Zertal, Idith:
Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit.
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Wallstein Verlag 2003
Euro 32,00
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Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit:
Nation und Tod
Von Moshe Zimmermann
Manche Israel-Freunde werden über den folgenden Satz
sicher nicht begeistert sein: "Mit Hilfe von Auschwitz – Israels ultimativer
Trumpfkarte bei seinen Beziehungen zu einer Welt, die immer wieder aufs Neue
als antisemitisch und auf ewig feindselig definiert wurde – immunisierte
sich Israel selbst gegen jedwede Kritik und genehmigte sich einen quasi
sakrosankten Status, verschloss sich einem kritischen, rationalen Dialog mit
seiner Umwelt".
Dieser Satz (S. 11) erläutert, was Idith Zertal in den
Mittelpunkt ihres Buches gestellt sehen möchte, nämlich die "fatale
Verbindung" zwischen dem israelischen Nationalismus und dem "Tod in Israels
öffentlichem Bereich" (S. 7). Damit ist bereits die These des Buches
umrissen, zu deren Untermauerung Zertal detailliert die Rezeption und
Erinnerung des Holocaust in der israelischen Gesellschaft seit der
Staatsgründung von 1948 verfolgt.
Darüber hinaus geht es im Kontext des Themas um die
Auseinandersetzung mit zwei weiteren Fällen der Rezeption von Tod, die das
nationale Selbstverständnis der jüdischen Israelis geprägt haben. Diese
Ereignisse setzen den chronologischen Rahmen des Buches: der Tod Joseph
Trumpeldors im Jahre 1919 in einem zum Mythos gewordenen Kampf um die
Siedlung Tel Chai auf der einen Seite der Zeitlinie, die Ermordung Yitzhak
Rabins 1995 auf der anderen.
Im ersten Kapitel schildert Zertal "konstituierende
historische Ereignisse" und weist auf die Diskrepanz zwischen Ereignis und
Erinnerung hin (Tel Chai, Masada, der Aufstand im Warschauer Ghetto und
andere Beispiele). Im zweiten Kapitel wird das Holocaust-Bewusstsein im
ersten Jahrzehnt nach der Gründung des Staates Israel behandelt. Dabei
vertritt die Autorin die These von der verdrängten Erinnerung. In diesem
Zusammenhang beschreibt sie vor allem die Prozesse gegen vermeintliche
Kollaborateure mit dem NS-Regime, allen voran den Kasztner-Prozess. Das
dritte Kapitel setzt sich äußerst kritisch mit dem Eichmann-Prozess
auseinander, "Ben-Gurions letztem großen nationalen Projekt" (S. 14), aus
dem die Israelis mit einer "radikalen Bewusstseinsveränderung" (S. 154)
hervorgegangen sind. Im vierten Kapitel wird der Deutungsstreit um den
Holocaust im zionistischen Diskurs mit Hannah Arendts Person als Aufhänger
oder Alibi angegangen. Im letzten Kapitel wird dann die Verbindung zwischen
Holocaust-Bewusstsein und Israel als Militärmacht einerseits bzw. Israels
Grenzen andererseits umfassend beschrieben und dokumentiert.
Bereits ein Blick auf das Personen- und Sachregister
zeigt, dass der Eichmann-Prozess und Hannah Arendt der eigentliche
inhaltliche Kern des Buches sind. Dieser Prozess veranschaulichte eben
optimal die Verknüpfung, die das offizielle Israel von Anfang an den Köpfen
der Menschen einprägen wollte – die Verbindung zwischen Holocaust/Shoah und
"Tekuma" (Entstehung des Staates Israel), "zwischen dem Untergang des
europäischen Judentums und israelischer Stärke", wobei Israel als einzige
Alternative zur Diaspora, zur Vernichtung der Juden, dargestellt wurde. "Der
gesamte Fall Eichmann [...] mutierte im israelischen Diskurs zu einem Symbol
israelischer Souveränität und Stärke" (S. 157). Mehr noch (S. 161): "Der
Fall Eichmann [...] sollte zu einem Wendepunkt auf dem Weg hin zu einer
systematischen, unverblümten Verwendung [sic!] des Holocaust im Dienste
israelischer Interessen, für politische Zwecke innerhalb Israels und
besonders im Kontext des israelisch-arabischen Konflikts werden."
Die israelische Atombombe ist hierfür ein Beispiel; der
andere, von Zertal stark betonte illustrierende Fall ist die Gleichsetzung
zwischen Nazis und Arabern. Die Allianz zwischen dem Mufti von Jerusalem und
dem "Dritten Reich" wurde zum Ausgangspunkt für eine derartige
Gleichsetzung, die den gesamten Ablauf des Konflikts mit den Arabern
begleiten sollte. Wie wirkungsvoll Ben-Gurions Parole "Araber gleich Nazis!"
war, zeigt die im Buch zitierte Stelle aus der liberalen Tageszeitung
"HaAretz" vom ersten Tag des Sechs-Tage-Krieges 1967: "Für uns ist Nasser
Hitler" (S. 192). Der Sechs-Tage-Krieg selbst galt somit als "abgewendete
Shoah" Nummer zwei (S. 198).
Besonders ausführlich befasst sich Zertal mit Hannah
Arendts "Eichmann in Jerusalem", ihrer These von der Kollaboration der
jüdischen Führung mit den Nationalsozialisten und ihrer Auseinandersetzung
mit israelischen Freunden, in erster Linie mit Gershom Scholem. Lange Zitate
werden angeführt, die die Debatte um Arendt, ihre Position im
Eichmann-Prozess sowie ihre Haltung zum Zionismus im Allgemeinen
illustrieren sollen. Dabei ist das Thema bereits auf der vom
Richard-Koebner-Minerva-Zentrum der Hebräischen Universität Jerusalem
organisierten Konferenz "Hannah Arendt in Jerusalem" im Jahre 1997 und im
daraus hervorgegangenen Sammelband gründlich bearbeitet worden.[1]
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches wird im letzten
Kapitel behandelt: die Präsenz des Holocaust in der Rhetorik sowie im Tun
und Handeln des neuen Israel. Hier setzt Zertal bei der Todesrhetorik des
offiziellen Israel in den 1950er-Jahren ein und führt die Erörterungen bis
zur Rhetorik der Siedler in den 1980er-Jahren und zur Ermordung Yitzhak
Rabins Mitte der 1990er-Jahre fort. Moshe Dayan, israelischer
Generalstabschef in den 1950er-Jahren, hielt nach der Ermordung eines
Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen eine Grabrede, in der sich der
typische Satz findet (S. 279): "Die Millionen von Juden, die vernichtet
wurden, weil sie kein Land hatten, sehen uns aus der Asche der israelischen
Geschichte zu und befehlen uns, zu siedeln und ein Land für unser Volk zu
errichten." Als es sich dann später – nämlich nach 1967 – bei dem zu
besiedelnden Land nicht mehr nur um das international als Israel anerkannte
Kernland, sondern vor allem um das Westjordanland handelte, wurde erneut zu
dieser Argumentation gegriffen.
Alle Versuche, die fanatische Siedlerbewegung zu zähmen,
wurden von den Siedlern stets mit der NS-Judenpolitik verglichen. Nicht nur
Araber, sondern auch die israelische Linke – und dazu zählte
Ministerpräsident Yitzhak Rabin – konnten so mit den Nationalsozialisten
gleichgesetzt werden: Israel habe keine Regierung, sondern einen Judenrat,
hieß es. Zertal achtet nicht darauf, dass diese Rhetorik nur für legitim
gehalten wurde, wenn sie aus dem rechten Flügel des politischen Spektrums
kam, von Siedlern und ihren Sympathisanten. Bezugnahmen des linken Flügels
auf die NS-Vergangenheit galten dagegen nicht als legitim und führten sogar
zu entsprechenden Gerichtsverfahren.
Zertal rechnet mit der gesamten israelischen Politik und
Kultur ab – von David Ben-Gurion bis zu Menachem Begin und Ariel Scharon,
von der Arbeiterpartei bis hin zu Gush Emunim. Für den israelischen Leser
ist dies ein Schlachten von heiligen Kühen. Der deutsche Leser, für den
Personen wie Chaim Guri oder Yitzhak Tabenkin unbekannte Größen sind, fällt
angesichts einer solchen Abrechnung eher in Verwunderung oder Bestürzung.
Die Texte, die Zertal ausführlich zitiert, reichen für den kritischen Leser
allerdings aus, um sich eine eigene Meinung über die im Buch erörterte
Entwicklung zu bilden.
Israelischen Lesern dürften darüber hinaus Teile des
Buches bekannt gewesen sein, denn noch bevor die hebräische Ausgabe
erschien, wurden bestimmte Abschnitte bereits als Artikel in israelischen
Zeitschriften publiziert. Auch deutsche Leser werden sich über dieses Buch
nicht zum ersten Mal einen Zugang zu den Details des internen israelischen
Holocaust-Diskurses verschaffen. Tom Segevs "Die siebte Million"
[2] ist mittlerweile zum
Standardwerk geworden, und für einen systematischen Überblick sorgten
israelische Autoren schon vor zehn Jahren in dem von Rolf Steininger
herausgegebenen Sammelband "Der Umgang mit dem Holocaust".[3]
Dem deutschen Leser wird zudem auffallen, dass die in
Deutschland vor allem bekannten israelischen Historiker, die sich mit der
Problematik der Holocaust-Erinnerung in Israel und Deutschland befassen –
Yehuda Bauer, Dan Diner, Shulamit Volkov, um hier nur einige zu nennen – bei
Zertal unerwähnt und unberücksichtigt bleiben. Infolge mangelnder
Sprachkenntnisse hatte Zertal wohl keinen Zugang zur deutschsprachigen
Literatur.
Moshe Zimmermann: Rezension zu: Zertal,
Idith: Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit. Aus
dem Hebräischen von Markus Lemke. Göttingen 2003.
In:
H-Soz-u-Kult, 22.03.2004
Anmerkungen:
[1] Aschheim, Steven (Hg.),
Hannah Arendt in Jerusalem, Berkeley 2001.
[2] Segev, Tom, Die siebte
Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995.
[3] Steininger, Rolf (Hg.), Der
Umgang mit dem Holocaust: Europa – USA – Israel, Wien 1994.
hagalil.com
30-12-04 |