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Vernichtungslager und Boxarena: Das unwahrscheinliche Leben des Hertzko Haft

Nur Hollywood glaubt diese Geschichte: Ein Überlebender der Konzentrationslager fordert die spätere Boxlegende Rocky Marciano zum Kampf heraus und trifft nach Jahrzehnten in Florida seine Jugendliebe…

Von Stefan Gleser

Der Sohn hatte ein Tonband dabei, als der Vater kurz vor seinem Tode sein Leben ausbreitet. Familienvater und Geschäftsmann, diese mühselig gegenüber der Vergangenheit aufgebauten Schutzwände fallen auseinander: Das Leiden fliesst aus Hertzko Haft.

Selten Fleisch auf dem Tisch, meistens das Obst und Gemüse, das keinen Verkäufer mehr fand, das Dach halbeingestürzt, den Vater an Typhus sterben sehen: Es war „alles andere als Glück, 1925 in Polen als Jude geboren zu sein.“ Dem kleinem Hertzko wird schon früh eine aufbrausende Überlebensstärke eingeprügelt.

Bald nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belchatow, einer Stadt in der Nähe von Lodz, wird Hertzko von Lager zu Lager verschleppt: Stzelin, Posen-Dempson, Jawarzno, Gross-Rosen, Auschwitz. „Er fühlte mit seinen gerade mal 16 Jahren, dass er sterblich war, und das in einem Alter, in dem die meisten Jungen denken, dass sie ewig leben.“

Inmitten des Horrors trifft er einen, der an die Zukunft denkt. Der SS-Mann Schneider weiss, dass Deutschland den Krieg verlieren wird. Schneider sucht sich als Rückversicherung einen Häftling aus und stellt ihn unter Schutz, d.h. Hertzko muss für Schneider Schmuck stehlen und Boxkämpfe auf Leben und Tod gegen Mithäftlinge bestreiten.

Auf einem Todesmarsch gelingt Haft im Kugelhagel eine tollkühne Flucht. Triumph seines Willens als er vor us-amerikanischen Soldaten den Davidsstern in den Sand zeichnet.

Hertzko kehrt in seine Heimatstadt und zurück und findet keine Angehörigen vor. Nach dem Gewinn der jüdischen Boxmeisterschaften in München beschliesst er nach Amerika auszuwandern und Profi zu werden.

Boxen lernte Haft nur in seltnen Momenten als Sport und Kameradschaft kennen. In den Lager standen sich sein Überlebenswille gegen seine Menschlichkeit gegenüber. In den USA entschied die Mafia, wer gegen wen zu gewinnen hatte. Sein Onkel Sam wirft Hertzko aus dem Haus, als sich zwei Boxmanager nach ihm erkundigen. Sam wittert sofort organisierte Kriminalität. In den Sporthallen New Yorks verständigte sich Haft ohne Probleme auf jiddisch. Mike Silver berichtet in seinem Nachwort, dass arme Einwanderer und deren Söhne in einer Boxkarriere den sozialen Aufstieg erblickten. So beherrschten zeitweise Iren und Juden den Ring.

Nach Aufhebung der Prohibition begann sich die Mafia fürs Boxen zu interessieren. Das Fernsehen machte grosse Boxkämpfe noch populärer, aber gleichzeitig verkamen die Fundamente des Sports, zahlreiche kleine Boxhallen verödeten. (Vielleicht zeichnet Silver damit die Zukunft des europäischen Fussballs voraus. Championsleague wird im Fernsehen übertragen, Bolzplätze und Strassenkicker verschwinden, an ihrer Stelle tauchen Schiedsrichterbestechung und Dopingfälle auf.)

Boxen schenkte Haft Coley Wallace und Roland LaStarza als Sparringspartner, die sein Temperament in Richtung Stil und Technik lenkten, die kurzfristige, wunderbar romantische Illusion, durch Boxen würde er bekannt und dadurch seine Jugendfreundin Leah auf ihn aufmerksam und die Bekanntschaft mit den Manager Charley Goldman. Später, als Obst und Gemüsehändler in Brooklyn, schirmte ihn Boxen ab. Die Leute erkundigten sich, wie es war, gegen Rocky Marciano zu kämpfen und nicht nach Hertzkos europäischer Vergangenheit.

Wie sich Hertzko Haft nach Jahren der Quälerei in ein paar Minuten in die Boxgeschichte einschrieb oder sein Kampf der Legende gegen Rocky Marciano, der einzige Schwergewichtsweltmeister, der ungeschlagen abtrat. Haft hatte sich diesmal mit Hilfe der Hypnose vorbereitet. Vor dem Fight betreten drei Männer Hafts Kabine und drohen ihn umzubringen, sollte er gewinnen. Sein Manager bleibt ungerührt. Marciano ist technisch überlegen, trifft Haft hart. Die Zuschauer sind auf Hafts Seite, der sich in einen „offenen Schlagabtausch“ einlässt und keinen Schritt zurückweicht. In der dritten Runde nach einem „linken Körperhaken“ und einem kurzen „Cross“ Rockys geht Haft zu Boden. Es war sein letzter Kampf. Gegenüber Goldman, der wie Haft polnisch-jüdischer Abkunft ist und zu dem er brüderliches Vertrauen fasst, und der jetzt über Hafts Kampfmoral enttäuscht ist, verschweigt er die Vorgeschichte. Haft will Goldman nicht mit der Mafia belasten.

Das Grauen der Lager verfolgte Haft bis in die feinsten Fasern des Alltags. Haft vermerkt dass er einen Hamburger ohne Brot verzehrt habe. Und dies in einer Mischung aus Scham, dass er auf das verzichtet, was jahrelang das Höchste war und Erleichterung, dass Überlebenswille nicht mehr jede Minute gefordert wurde.

Der Historiker John Radzilowski rahmt Hafts Kindheit in einem Bericht über das jüdische Leben in Polen ein. Haft erfuhr in seiner Schulzeit religiösen Antisemitismus. Er wird als „Christusmörder“ beschimpft. Während des Krieges setzten viele Polen ihr eignes Leben aufs Spiel, um den jüdischen Nachbarn zu retten. So konnte Leah, Hafts Jugendfreundin, mit Hilfe des Untergrundes fliehen.

Alan Scott Haft hat die Geschichte seines Vaters in der dritten Person wiedergegeben.
Der Boxer Haft verzichtete auf jede überflüssige Bewegung, um Kraft zu sparen. Der Erzähler Haft verzichtet auf jedes überflüssige Wort. Ein Schriftsteller, der versucht hätte dieses Leben nachzuzeichnen, wäre bei der Brutalität der Nazis ins Pathos, und bei der letzten Begegnung mit der krebskranken Leah in Sentimentalität abgeglitten. Aber Haft ist ein Muster an Lakonie, an vollendeter Kunstlosigkeit. Eben so wie er boxte: kurz, knapp, treffend.


Alan Scott Haft:
Eines Tages werde ich alles erzählen
Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Patrick Bartsch
Werkstatt-Verlag, Göttingen, 2009
191 Seiten, Hardcover, Fotos
ISBN 978-3-89533-638-6
Euro 16,90
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