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Es war einmal ein Land – Ein Leben in Palästina

Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh ist in weiten Teilen der intellektuellen Öffentlichkeit Israels sehr beliebt. Das Ausmass seines Ansehens mag in einer Anekdote zum Ausdruck kommen, welche der frühere Botschafter Israels in Deutschland, Avi Primor, 2003 in Köln erzählte. Sari Nusseibeh erhielt seinerzeit, gemeinsam mit dem aus Deutschland stammenden radikalen israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery den Lew Kopelew Preis. Als Nusseibeh, Direktor der palästinensischen Universität Al-Quds, vor einigen Jahren an einer israelischen Hochschule einen Vortrag halten wollte kam er anfangs nicht dazu: Das israelische Auditorium verfiel in einen Beifallssturm, der kein Ende finden wollte…

Von Roland Kaufhold

Sari Nusseibeh ist in Nahost in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Er ist ein auch europäisch gebildeter Intellektueller, der in London studiert und in den USA gelehrt hat. Obwohl er, wie er im Buch mit beachtlicher Introspektion und tiefer Ironie analysiert, eigentlich ein der praktischen Politik fernstehender Philosoph sei, wurde er unter Arafat, scheinbar mit innerem Widerstreben, offizieller Vertreter der PLO in Jerusalem.

(Foto: Rina Castelnuovo)

Zugleich jedoch ist er Initiator der gemeinsam mit dem früheren israelischen Geheimdienstchef Ami Ajalon verfassten Friedensregelung aus dem Jahr 2003, deren Intention und Entstehungshintergrund im Buch ausführlich vorgestellt wird (S. 448, 471ff.). In ihr wird — bisher ein Tabu — u.a. ein Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge im Interesse eines langfristigen Friedensabkommens als unrealistisch abgelehnt. Gemeinsam mit der inhaltlich weitgehend identischen Genfer Initiative wird hierin eine zukunftsorientierte Regelung aller grundlegenden Konfliktfelder entworfen. An diesen Friedensinitiativen wird, allen Rückschlägen zum Trotz, langfristig kein Weg in Nahost vorbei finden.

Sari Nusseibeh, 1949 in Damaskus geboren, stammt aus einer bekannten, sehr traditionsreichen palästinensischen Familiendynastie. Sein Vater, auf welchen der Autor in der vorliegenden, glänzend geschriebenen Autobiographie vielfältig Bezug nimmt, war zeitweise jordanischer Aussenminister, seine Familie lebt seit mehreren Jahrhunderten in Jerusalem. „Keine fünfzig Meter von Amos Oz entfernt“ (S. 18) wuchs Nusseibeh in einer anregungsreichen Familienatmosphäre auf. Als er Oz‘ „grossartige Autobiografie“ (S. 16) — betitelt mit „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ (Oz ,2005) – las war er persönlich gerührt und doch zugleich erschüttert von dem Umstand, dass dieser grosse, verständigungsbereite jüdische Schriftsteller nahezu nichts vom Leben seiner palästinensischen Nachbarn wusste: „Dass die Araber in den Kindheitserfahrungen von Amos Oz praktisch nicht vorkamen, veranlasste mich, darüber nachzudenken, wie ich selbst gross geworden war. Was hatten meine Eltern von seiner Welt gewusst? Hatten sie von den Vernichtungslagern gehört?“ (S. 18)

So beschloss der knapp 60-jährige Philosophieprofessor, der heute mit Oz und dessen Friedensbewegung „Peace Now“ in freundschaftlichem Kontakt steht, seine palästinensische Familiengeschichte aufzuschreiben – was ihm auf 500 Seiten in beeindruckender Weise gelungen ist. In den ersten Kapiteln erzählt der Autor, immer wieder auf eigene familiäre Erfahrungen rekurrierend, die komplizierte Geschichte Palästinas nach — die heutige, vor allem aus palästinensischer Perspektive scheinbar ausweglose Situation ist ohne ein wirkliches Verständnis dieser Tragik nicht auflösbar.

Sein durch und durch westeuropäisch gebildeter Vater, der als Amtsrichter und zeitweise als Verteidigungsminister Jordaniens wirkte, verstand sich in Sari Nusseibehs Jugend als ein arabischer Nationalist. Die Gründung Israels wurde als ein kollektives Trauma erfahren — von den Palästinensern, jedoch nur in sehr begrenzter Weise von den Vertretern der verschiedenen arabischen Nationen, wie der Autor in offenherziger, Mythenbildungen vorbeugender Weise darstellt. Nusseibehs Erinnerungen fokusssieren sich jedoch nicht auf schlichte Schuldzuschreibungen, sein Weg hin zu einem Verständnis seiner israelischen Nachbarn, die zugleich seine Feinde sind, wird überzeugend beschrieben: „Die Schuld verteilte sich auf viele Köpfe. (…) Mein Vater warf sich selbst vor, dass er sich nie ernsthaft bemüht hatte, seinen Feind zu verstehen.“ (S. 60)

Nusseibeh beschreibt seinen persönlichen Bildungsgang; seine Lieblingslektüre in seiner Jugend waren Krimis und Comics, ansonsten träumte er ausgiebig und schwänzte gerne die Schule, um stattdessen durch die quirligen Gassen der Altstadt Jerusalems zu streunen. 1968 lebte er ein Jahr lang an einem standesbewussten Elitecollege in London — für ihn eine bedrückende Erfahrung. Seine Ehefrau, eine Altphilologin, stammt ebenfalls aus England. Gleichzeitig kam er jedoch auch mit anarchistisch orientierten Jugendlichen in Kontakt, identifizierte sich mit deren libertären Zielsetzungen. Dies war für ihn sein erster, aus eher unbewussten Motiven (S. 90) beeinflusster Kontakt mit politischen Bewegungen. Nach dem 1967er Krieg veröffentlichte der 20-jährige einen offenen Brief in der Times, in welchem er seine ungehinderte Rückkehr nach Jerusalem forderte — zu seiner ausgeprägten Überraschung lud ihn die israelische Botschaft in London daraufhin zu einem Besuch in Israel ein. Sein Flug in einer El-Al Maschine nach Israel, inmitten von Israelis, wurde für ihn zu einer verwirrenden Erfahrung: „Das Erlebnis, in einer Maschine des Feindes unter Israelis zu sitzen und von, ehrlich gesagt, umwerfend drallen israelischen Stewardessen bedient zu werden, sollte meine Haltung zum palästinensisch-israelischen Konflikt bleibend prägen.“ (S. 96)

In weiteren Kapiteln, so in „Bilderstürmerei“, schildert Nusseibeh seine berufliche und politische Sozialisation, welche ihn zu Arafats PLO führte. Bereits früh fand er zeitgleich unbelastete Kontakte zu einzelnen Juden. Der aus Wien gebürtige langjährige Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek war ein regelmässiger, gerngesehener Gast im väterlichen Hause. 1974 — 1978 folgte ein Lehraufenthalt in Harvard, wo er erneut mit linksradikal-anarchistischen Kreisen in Berührung kam: „Psychologisch war ich beeinträchtigt von den antiamerikanischen Vorurteilen, die in linksgerichteten europäischen und arabischen Gruppen vorherrschten. Trotzdem hatte der alte amerikanische Abenteuer- und Pioniergeist insgeheim stets anziehend auf mich gewirkt.“ (S. 137)

Anregend und aufschlussreich sind Nusseibehs offenherzigen Schilderungen der innerpalästinensischen Auseinandersetzungen und Kämpfe, in welche der Autor während seiner Lehrtätigkeit in Birseit und Al-Qud immer wieder involviert war. Ein Grossteil seiner Studenten hatte in israelischen Gefängnissen gesessen. Seine Auseinandersetzungen mit deren Erfahrungen, wie auch mit namhaften palästinensischen Politikern, insbesondere mit Arafat, gehören zu den berührendsten und verstörendsten Teilen des Buches. Am inspirierendsten für Sari Nusseibeh war jedoch sein langjähriges Engagement in einem Kaffeehaus, welches sich zu einem israelisch-palästinensischen Treffpunkt von Intellektuellen und Querdenkern entwickelte. Dieser Ort war eine gelebte Utopie, vergleichbar mit dem israelisch-palästinensischen Friedensdorf Neve Shalom/Wahat-al Salam.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bilden Nusseibehs Schilderungen seiner schmerzhaften Erfahrungen mit dem israelischen Geheimdienst. Mehrfach kurzzeitig in israelischen Gefängnissen inhaftiert beschreibt der Autor, mit beachtlicher emotionaler Distanz und tiefer Ironie die Auswirkungen seiner Inhaftierung auf seine emotionale und intellektuelle Entwicklung. Gerade als prominenter Repräsentant verständigungsbereiter Palästinenser, als Fürsprecher einer an Gandhi orientierten „radikale(n) Gewaltlosigkeit“ (S. 196) wurde er zum projektiven, massiv verleumdeten Feindbild der israelischen Rechten – während radikale Islamisten noch in den 1980er Jahren vom israelischen Militär – als Gegengewicht gegen Arafat – weitgehend geduldet wurden. So bemerkt Nusseibeh: „Gemässigten die Schuld für die Taten von Extremisten in die Schuhe zu schieben, wurde zur Strategie. Auf diese Weise wurden die Gemässigten geschwächt, die Extremisten hingegen blieben unangetastet.“ (S. 200). Und: „Die drei Monate im Gefängnis von Ramle ermöglichten mir, einen allgemeinen Überblick über das komplizierte kulturelle und politische Leben von Gefangenen — ein Thema, das mich bereits seit Jahren beschäftigte.“ (S. 317) Weiterhin: „Israel kann den Willen der Palästinenser, in Freiheit zu leben, nicht gewaltsam brechen, und ebensowenig können die Palästinenser Israel mit Gewalt hinter die Grenze von 1967 zurückdrängen. Gewaltanwendung ist nicht nur unmenschlich, sondern auch politisch sinnlos. Richtschnur bei Verhandlungen kann nur die Vernunft sein.“ (S. 433)

Nusseibehs entschiedenes und glaubwürdiges Plädoyer für eine gewaltlose Strategie zur Verteidigung der palästinensischen Rechte durchzieht das gesamte Buch und brachte ihn vielfache Todesdrohungen ein — durch radikale Palästinenser wie auch durch den israelischen Geheimdienst. Man fragt sich immer wieder, woher der Autor die Kraft nimmt, sein Engagement fortzusetzen. Sari Nusseibeh hat eine wichtige, eine wegweisende Autobiografie vorgelegt. Sein Wirken steht für die Vision einer friedlichen Koexistenz zweier Völker, die auf tragische Weise miteinander verbunden sind. Wie schreibt doch der Autor: „Israelis und Palästinenser (…) sind gar keine Feinde. (…) Sie sind strategische Verbündete.“ (S. 432)

Sari Nusseibeh (zus. mit Anthony David): Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina. München 2008, Verlag Antje Kunstmann, Euro 24,90, Bestellen?

Literaturhinweise:

Avnery, U. (2003): Ein Leben für den Frieden. Heidelberg (Palmyra).
Bernstein, R. (2006): Von Gaza nach Genf. Die Genfer Friedensinitiative von Israelis und Palästinensern. Schwalbach/Ts., (Wochenschau).
Kaufhold, R. (2008): Ein radikaler israelischer Friedensaktivist und Grenzgänger. Uri Avnery wird 85 Jahre alt.
Nitzschke, B. (2003): Verleihung des Lew-Kopelew-Preises 2003 an Uri Avnery und Sari Nusseibeh.
Oz, A. (2002): Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Frankfurt/M. (Fischer).

Eine gekürzte Version dieser Rezension erscheint im Newsletter Herbst 2008 des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt am Main. Wir danken herzlich für die freundliche Nachdruckgenehmigung.

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