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Endstation: Wie kommt Brodsky nach Deutschland?

Im Oktober 2003 gab Edgar Hilsenrath für einen Dokumentarfilm über viele Stunden Auskunft zu seinem Leben und seinem Werk. Natürlich sprach er auch über den Roman Fuck Amerika – Bronskys Geständnis und dessen Helden Jakob Bronsky, der in Slapstickmanier durch New York und seine Emigrantenszene stolpert, sich mühsam, aber durchaus effektiv eine materielle Existenz an der Minimumgrenze sichert und nur zwei Dinge im Kopf hat: seinen Ghetto-Roman zu schreiben und auf die Weiber zu kommen…

Aus dem Nachwort zu „Berlin… Endstation“
von Edgar Hilsenrath

Viele Leser haben diesen Roman als autobiografisch gelesen. Im Interview widersprach Edgar Hilsenrath dieser Einschätzung vehement. Er habe keine Autobiografie über seine New Yorker Jahre geschrieben, sondern einen Roman. Natürlich folge der Text seinen Lebenslinien, aber zwischen seiner bürgerlichen Existenz und dem Leben des Aussenseiters Jakob Bronsky lägen Welten. Er verhehle keinesfalls seine Sympathie für diesen, aber es läge ihm völlig fern, sich als kleinkriminelles Schlitzohr zu porträtieren. Der interviewte Autor und sein Interviewer einigten sich. Edgar Hilsenrath sei nach Berlin in seine Muttersprache zurückgekehrt, und der Romanheld Bronsky sei im englischsprachigen New York zurückgeblieben.

Nun gibt es ein Phänomen, welches Schriftstellern durchaus nicht unbekannt ist. Erfundene Figuren lassen sich nicht so ohne weiteres in die Versenkung schicken. Ob nun acht Personen einen Autor suchen oder Tullipan auf seiner Existenz beharrt, ob papierene Helden zur Fortsetzung drängen oder ganz einfach der Markt danach verlangt: Nicht immer bleibt der Autor Herr und Herrscher über seine Phantasie.

Als Edgar Hilsenrath New York verliess, blieb Jakob Bronsky zurück. Aber schon bald hatte Bronsky keine Lust, alleine in New York zu sein und als sich endlich eine Gelegenheit bot, machte er sich ein Dutzend Jahre später auf, seinem Autor zu folgen und in dessen neuen Roman zu schlüpfen. Natürlich konnte er sich nicht mehr Bronsky nennen, dann hätte ja Edgar Hilsenrath sofort Bescheid gewusst. Er nannte sich Joseph Leschinsky, den alle nur Lesche riefen. Hätte er gewusst, dass Hilsenrath schon eine Figur für Deutschland, nämlich den Zibulsky, erfunden hatte, dann hätte er sich zweifelsohne auch so genannt.

Natürlich schreibt auch Lesche deutsch, hat immer nur deutsch geschrieben, muss er doch wie auch der Autor Edgar Hilsenrath an der deutschen Sprache, dem einzigen Stück Heimat, das sie ihm nicht wegnehmen konnten, die deutschen Nazis und die rumänischen Faschisten, festhalten, sie als sein einzig erreichbares Paradies verteidigen.

In Lesches Leben scheint manches auf, was den Lesern Hilsenrathscher Bücher bekannt vorkommt. Da gab es doch zum Beispiel die Hexe Veronja oder die Frau in einem Dorf nahe bei Prokow, deren Mann in der sowjetischen Armee diente und möglicherweise schon tot war; beide tun den "Helden" der Romane sexuelle Gewalt an, verstricken sie in eine Mischung aus Lust und Qual, so wie es auch Lesche im galizischen Dorf geschieht. Und wie schon Erzähler früherer Bücher Hilsenraths erzählt auch Joseph Leschinsky Ereignisse aus seinem Leben immer wieder anders, variiert, moduliert, erinnert.

Sich seines Lebens zu erinnern, heisst, es immer wieder zu verändern. Seine Leser kennen dies aus ihrem eigenen Erleben; es kann sie nicht irritieren. Die Leser wissen auch, dass der Erzähler den Zuhörer braucht – ohne Zuhören kein Erzählen: So erzählte Max Schulz der Frau Holle, erzählte Lesche, als er noch Bronsky hiess, der Psychologin Mary Stone und der Märchenerzähler Meddah dem Thomav Khatisian und nun erzählt Lesche seiner schönen Armenierin. Moralische Verhaltensweisen zeichnen Lesche nicht aus. Sie wurden ihm ausgetrieben im verzweifelten Uberlebenskampf, den wir heute Schoah nennen. Wieso sollte er davon ausgehen, dass der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist? Und doch ist er unfähig zur Rache, die nichts ungeschehen macht, nicht befrieden kann, da auch sie ein sinnloses Geschehen nicht mit Sinn erfüllt.

Es hat gedauert, aber schliesslich hat der Hilsenrath doch gemerkt, wer der Lesche wirklich ist, hat ihn mit einem Rechercheauftrag in die USA geschickt, wiederkommen lassen und ihn als seinen Stellvertreter all die Dinge tun lassen, die er sich nicht getraute. Zum Beispiel eine Sechzehnjährige entjungfern, sie schwängern und sich damit fortpflanzen, mit ihrer Mutter und ihr parallel vögeln, sich einmal wirklich ohne Netz und doppelten Boden verlieben, den Fritz Tischler ermorden oder besser doch nicht – erinnerte sich Bronsky / Lesche an den amerikanischen Generalkonsul aus Berlin, der als invalider alter Mann in New York auch einem angekündigten Rachemord entging? -, und endlich muss Lesche an Hilsenraths Stelle sterben.

Edgar Hilsenrath, der in Deutschland nie von Nazis bedroht wurde – vergessen wir in diesem Zusammenhang die beiden im Frühjahr 1978 durch Neonazis gestörten Lesungen, da dort die Aggression weniger dem Juden als dem Roman Der Nazi & der Friseur galt -, keine anonymen Briefe erhielt, keinen tätlichen Angriffen ausgesetzt war, niemals am Telefon belästigt wurde, der sich in Deutschland unbedroht und wohl fühlte, lässt Lesche bedrohen, schmähen, brandschatzen und schliesslich den Schädel einschlagen. Lesche stirbt symbolträchtig, als es Zeit ist, die Sabbatkerzen anzuzünden.

Tilgt er damit die Schuld seines überlebenden Autors oder will dieser nur den Prophezeiungen der alt gewordenen Emigranten in New York gerecht werden, die ein solches Ende für einen Juden in Deutschland als nicht verwunderlich betrachten? Darf es für Lesche, der bindungslos und bindungsunfähig durch sein Leben schlingerte, kein Happy-End mit der schönen Armenierin geben? Wäre es denn ein Happy-End geworden?

Wir können darüber nur spekulieren; manche Antwort ist möglich. Eines aber ist sicher: Hilsenrath wird damit auch endgültig den Bronsky los. So wie früher schon den Ranek, den Schulz / Finkelstein und den Thomav, die er alle in seinen Büchern zu Tode brachte. Und dass Lesche sterben muss, bevor Hilsenraths Armenienepos Das Märchen vom letzten Gedanken erscheint, ist klar. Denn den Ruhm für diesen Roman und den für Jossei Wassermanns Heimkehr, den wollte Edgar Hilsenrath alleine und keinesfalls mit Bronsky, Lesche oder einer seiner anderen Figuren teilen.

Warum sonst koppelt er die Romanfigur Lesche, bei aller Nähe in Berlin, so deutlich von seinem Lebensweg, von seinen Erfolgen, den hohen Verkaufszahlen seiner Bücher, den Lobeshymnen der Kritiker, den zahlreichen Literaturpreisen, von seinen vielen Lesern, die seine Bücher schätzen und lieben, ab? Ist ihm unwohl bei dem Gedanken, dass er, der verfolgte Jude, diese Triumphe in Deutschland erzielt? Passen seine dadurch gewonnenen Möglichkeiten nicht zu seinen Lebensentwürfen? Ist ihm materielle Versorgtheit, nachdem er etliche Lebensjahrzehnte ohne diese leben musste, unwichtig geworden? Misstraut er dem Wandel in Deutschland letztendlich doch so, dass er hier keine Sicherheit für Juden erwartet? Oder will er ganz einfach den "Hinguckern" und "Hineinlesern" ein Schnippchen schlagen und sich eben nicht in seinen Büchern finden lassen? Wer soll das wissen!

"Ein starkes Stück deutscher Gegenwartsliteratur."
Berliner Zeitung

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