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Schattenbilder

Ein Familienroman…

Von Roland Kaufhold

Der 1945 geborene Schriftsteller und ehemalige Lehrer Sigfrid Gauch hat sich in seinen Romanen immer wieder mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands auseinander gesetzt – und wie sie bis heute fortwirkt. Seine 1979 erschienene Erzählung Vaterspuren steht hierfür. Die Vergangenheit bearbeitete er mit literarischen Mitteln, aber zugleich in bewusster Erinnerung und Auseinandersetzung mit seiner eigenen Familiengeschichte, sein Vater war ein „Nationalsozialist der ersten Stunde“. Sigfrid Gauch thematisierte in Vaterspuren seine lebenslang wirksame tiefe innere Ambivalenz, seine eigenen Schuldgefühle über seine Familiengeschichte. Wohl nur in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familienbiografie erhält der abgegriffene Begriff der „Aufarbeitung“ einen gewissen Sinn. Ändern können wir an der grausamen, zynischen Geschichte nichts. Die Ermordeten werden hierdurch nicht lebendig. Die Verleugnungen, Selbstidealisierungen jedoch brechen auf. Zumindest ein wenig. Vielleicht vermögen wir über Literatur, über autobiografische Auseinandersetzungen die mörderischen seelischen Fortwirkungen des traumatischen Erbes etwas abzumildern. Vaterspuren, dies bleibt noch nachzutragen, erschien 2001 in hebräischer Übersetzung in Israel und 2002 in den USA in englisch. Das Werk ist immer noch erhältlich.

Auch politisch, dies möchte ich hinzufügen, hat sich Sigfrid Gauch (den der stets bestens informierte SPIEGEL einmal zu einer Frau mutieren ließ1 ) gegen offenkundiges Unrecht, für verfolgte Schriftsteller eingesetzt: Von 2007-2009 war das langjährige Vorstandsmitglied des P.E.N. Zentrums Deutschland dessen Writers in Exile –Beauftragter.

Der 2012 erschienene Roman Schattenbilder erzählt über die dunklen Seiten einer Familie, in der zwei Generationen von Frauen in der ihnen eigenen Weise um ihre Selbstbehauptung kämpfen, inmitten einer patriarchalischen Gesellschaft. Und doch erscheint ihr Leben als ungelebt, als unverstanden. Zentrale Figuren dieses in der Westpfalz angesiedelten Familiengeflechts sind Isolde Freywald und ihr Sohn Fabian, der Protagonist der Geschichte. Isolde wird gegen Ende des 2. Weltkrieges mit dem 27 Jahre älteren Dorfarzt Georg verheiratet. Gefragt wird sie nicht groß. Möglichkeiten scheint sie auch nicht viele zu haben. Neun Jahre nach Fabians Geburt trennt sie sich von ihm, was zu ihrer Zeit höchst außergewöhnlich war, beginnt ein eigenes Leben, auch auf Kosten ihres Sohnes. Wir begegnen auch der eigensinnig-kämpferische Großmutter Magda Schöneck, die sich im Leben zu behaupten vermag – mit und gegen ihren 17 Jahre älteren Ehemann Otto.

Sigfrid Gauch stellt seiner Erzählung ein Motto Leo Tolstois aus dessen Anna Karenina voraus: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich“.

Es hätte, dies schimmert bei der Lektüre immer wieder durch, auch Gauchs eigene Familiengeschichte sein können. Er erzählt von Gewalt, Einsamkeit, Härte – wir begegnen vereinzelt aber auch der existentiellen Möglichkeit des Glückes, der Liebe, insbesondere in der Ehe von Fabian und Isolde. Eine frühe Szene des Romans:

„Vor kurzem erst waren sie mit ihrer Großtante zum Kaffeeklatsch bei seiner Großmutter zu Besuch gewesen, wurden mit ihm zum Spielen ins Freie geschickt. An den folgenden Tagen kamen sie wieder, standen vor der Tür, warteten auf ihn: `Hast du Lust, mit uns zu spielen?´ Von diesen ersten Tagen blieb kein Bild in ihm zurück, keine Spur der Erinnerung. Nur diese eine Situation sah er auch nach Jahrzehnten noch vor sich, wie sie alle drei an dem Feldweg standen, der neben dem Großmutterhaus begann und in die Weinberge führte; wie die Haare der Mädchen in der Sonne leuchteten. (…) Sie mag mich, dachte er, sie mochte mich die ganze Zeit, und ich habe es nicht bemerkt. Im Bauch spürte er das Glück und zugleich die Angst, dass er das Glück bereits wieder verlor.

Sie verabschiedeten sich rasch, etwas hastig vielleicht, drehten noch einmal die Köpfe, riefen ihm nach: `Aber vergiss es nicht!´, verschwanden um die Hausecke.“ (S. 10f.)

Das Familienepos ist durchdrungen von Kälte, von nicht-Verstehen. Die Familie trennt sich, Isolde verlässt ihren ihr fremden Ehemann, man geht sich aus dem Weg. In der Erzählung klingt dies lakonisch so: „Isolde und ihre Entscheidungen. Von heute auf morgen hatte sie seinen Vater verlassen. Da war Fabian neun Jahre alt.“ (S. 57) Sie reißt ihn aus seinem Klickerspiel, in der Nachkriegszeit, zerrt ihn in das Auto, hinweg. Nur weg: „Die Wagentür wurde geschlossen, ein fremder Mann saß am Steuer. Magda neben ihm, Isolde mit den Kindern im Fond der Limousine.“ (S. 57) Wenn man sich trennt scheint man die Schmerzen, die wechselseitigen Entwertungen nicht mehr zu spüren. Der Protagonist Fabian, gleich alt wie Sigfrid Gauch selbst, begegnet 20 Seiten nach dieser frühen Szene seiner todkranken Mutter Isolde. Er vermag diese kaum noch wiederzuerkennen:

„Isoldes Bett stand allein in einem Dreibettzimmer. Fabian betrat den Raum, in einem Halbkreis erreichte er die andere Längsseite des Gitterbettes, da saß sie, dicke nackte Beine, dicke Füße, erinnerten ihn wenigstens ihre Zehen an die junge Mutter von früher? Das Hemd bis zum Schoß hochgerutscht. Isolde sah Fabian stumm mit großen Augen an. Erkannte sie ihn? Immerhin hatten sich beide seit langem nicht mehr gesehen.

`Das ist also meine Mutter´, dachte Fabian. Ein schwerer Körper. Glatte Haut, ein rundes Gesicht, das früher so schmal war. Selbst Nase und Mund stimmten nicht mit den Bildern überein, die er von ihr im Gedächtnis abgespeichert hatte. In den letzten Jahren hatte sich Isolde sehr verändert. (…)

Isolde war dreiundachtzig, achtzehn Jahre älter als Fabian.

`Hi´ sagte er, `ich heiße Fabian Freywald und bin dein Sohn.´

Regungslos fixierte sie ihn weiter mit ihren etwas eingetrübten blauen Augen. Erschrak auch sie?“ (S. 30).

283 nie langweilige, geruhsam erzählte Seiten umfasst das Familienepos. Auch vom Krieg wird erzählt, vom Nationalsozialismus, von der Verfolgung, die Fabian selbst nie erlebt hat. Von deutschen Übergriffen gegen amerikanische Soldaten kurz vor der „Befreiung“, als doch schon „alles vorbei war“:

„Er war blass, als er das erzählte. Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war nur eine von vielen Geschichten, die Fabian zu hören bekam. Unveröffentlichte, sehr private Geschichten. Auch aus seiner unmittelbaren heimatlichen Umgebung.“ (S. 153) Die Dorfbewohner ermorden zwei amerikanische Flieger, die mit einem Fallschirm notgelandet waren. Am Stammtisch erzählte man noch Jahrzehnte später davon, offenkundig frei von Schuldgefühlen. „Du warst doch auch dabei“, lautet die Selbstvergewisserung. Im Kollektiv lässt sich die eigene Selbstverleugnung, die Geschichtsfälschung sehr viel besser ertragen: „Mit Mistgabeln und Knüppeln rannten die Dorfbewohner auf die beiden Amerikaner zu, die ihnen mit hocherhobenen Händen entgegenkamen. Sie schlugen und stachen auf sie ein, schlugen sie tot. Noch in die Toten wurden die Mistgabeln gestochen. So rollte man sie auf einem Karren im Triumphzug ins Dorf und verscharrte sie anschließend in alten Kartoffelsäcken vor der Kirchhofmauer.“ (S. 153) Geschichten aus dem Lande der Walsers und Grass´, der ewigen, selbstgerechten Opfer und großen deutschen Schriftsteller.

Am Ende des Buches erleben wir den Tod der Mutter. Ein trauriger Tod, in dem sich doch der Versuch einer Wiederannäherung andeutet. Die Sprachlosigkeit scheint etwas aufgeweicht. Am Ende. Fabian hat wieder Kontakt mit seiner Mutter aufgenommen, seine Schwester Gitta ist an ihrem Sterbebett:
„Allmählich verdämmerte Isolde. Es dauerte nicht mehr lange, bis eines Nachts um vier Uhr das Smartphone eine Nachricht Gittas ankündigte:

„Mutti hat es überstanden.“ (S. 283)

Eine vielschichtiges, zum Innehalten und Nachdenken anregendes Werk über eine gefühlskalte, tragisch-einsame Familie. Und doch kommt gelegentlich die Liebe, die Sexualität zur Sprache. Inmitten der historischen und konkreten Schatten.

Sigfrid Gauch: Schattenbilder. Roman. Frankfurt/M. 2012, Brandes & Apsel, 284 S., Broschur,  21,90 €, Bestellen?

  1. „Das Internet gelte mittlerweile schon als „urheberrechtsfreier Raum“, kritisierte die Vizepräsidentin des deutschen P.E.N.-Zentrums, Sigrid Gauch.“ , vermeldete der Spiegel im Mai 2007 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/urheberrecht-autoren-und-verleger-warnen-bundesregierung-a-482829.html []