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Von Freud zu Perls: Beissers Paradox der Veränderung

Ein halbes Jahrhundert lang – und damit für den grössten Teil seines Berufslebens – befand sich Frederick Perls im Konflikt mit dem psychiatrischen und psychologischen Establishment. Er ging kompromisslos seinen eigenen Weg, was häufig zu Auseinandersetzungen mit den Repräsentanten konventionellerer Ansichten führte.

Dennoch befinden Perls und die Gestalttherapie sich in den letzten Jahren im Einklang mit einem zunehmend grossen Teil psychologischer Theorie und Praxis. Diese Annäherung fand nicht etwa statt, weil Perls seine Position korrigiert hätte, obwohl seine Arbeit sich auch verändert hat, sondern weil die Trends und Konzepte auf diesem Gebiet ihm und seiner Arbeit entgegengekommen sind…

Perls‘ persönlicher Konflikt mit der bestehenden Ordnung enthält den Keim seiner Veränderungstheorie. Er hat diese nicht explizit ausgearbeitet, aber sie liegt einem grossen Teil seiner Arbeit zugrunde und ist implizit in den Techniken der Gestalttherapie enthalten. Ich werde sie die paradoxe Theorie der Veränderung nennen; die Gründe dafür werden noch klar werden. Kurz gesagt geht es um Folgendes: Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist, nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist. Veränderung ergibt sich nicht aus einem Versuch des Individuums oder anderer Personen, seine Veränderung zu erzwingen, aber sie findet statt, wenn man sich die Zeit nimmt und die Mühe macht, zu sein, was man ist; und das heisst, sich voll und ganz auf sein gegenwärtiges Sein einzulassen. Indem der Gestalttherapeut es ablehnt, die Rolle dessen zu übernehmen, der Veränderung „herstellt“, schafft er die Voraussetzung für sinnvolle und geordnete Veränderung.

Der Gestalttherapeut verweigert die Rolle des „Veränderers“, weil seine Strategie darin besteht, den Klienten zu ermutigen, ja sogar darauf zu bestehen, dass er sein möge, wie und was er ist. Er glaubt, dass Veränderung nicht durch Bemühen, Zwang, Überzeugung, Einsicht, Interpretation oder ähnliche Mittel zu bewirken ist. Vielmehr entsteht Veränderung, wenn der Klient – zumindest für einen Moment – aufgibt, anders werden zu wollen, und stattdessen versucht zu sein, was er ist. Dies beruht auf der Prämisse, dass man festen Boden unter den Füssen braucht, um einen Schritt vorwärts zu machen, und dass es schwierig oder gar unmöglich ist, sich ohne diesen Boden fortzubewegen.

Ein Mensch, der sich auf der Suche nach Veränderung in Therapie begibt, ist im Zwiespalt zwischen mindestens zwei einander widersprechenden Bestrebungen. Er bewegt sich ständig zwischen dem, wie er meint, sein zu sollen, und dem, wie er glaubt zu sein. Dabei identifiziert er sich nie ganz mit einer der beiden Seiten. Der Gestalttherapeut fordert den Klienten auf, sich ganz auf eine der beiden Seiten zu begeben – immer nur eine zur jeweiligen Zeit. Mit welcher Seite der Klient auch beginnt, er wird bald auf die andere wechseln. Der Gestalttherapeut bittet ihn einfach zu sein, was er im gegebenen Augenblick ist.

Der Klient kommt zum Therapeuten, weil er verändert werden will. Viele Therapieformen akzeptieren das als legitimen Ausgangspunkt und machen sich dann daran, den Klienten mit verschiedenen Mitteln zu ändern; dabei etablieren sie eine Dichotomie, die Perls „Topdog“ und „Underdog“ nennt. Ein Therapeut, der versucht, einem Klienten zu helfen, hat die partnerschaftliche Position verlassen und ist zum wissenden Experten geworden, wobei der Klient die hilflose Rolle spielt – und dies, obwohl das Ziel darin besteht, dass Klient und Therapeut gleichberechtigt werden. Der Gestalttherapeut nimmt an, dass die Topdog-Underdog-Dichotomie bereits im Klienten existiert und dass die eine Seite in ihm die andere ändern will. Darum will er vermeiden, in eine der beiden Rollen verwickelt zu werden. Er versucht, dieser Falle zu entgehen und ermutigt darum den Klienten, beide Seiten in sich – immer eine zur Zeit – als seine eigenen zu akzeptieren.

Im Gegensatz dazu benutzt der Psychoanalytiker Kunstgriffe wie Traumdeutung, freie Assoziation, Übertragung und Interpretation, um Einsicht zu bewirken, die dann wiederum zu Veränderung führen soll. Der Verhaltenstherapeut belohnt oder bestraft Verhalten, um es zu modifizieren. Nach Überzeugung des Gestalttherapeuten geht es darum, den Klienten dabei zu ermutigen, dass er sich auf das einlässt und das wird, was er in einem jeweiligen Moment erlebt. Er meint mit Proust: „Um ein Leiden zu heilen, muss man es ganz erfahren.“

Der Gestalttherapeut glaubt ausserdem daran, dass der Mensch von Natur aus ein einheitliches, ganzes Wesen ist und nicht aufgespalten in zwei oder mehr gegensätzliche Teile. In diesem natürlichen Zustand verändert er sich ständig auf der Basis des dynamischen Austauschs zwischen ihm und seiner Umwelt.

Kardiner hat festgestellt, dass Freud bei der Entwicklung seiner strukturellen Theorie der Abwehrmechanismen Prozesse zu Strukturen gemacht hat (zum Beispiel wurde aus Verleugnen Verleugnung). Der Gestalttherapeut hält Veränderung dann für möglich, wenn das Gegenteil geschieht, d.h. wenn Strukturen in Prozesse überführt werden. Wenn das passiert, öffnet sich der Mensch dem teilnehmenden Austausch mit seiner Umwelt.

Wenn fragmentierte, voneinander entfremdete Teile des Selbst in einer Person die Form separater Rollen annehmen, regt der Gestalttherapeut eine Kommunikation zwischen diesen Rollen an. Gegebenenfalls fordert er sie buchstäblich dazu auf, miteinander zu sprechen. Falls der Klient dem widerspricht oder auf eine Blockade hinweist, lädt der Therapeut ihn einfach ein, sich vollständig in den Widerspruch oder die Blockade hineinzuversetzen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Integration eintritt, wenn der Klient sich mit den entfremdeten Fragmenten identifiziert. Folglich kann man anders werden, wenn man – vollständig – wird, was man ist.

Der Therapeut selbst ist jemand, der nicht nach Veränderung strebt, sondern nur danach zu sein, wer er ist. Die Bemühung des Klienten, den Therapeuten in eine seiner Stereotypen von Menschen einzupassen, z.B. in die des Helfers oder Topdogs, führen zu einem Konflikt zwischen ihnen. Der Endpunkt ist erreicht, wenn jeder von beiden er selbst sein und dabei innigen Kontakt mit dem andern halten kann. Auch der Therapeut kommt in Bewegung und ändert sich, wenn er danach strebt, gegenüber der anderen Person er selbst zu sein. Diese Form gegenseitiger Interaktion hat möglicherweise zur Folge, dass der Therapeut dann am wirkungsvollsten ist, wenn er sich am meisten verändert. Denn wenn er offen für Veränderung ist, hat er wahrscheinlich den grössten Einfluss auf seinen Klienten.

Was ist in den vergangenen fünfzig Jahren geschehen, dass diese im Werk von Perls enthaltene Veränderungstheorie akzeptiert, verbreitet und anerkannt worden ist? Perls‘ Annahmen haben sich nicht geändert, aber die Gesellschaft. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit befindet sich der Mensch in einer Situation, in der er sich weniger an eine bestehende Ordnung anpassen, sondern vielmehr fähig sein muss, sich an eine Reihe von in Veränderung befindlichen Ordnungen anzupassen. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit dauert die Spanne eines individuellen Lebens länger als die Zeit, die für grössere soziale und kulturelle Veränderungen erforderlich ist. Zudem beschleunigt sich noch die Geschwindigkeit dieser Veränderungen.

Jene Therapieformen, die sich der Vergangenheit und der individuellen Geschichte zuwenden, tun dies aufgrund der Annahme, es sei notwendig, die mit einer traumatischen Erfahrung (meist in Kindheit oder Jugend) zusammenhängenden Probleme zu bewältigen. Dies bereite den Klienten ein für allemal darauf vor, mit der Welt zurechtzukommen, denn die Welt befinde sich in einer stabilen Ordnung. Heutzutage jedoch liegt die Schwierigkeit darin, einen eigenen Standpunkt gegenüber einer sich ständig wandelnden Gesellschaft zu finden. Gegenüber einem pluralistischen, vielseitigen, veränderlichen System ist der Mensch auf die eigenen Möglichkeiten der Stabilisierung angewiesen. Er muss dies auf eine Art tun, die es ihm erlaubt, sich dynamisch und flexibel im Fluss der Zeit zu bewegen und dabei zugleich die Orientierung zu behalten. Das ist nicht mehr mit Ideologien möglich, die obsolet werden, sondern nur mit einer Theorie der Veränderung, sei sie nun explizit oder implizit. Ziel der Therapie kann es nicht mehr sein, einen guten, festen Charakter zu entwickeln; es muss vielmehr in der Fähigkeit bestehen, mit der Zeit zu gehen und dabei eine gewisse individuelle Stabilität zu bewahren.

Zusätzlich zu dem sozialen Wandel, der die Erfordernisse der Gegenwart auf die Linie seiner Veränderungstheorie brachte, lag es an Perls‘ Sturheit und Unwilligkeit zu sein, was er nicht war, die es ihm erlaubten, für die Gesellschaft bereit zu sein, als sie bereit für ihn war. Perls musste so sein, wie er war, trotz oder vielleicht gerade wegen des gesellschaftlichen Gegenwinds. Dennoch hat er im Laufe seines Lebens auf ähnliche Weise zu einer Integration mit vielen professionellen Kräften auf seinem Gebiet gefunden, wie ein Individuum mit Hilfe effektiver Therapie auch zur Integration entfremdeter Teile seines Selbst finden kann.

Das Interessengebiet der Psychiatrie umfasst heute nicht mehr nur das Individuum, da es offensichtlich geworden ist, dass die schwierigste vor uns liegende Aufgabe in der Entwicklung einer Gesellschaft liegt, die das Individuum in seiner Individualitat unterstützt. Ich glaube, dass die hier umrissene Veränderungstheorie auch auf soziale Systeme angewendet werden kann und dass geordnete Veränderung in sozialen Systemen sich in Richtung auf Integration und Ganzheitlichkeit bewegt. Ich glaube weiterhin, dass Menschen, die sich für soziale Veränderung einsetzen, mit und in einer Organisation arbeiten müssen, damit diese sich im Einklang mit dem sich wandelnden dynamischen Gleichgewicht innerhalb und ausserhalb der Organisation verändern kann. Dafür muss das System sich der entfremdeten Fragmente innerhalb und ausserhalb bewusst werden, damit diese ihre wichtigen Funktionen erfüllen können. Die dabei stattfindenden Prozesse sind denen der Identifikation im Individuum ähnlich. Zuerst entsteht Bewusstheit im System, dass ein entfremdetes Fragment existiert; dann wird das Fragment akzeptiert als ein legitimer Auswuchs einer funktionalen Notwendigkeit, schliesslich wird es explizit und vorsätzlich mobilisiert und in die Lage versetzt, als explizite Kraft zu operieren. Dies wiederum führt zum Austausch mit anderen Subsystemen und ermöglicht ein integriertes, harmonisches Wachstum des gesamten Systems.

Da Veränderung sich exponentiell beschleunigt, ist es für das Überleben der Menschheit entscheidend, dass eine geordnete Methode sozialen Wandels gefunden wird. Die hier vorgeschlagene Veränderungstheorie hat ihre Wurzeln in der Psychotherapie. Sie entwickelte sich aus dyadischen therapeutischen Beziehungen. Aber ich meine, dieselben Prinzipien gelten für soziale Veränderungen, und der individuelle Veränderungsprozess ist nur ein Mikrokosmos des sozialen Veränderungsprozesses. Unvereinbare, unintegrierte, feindselige Elemente stellen eine grosse Bedrohung für die Gesellschaft dar, genauso wie für das Individuum. Die Trennung von alten und jungen Menschen, von reichen und armen, von schwarzen und weissen, von Akademikern und Hilfsarbeitern etc. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen, Gebieten oder Schichten ist eine Gefahr für das Überleben der Menschheit. Wir müssen Wege finden, diese abgekapselten Fragmente miteinander in Verbindung zu bringen, damit sie zu Ebenen eines teilnehmenden, integrierten Systems der Systeme werden.

Die paradoxe Theorie sozialer Veränderung, die ich hier vorschlage, basiert auf den Strategien, die Perls in seiner Gestalttherapie entwickelt hat. Sie lassen sich nach meiner Meinung auf die Organisation und Entwicklung von Gemeinden und auf andere Veränderungsprozesse anwenden, die mit demokratischen politischen Strukturen zu vereinbaren sind.

Quelle: Arnold R. Beisser: Wozu brauche ich Flügel?
Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter

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Hier finden Sie die englische Version dieses Artikels.
(Aus dem Amerikanischen von Frank-M. Staemmler)

Frank-M. Staemmler: Vorwort: Dieses Buch war längst überfällig. Jahrzehntelang waren Arnold Beissers Schriften nicht in deutscher Sprache erhältlich – und das, obwohl sie aus der Geschichte der Gestalttherapie und aus ihrer Theorie nicht wegzudenken sind: Beissers "paradoxe Theorie der Veränderung" (in Amerika 1970 veröffentlicht) gilt heute den meisten Gestalttherapeutinnen und Gestalttherapeuten nicht nur als ein Kernstück gestalttherapeutischer Anthropologie, sondern auch als Basis ihrer Methodik und Technik"

Leseprobe: Kapitel 11 Antäus und das Paradox der Veränderung: Die alten griechischen Mythen haben immer eine spezielle Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Diese Geschichten von olympischen Göttern und Helden scheinen etwas vom Wesen des Menschen wiederzugeben. Sie zeigen unverhüllt unsere Sehnsüchte und Gefühle, die wir üblicherweise unter dem Schleier der Kultur verstecken. Eine Zeit lang hatte es mir ein Mythos besonders angetan, der Mythos von Antäus"

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