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Deportiert von Köln – Vom Rhein nach Riga

„Beim Schreiben dieser Zeilen habe ich bereits die Schwelle der achtziger Jahre überschritten (…) Es sind diese meine Erinnerungen, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen – nicht in den Nächten mit ihrem Verfolgungswahn und nicht in den ruhigsten Momenten des Alltags“ (S. 14). Lilly Menczel, 1925 in Köln geboren, ging 1948 nach Israel, wo sie auch heute noch lebt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die 23-jährige ihre Heimat verloren, ein Konzentrationslager überlebt, einen Großteil ihrer Familie verloren. Und doch blieb ihr der Lebensmut, die Hoffnung auf ein neu-Beginnen in einem demokratischen Staat…

Rezension von Roland Kaufhold

Nun, mit 87 Jahren, hat Lilly Menczel erstmals die Kraft gefunden, ihre Lebenserinnerungen an die „Zeit des Grauens – die begann, als ich elf Jahre alt war“ (S. 14) – aufzuschreiben, auf Deutsch. Es ist ein schmales, berührendes, liebevoll bebildertes Werk geworden. Gewidmet hat sie es ihrer ermordeten Familie, „Mama, Papa, mein Bruder und meine Schwester – für ewig bin ich mit Euch verbunden. Dies soll ein ewiges Licht für die Erinnerung an Euch sein.“ (S. 15)

Lilly Menczel, am 8. Juli 1925 in Köln als jüdisches Kind geboren, lebte in der Köln-Riehler Goldfußstraße 2, später in der Formesstraße 56 in Köln-Mülheim. Lilly erinnert sich buchstückhaft an „eine glückliche Familie in Köln“ (S. 16). Ihre Eltern stammten aus Polen, ihr Vater war gelernter Kaufmann. Bis zum November 1938 besuchte sie die jüdische Volksschule in der Lützowstraße – an die heute nur noch eine kleine Gedenkplakette erinnert. Wir sehen Familienphotos, erfahren einige Episoden aus ihrer Zeit in Köln.

Ihr Vater Berthold Simons liebte eine nicht-jüdische Frau; die Liebe siegte über alle familiären Widerstände gegen diese Ehe. Kurz vor der Heirat trat seine Geliebte zum Judentum über. An ihre Lehrer, an ihre Mitschüler vermag sich Lilly kaum noch zu erinnern, zu viel Schrecken stehen dazwischen: „Dichter Nebel verdeckt diese Zeit, die immer noch ruhig war.“ (S. 18) Die Autorin erzählt vom in der Berrenrather Straße gelegenen „Milch-Eier-Käse-Geschäft“ (S. 21) ihrer Tante, wo sie viele glückliche Tage verbrachte. „Mein Vater spielte gerne mit uns. Manchmal saß er auf der Erde, um mit den Kleinen Murmeln zu spielen. Meine Mutter brachte uns von klein auf bei, alle Hausarbeiten zu erledigen. Welch(es) liebevolles und fröhliches Heim hatten wir!“ (S. 21) Wir sehen ein großformatiges Portrait der wohl fünfjährigen Lilly, wie sie, in Sommerkleid, ihre Puppe im Arm hält.

1939 muss die 14-jährige gemeinsam mit ihrer Familie zwangsweise ihre Wohnung aufgeben, ihnen wird eine kleine Wohnung zugewiesen. Im Dezember 1941 folgt die Deportation Kölner Juden nach Riga. Von den 1011 Personen, die namentlich bekannt sind, überleben nur 87. Lilly gehört zu den wenigen Glücklichen. Zwei Jahre lang, bis Ende 1943, überlebt Lilly Menczel das Ghetto Riga, anfangs noch gemeinsam mit ihrer Familie. Die Autorin schildert das Leben im Ghetto in persönlichen Worten. Es werden von den verschleppten Juden ein Kindergarten und eine jüdische Schule aufgebaut, einer der Lehrer ist Max Hirschfeld, der bereits in der jüdischen Volksschule Lützowstraße als Lehrer gearbeitet hatte.1 Die Gefangenen errichten auch Betsäle, die sie als eine Synagoge betrachteten. Geistliches Oberhaupt war der Rabbiner Ungar; dieser hatte ebenfalls schon in Köln in der jüdischen Gemeinde Adass Jeschurun als Lehrer gearbeitet. Menczel fügt hinzu: „Es war Rabbiner Ungar sogar gelungen, eine Thorarolle aus Köln zu retten, die beim Gottesdienst benutzt wurde.“ (S. 29f.)

Lilly Menczel fand immer wieder Freunde im Lager, u.a. die nahezu gleichaltrige Fanny Englard, mit der sie bis heute befreundet ist. Fanny Englard emigrierte nach der Befreiung ebenfalls nach Israel; vor drei Jahren erschien ihr autobiographischer Überlebensbericht „Vom Waisenhaus zum Jungfernhof. Deportiert von Hamburg nach Riga“ (VSA Verlag, Hamburg 2009). In Menczels Buch findet sich ein gemeinsames Photo, während einer Gedenkfeier am 9.11.2010 im Jerusalemer Goethe-Institut in Jerusalem aufgenommen.

Lilly Menczel ist die allgegenwärtige Angst aus den Jahren der Verfolgung nie losgeworden. Sie bemerkt: „Unser Leben war ständig bedroht – jeden Tag wurden Menschen erschossen, erhängt oder nach einer Selektion in den Wäldern ermordet. Unsere Lebensbedingungen im Ghetto wurden nicht öffentlich bekannt gemacht, doch auch keineswegs geheim gehalten. (…) (Unsere Wächter) schienen zu denken, dass wir es eigentlich verdient und außerdem selbst das Unglück über uns gebracht hatten. Bis heute bleibt mir das alles unbegreiflich.“ (S. 35f.)

Im November 1943 wird das Ghetto Riga von den Nazis geräumt, Lilly wird von ihrer Familie getrennt. Ihre Eltern und der Großteil ihrer Geschwister werden verschleppt, ihre Mutter und die vier jüngeren Geschwister ermordet, vermutlich in Auschwitz-Birkenau. Lilly wird in das nördlich von Riga gelegene KZ Kaiserwald verbracht. Sie überlebt, mit Glück. Im Januar 1945 wird sie von der Roten Armee aus dieser „wohlbekannte(n) Hölle“ (S. 46) befreit. Sie sieht alte Frauen, die mit glasigem Blick auf den Tod warten. „Schnell rannte ich weg von dort, auch dieser Anblick wird mich wohl bis zu meinem Lebensende nicht verlassen.“ (S. 47)

Nach der Befreiung kehrt sie, mit Unterstützung einer jüdischen Flüchtlingsorganisation, für eine kurze Zeit nach Berlin zurück. Dann ein Besuch in Köln: „Nach der Flucht in den Westen fuhr ich mit Margrit nach Köln, um zu sehen, wer von meiner Familie noch lebte und was mit unserem Haus passiert war. Dort fand ich ein völlig zerstörtes Gebäude wieder.“ (70) Die Wiederbegegnung mit vereinzelten, früheren nichtjüdischen Freunden verläuft wenig glücklich. Sie spürt den Abstand, die Weigerung, die erlittene Realität auch nur anzuerkennen.

1948 beginnt ihr neues, glückliches Leben – in Israel. 1950 dann die Heirat mit Jacob Menczel, einem später renommierten Hochschullehrer für Medizin . Lilly Menczel arbeitet bis zu ihrem Ruhestand beim israelischen Sicherheitsdienst. In ihrer Einführung bemerkt sie: „Ich wanderte im Jahr 1948 nach Israel ein und habe meine Pflicht dem Staat gegenüber sowohl als Soldatin als auch später im Zivilleben geleistet. Nun schaue ich mit Erfüllung zurück auf die Vergangenheit. Zurück, das soll heißen, bis zu dem Augenblick, als ich nach Israel kam und von Neuem zu leben begann.“ (S. 14)

Im hohen Alter wurden ihr verschiedene Ehrungen zuteil.2 Mit 87 Jahren hat Lilly Menczel nun ihre Erinnerungen auf Deutsch vorgelegt.

Fotos: © VSA Verlag

Lilly Menczel: Vom Rhein nach Riga. Deportiert von Köln: Bericht einer Überlebenden des Holocaust. (Hg.: Gine Elsner), VSA (Hamburg) 2012, 96 S., Euro 12,80, Bestellen?

  1. Siehe hierzu vertiefend: Hans-Dieter Arntz (1982): Religiöses Leben der Kölner Juden im Ghetto von Riga, Internet: http://www.hans-dieter-arntz.de/religioesesleben.html; Siehe auch: Paul Kohl (2007): „Wenn Kinder gehn, und eine Welt erlischt…“ Die Deportation Kölner Kinder nach Minsk, Deutschlandfunk, 12.6.2007. Internet: http://www.dradio.de/download/68460/ []
  2. http://www.herzog-hospital.de/Veranstaltungen/Menczel.html []