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Das Haus: Symbol für Leben und Tod; Freiheit und Abhängigkeit

Die jüdischen Emigranten, die vor 60 bis 70 Jahren von den Nationalsozialisten aus ihrer Heimat vertrieben wurden, mussten im Exil eine aussergewöhnliche seelische Integrationsleistung vollbringen: Sie mussten sich von ihrer alten Heimat lösen, ohne hierbei ihre eigenen Wurzeln, ihre seelische Heimat, ihr Zuhause zu verleugnen, abzuspalten…

Von Roland Kaufhold

Sie verliessen ihr Zuhause und mussten sich ein neues Zuhause, eine neue Heimat aufbauen — in Israel oder auch in den USA. Häufig ähnelte ihr neues Zuhause, aus bewussten oder auch unbewussten Gründen, dem Elternhaus ihrer Kindheit.

Der Düsseldorfer Psychoanalytiker Mathias Hirsch hat kürzlich eine gut geschriebene, anregende und humorvolle Abhandlung vorgelegt, durch die diese aussergewöhnliche seelische Integrationsleistung — bzw. auch deren Scheitern — besser verstanden werden kann.

Hirsch legt mit „Das Haus. Symbol für Leben und Tod; Freiheit und Abhängigkeit“ eine erzählende wissenschaftliche Studie über die psychoanalytischen Dimensionen des Hauses vor. Seine Studie ist zugleich interdisziplinär: Er verweist mittels zahlreicher Zitate auf Erkenntnisse aus den Bereichen der Psychoanalyse, Literatur, Kulturgeschichte, Anthropologie sowie des Kinofilms.

Hirsch stellt seinem Buch eine Sammlung von 84 Begriffen voran, in welchen der Begriff des Hauses enthalten ist: Wohnhaus, Traumhaus, Baumhaus, Glashaus, Kaffeehaus, Frauenhaus und Zuchthaus seien exemplarisch genannt.

„Wenn das Haus fertig ist, kommt der Tod.“ Dieses türkische Sprichwort lässt die existentiellen Dimensionen des Begriffs des Hauses anklingen: Es symbolisiere Begriffe wie Leben und Tod, Freiheit und Abhängigkeit.

Die vielfältigen symbolischen Dimensionen des Hauses betrachtet der Autor in geruhsamer, erzählender Weise. Hierbei bezieht er sich auf eigene klinische Erfahrungen, auf Filme, auf literarische Erzählungen wie auch auf Kunstobjekte.

Das Haus symbolisiere Übergänge zu verschiedenen Identitätszuständen, das altersbedingte Verlassen des Elternhauses löse häufig tiefe Trennungsängste aus. Diese seien eigentlich die Ängste vor einem neuen Lebensabschnitt, die auf das Haus verschoben werden. Der Kauf eines Hauses mag eine Ablösung von den Eltern darstellen, hin zur eigenen Elternschaft, aber auch heftigste Ängste und Trennungsschmerzen hervorrufen.

In dem Kapitel „Das Elternhaus“ schreibt Hirsch über die körperlichen Spuren, die das eigene Elternhaus in einem Menschen hinterlassen. Die Konturen des Elternhauses sind noch Jahrzehnte später spürbar, brechen in bestimmten Situationen wieder auf. Solange man „mit der Herkunftsfamilie noch nicht im Reinen“ sei unterliege sie einem Wiederholungszwang. Das lebenslange Bemühen, das eigene Elternhaus oder aber das Grosselternhaus nicht aufzugeben, trotz einer veränderten Lebenssituation, deute auf die weiterhin bestehende innere Abhängigkeit von der Familiendynamik hin.

Sowohl im Traum als auch im Märchen begegnen wir häufig dem Traumhaus: Wer ersehnt sich nicht gelegentlich ein Traumhaus, welches uns ewiges irdisches Glück, zumindest ein glücklicheres Leben zu bescheren scheint? Es erweckt in uns den alten, utopischen menschlichen Traum vom selbstbestimmten, „besseren“ Leben: Je konkreter die Möglichkeit werde, ein solches Traumhaus wirklich zu erwerben, desto stärker kehre sich das Gefühl der Befriedigung häufig in sein Gegenteil.

Man benötigt etwas Musse, um sich auf Hirschs Werk angemessen einzulassen. Ich selbst habe das Buch mit Interesse gelesen.

Mathias Hirsch:
Das Haus. Symbol für Leben und Tod, Freiheit und Abhängigkeit
Giessen (Psychosozial-Verlag) 2006, 217 S., 22,90 Euro
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Aus der Verlagswerbung/Klappentext:

Das Haus verbinden wir mit Geborgenheit und Sicherheit. Es ist Teil unserer Sehnsuchtsliebe nach der idealisierten Kindheit im Elternhaus, und gleichzeitig symbolisiert es eigene Zukunftswünsche nach Selbständigkeit im eigenen Haus. Das eigene Haus bedeutet aber auch ein Festgelegt-Sein, ein Stück Unfreiheit: Individualität wird zur Konformität, Freiheit zur Festlegung, Sicherheit zur Abhängigkeit. Möchte man sich im Haus selbst eine mütterliche Hülle schaffen, entdeckt man über kurz oder lang mit unheimlichem Gefühl, dass es auch den Charakter des Grabes annehmen kann. So ist das Haus und jede seiner Formen ein Kristallisationspunkt eines basalen ambivalenten Autonomie-Abhängigkeitskonflikts, den wir alle kennen und dem Mathias Hirsch nachgeht: witzig und hintergründig — kulturwissenschaftlich und psychoanalytisch. Eine brillante, lesenswerte und tiefsinnige Betrachtung über eines der ältesten Kulturphänomene überhaupt.