinismus des Wortes vorbereitet wird…

Die MörderInnen eines Obdachlosen 2000 in Ahlbeck waren der Meinung, »Asoziale und Landstreicher hätten im schönen Ahbeck nichts zu suchen«. Die MörderInnen eines Obdachlosen in Greifswald gaben an, ihre Opfer angegriffen zu haben, weil »so einer […] dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche liegt«. Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen der Gewalt gegen Obdachlose bzw. sozial Marginalisierte und dem gesellschaftlichen Klima der (kapitalistischen) Verwertbarkeit der Menschen. Das brutale Ergebnis sind nach unterschiedlichen Statistiken weit über 100 ermordete Obdachlose seit 1990.

Lucius Teidelbaum stellt in seinem neuen transparent-Band diese Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen dar, analysiert und benennt die Ursachen.

Lucius Teidelbaum, Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus, unrast Verlag 2013, 80 S., Euro 7,80, Bestellen?

LESEPROBE:

Überschneidungen zu anderen Motiven

Bei der sozialdarwinistisch motivierten Diskriminierung von sozial Benachteiligten und Einkommensarmen (u.a. Obdachlose, Langzeitarbeitslose, Behinderte oder psychische Kranke) finden sich häufig Überschneidungen zu weiteren gruppenbezogenen, menschenfeindlichen Einstellungen. So lassen die Aussagen vieler Täter_innen und Zeug_innen ein Motivbündel erkennen. Wenn sich eine Diskriminierungsform mit anderen Diskriminierungsformen überschneidet spricht man von mehrdimensionaler Diskriminierung oder auch Intersektion.

Es gibt mitunter Überschneidungen von Sozialdarwinismus gegen Obdachlose und Rassismus, wenn die Täter_innen ihr Opfer als ›nicht deutsch‹ definieren. Hier sind die Betroffenen häufig Obdachlose aus dem Ausland und Obdachlose mit Migrationshintergrund. Dass Osteuropäer_innen und Südeuropaer_innen – hier vor allem Krisenopfer – oft als Musiker_innen oder Bettler_innen in der Bundesrepublik auftreten, fuhrt nicht selten zu kaum verhohlenen rassistischen Diskursen in der Öffentlichkeit. Die Rede ist dann von ›ausländischen Bettler-Banden‹. Daneben gibt es auch noch ein rassistisch grundierten Sozialdarwinismus gegen sogenannte ›Armutsflüchtlinge‹. Diese werden nicht nur diskriminiert und angefeindet, weil sie aus dem Ausland kommen, sondern auch, weil sie als arm gelten und den Einheimischen ›auf der Tasche liegen‹ würden.

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Weitere Überschneidungen gibt es zum Antiziganismus. Darunter versteht man eine Vorurteilsstruktur, Ideologie und rassistische Praxis, die sich gegen die Minderheit der Sinti und Roma richtet. Es gibt erkennbar inhaltliche Überschneidungen zwischen Obdachlosenfeindlichkeit und Antiziganismus, da beiden Gruppen dieselbe nomadische Lebensweise unterstellt wird, wie auch der quasi ›natürliche‹ Hang zum Betteln und Stehlen.‹

[…]

Es gibt auch fließende Übergänge zwischen Obdachlosenhass und Antisemitismus. Dass ist verwunderlich, angesichts der Tatsache, dass nach antisemitischem Stereotyp Juden ›reich‹ und ›mächtig‹, nicht jedoch arm und obdachlos sein sollen. Aufgrund der verhältnismäßig geringen Größe der jüdischen Minderheit in Deutschland und der intensiven Sozialarbeit der jüdischen Gemeinden dürfte es hierzulande tatsächlich keine oder nur sehr vereinzelt jüdische Obdachlose geben. Antisemitismus findet jedoch auch ohne Jüdinnen und Juden statt. Wenn die Täter_innen Antisemit_innen sind, dann imaginieren sie teilweise in ihren Opfern ›den Juden‹ und beschimpfen ihr Opfer z.B. als ›Jude‹ oder ›Scheißjude‹. Damit erhält die Tat eine antisemitische Komponente, auch wenn das Opfer gar nicht jüdischer Herkunft ist.

Am 5. Februar 1995 wurde der 65-jährige Obdachlose Horst Pulter im Herminghauspark, dem Stadtpark von Velbert (Nordrhein-Westfalen), von sieben rechten Jugendlichen ermordet. Weiter unten am Teich, so gaben die Täter an, wollten sie zunächst ausprobieren, wie oft man einem Schwan den Hals umdrehen könne, bis er abfallt. Unterwegs stießen sie auf ihr späteres Opfer. Horst Pulter schlief in einer Holzhütte. Sie beschimpften als ›Scheiß Jude‹ und ›Penner‹. Danach schlugen sie ihn, sie quälten ihn und traten ihn, bis er bewusstlos wurde. Anschließend entfernten sie sich wieder. Doch damit nicht genug. Der 22-jahrige Haupttäter kehrte zurück. Er rammte seinem bewusstlosen Opfer ein zuvor gestohlenes Steakmesser in den Körper.

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