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Aufbruch in ein neues Leben

Der Exodus der jüdischen Displaced Persons aus Europa…

Als die Alliierten das nationalsozialistische Regime im Mai 1945 endgültig niedergerungen und die Konzentrationslager geöffnet hatten, konnten sie nur einige zehntausend jüdische Häftlinge befreien. Doch gegen Ende 1946 hielten sich in Deutschland und Österreich über 200.000 Juden auf. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Menschen, die vor den Nazis nach Russland geflüchtet waren, in verschiedenen osteuropäischen Staaten als Partisanen gegen das NS-Regime gekämpft oder anderweitig im Untergrund überlebt hatten. Für diesen Personenkreis richteten insbesondere die US-amerikanischen Besatzungsbehörden spezielle Displaced Persons (DP) Camps ein.

Die Mehrheit der in diesen Auffanglagern lebenden osteuropäischen Juden waren vor dem ungebrochenen Antisemitismus in ihren Heimatländern in Richtung Westen geflohen. Nach einer regierungsamtlichen Aufstellung wurden zwischen November 1944 und Oktober 1945 allein in Polen über 350 Juden ermordet. Dem berüchtigten Pogrom in Kielce fielen im Sommer 1946 weitere 42 jüdische Menschen zum Opfer. Gewalttätige Übergriffe gegen Shoa-Überlebende ereigneten sich aber nicht nur in Polen, sondern beispielsweise auch in der Ukraine oder in Ungarn. In den deutschen und österreichischen „Wartesälen“ waren die Juden nunmehr vor Verfolgung sicher, gleichwohl sollte ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein. Endgültiges Ziel dieses einzigartigen Exodus’ war der noch zu gründende jüdische Staat in Palästina oder ein Neubeginn in Übersee. Der Weg dort hin dauerte indes für viele Displaced Persons jahrelang, von einem Ort zum anderen, auf verschlungenen und illegalen Pfaden. Gelenkt wurden die Überlebenden der Shoa von der Untergrundorganisation „Bricha“ (dt. Flucht), die zehntausende zukünftige Bürger Israels entgegen dem Willen der britischen Mandatsmacht nach Palästina leitete. Österreich war auf Grund seiner geografischen Lage ein zentrales Transitland, zudem führten die Wege über Italien und weiter nach Palästina über die dortigen DP-Lager.


Jüdische DPs bei der Überquerung der Alpen

Jahrzehnte lang war die Geschichte der jüdischen Flucht durch Österreich und insbesondere die Existenz des DP-Camps Saalfelden erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt worden. Erst eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien über das Schicksal der Shoa-Überlebenden führte dazu, dass ab 2005 lokale Historiker ihren Blick auf das Displaced Persons Camp „Givat Avoda“ (dt. Hügel der Arbeit) in Saalfelden richteten, in dem zwischen 1946 und 1948 zahlreiche jüdische Flüchtlinge gestrandet waren und auf ihre Weiterreise warteten. Im April 2009 trafen sich Geschichtswissenschaftler aus Polen, Deutschland, Ungarn, Österreich, Israel und den USA auf einer vielbeachteten Konferenz in Saalfelden und beleuchteten ausgiebig dieses immer noch wenig bekannte Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Unter dem Titel „Tamid Kadima – Immer Vorwärts“ ist soeben ein zweisprachiger Tagungsband (deutsch/englisch) erschienen, der in zwölf Einzelbeiträgen eindrucksvoll und sachkundig die Fluchtwege der Shoa-Überlebenden aus Osteuropa bis zu den italienischen Häfen, die Rolle der Fluchthilfeorganisation „Bricha“ sowie die Lebensbedingungen der jüdischen Flüchtlinge in Europa und nach ihrer Ankunft in den ersehnten neuen Heimatländern beschreibt. – jgt


Mitglieder der Bricha in Saalfelden

Sabine Aschauer-Smolik/Mario Steidl (Hg.) Tamid Kadima – Immer Vorwärts. Der jüdische Exodus aus Europa 1945-1948, Innsbruck 2010, deutsch/englisch, Euro 34,90, Bestellen?