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Dämonen des Blutes

Ein literarischer Aufschrei gegen den Krieg…

„Auf den Schlachtfeldern im Westen kriechen böse Tiere aus Eisen, Stahl, Messing und Kupfer. Schwarze Bären, schwarze Berge, Wolken mit schrecklichen Krallen, und Räder wälzen sich über die Erde hin, zermahlen Steine, Bäume und Menschen.“ Diese Zeilen stammen aus dem Roman „Dämonen des Blutes“ des jiddischen Schriftstellers Samuel Lewin, in dem er dem Leser seine Empörung über die Gräuel des Ersten Weltkrieges in glühenden Worten entgegenschleudert: „Die Hurraschreie werden immer wilder. Es ist Wahnsinn, jeder will sich mit seinem Brüllen betäuben, dass er seine und der anderen letzten Schreie beim Fallen nicht höre. Und jene zu Hause hören es, ja, sie hören, und von dort und von da, von allen Enden der Welt stürmen die Stimmen daher und mischen sich hinein. Und so fallen: auf den Schlachtfeldern – Totgestoßene, und zu Hause – in Ohnmacht die Witwen und Waisen.“ Der expressionistische Antikriegsroman erschien zuerst im jiddischen Original in der Zeitung „Fraje Arbeter Schtime“ und kam 1926 in deutscher Sprache heraus.

Samuel Lewin wurde 1890 in der längst vergangenen Welt der osteuropäischen Schtetl in der Nähe von Lublin geboren. Er wuchs in einem traditionell-religiösen Haus auf und lebte getreu nach den Vorschriften der Thora. Schon früh reifte in dem jungen Mann der Wunsch, Schriftsteller zu werden. Doch in der Enge des Schtetl, die geprägt war von unumstößlichen sozialen und religiösen Regeln, war dies nicht möglich. Samuel kehrte seinem Heimatdorf den Rücken und ließ sich nach einer mehrjährigen Wanderschaft in Warschau nieder. Hier begann er erste Schreibversuche. Da er wie viele seiner berühmten Kollegen, etwa Isaak Leib Perez oder Scholem Alejchem, ein breites Publikum erreichen wollte, schrieb er natürlich auf Jiddisch, der Sprache, die für eine eigenständige jüdische Kultur stand.

Seine schrecklichen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg versuchte er literarisch auch in Theaterstücken zu verarbeiten. Regelmäßig verfasste er zudem Artikel für jiddischsprachige Zeitungen, wie etwa das „Lublin Togblat“. Samuel Lewin schilderte „die Verheerungen des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive des von Pogromen bedrängten osteuropäischen jüdischen Proletariats“, wie der Historiker und ausgewiesene Kenner für jüdische Sozialgeschichte Siegbert Wolf schreibt. Aufgrund der unsicheren politischen Lage im damaligen Polen entschied sich Lewin, wie viele osteuropäische Juden, nach Berlin zu übersiedeln. In der deutschen Reichshauptstadt fand der jiddische Autor eine ideale und produktive Wirkungsstätte für sein literarisches Schaffen. Zudem engagierte er sich in der libertären Arbeiterbewegung und freundete sich mit Rudolf Rocker, Erich Mühsam sowie anderen Vertretern freiheitlicher und antimilitaristischer Kreise an. Die deutsche Ausgabe von „Dämonen des Blutes“ erschien daher auch im anarchistischen Verlag „Der Syndikalist“.

Mit einer ausdrucksvollen und an Metaphern reichen Sprache fesselt Lewin den Leser und zieht ihn mittels kunstvoller expressionistischer Stilmittel in seine alptraumhaften Visionen. „Sein Buch ist nicht das Werk eines Dichters, es ist das Werk einer erlebten Zeit“, meinte ein zeitgenössischer Rezensent, „voller Schwere und Schmerz sind die Explosionen seines Gefühls, in biblisch gefärbter Sprache“. Auch die drohende Katastrophe der Shoa schien Samuel Lewin zu erahnen: „Seit Langem schon ist die Erde voll Blut, ist alles Wasser rot, doch jetzt überschwemmt das Blut die ganze Welt.“ Nachdem die Nationalsozialisten im Mai 1933 seine Werke verbrannt hatten, verließ er Deutschland noch im selben Jahr. Über Zwischenstationen in verschiedenen europäischen Ländern erreichte Lewin Ende 1935 die USA. Dort pflegte er regen Kontakt zu jiddischsprachigen Arbeitervereinigungen und Künstlergruppen. Darunter auch zu seinem Freund und Förderer Rudolf Rocker, der – wie er selbst – regelmäßig in der „Fraje Arbeter Schtime“ publizierte.


Samuel Lewin referierte auch in der New Yorker deutsch-jüdischen Emigranten-Community. Dieser Veranstaltungstipp erschien am 1. November 1938 im AUFBAU. Repro: jgt-archiv

Samuel Lewin starb im Sommer 1959 in New York. Seine zahlreichen Werke wurden in vielen Sprachen übersetzt. Dennoch geriet seine Literatur in Vergessenheit. Zu Unrecht! Es ist zu hoffen, dass die Neuveröffentlichung von „Dämonen des Blutes“ angesichts der bevorstehenden Wiederkehr des 100. Jahrestages des Ersten Weltkrieges viele Leser findet und damit ein außergewöhnlicher Schriftsteller wieder entdeckt wird. – (jgt)

Samuel Lewin. Dämonen des Blutes. Eine Vision, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Siegbert Wolf, Verlag Edition AV, Lich 2013, 125 Seiten, 12 Euro, Bestellen?

Link-Tipp:
Lewins Roman „Zeitwende“ steht als kostenloser Download auf den Seiten der Universitätsbibliothek Frankfurt, Freimann Sammlung zur Verfügung:
http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/3636958