Bernhard Schmid:
Algerien - Frontstaat im globalen Krieg?
Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem
nordafrikanischen Land
Unrast Verlag 2005
Euro 18,00
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Algerien:
Frontstaat im globalen Krieg?
Buchvorstellungen:
Kassel, Donnerstag, 16.06., 18 Uhr, Universität Kassel,
Holländischer Platz, Nora-Platiel-Str. 6, Raum 0213
Bremen, Freitag, 17.06., 20 Uhr, paradox, Bernhardstr. 12
Hannover, Montag,
20.06., 20 Uhr, UJZ KORN, Kornstraße 28/30, Hannover |
Nur selten wird schlüssig erklärt, was den politische
Islamismus genau ausmacht, und vor allem, was seinen (relativen) Erfolg
in einer Reihe von Ländern erklärt. Bernhard Schmid liefert eine
aktuelle, aufschlussreiche Untersuchung am Fallbeispiel Algerien.
Algerien galt der europäischen Linken lange Zeit als ein
"Modellfall" in der so genannten Dritten Welt. Das Land konnte sich,
überwiegend aus eigener Kraft, von der 132 Jahre währenden Vorherrschaft
des französischen Kolonialismus befreien - zu einem hohen Preis: Der
Unabhängigkeitskrieg zwischen 1954 und 1962 kostete auf der algerischen
Seite rund eine Million Tote und zahlreiche Folteropfer.
Infolge der Unabhängigkeit 1962 schlug das Land zunächst
einen staatssozialistischen Entwicklungsweg ein, der vor allem folgende
Elemente miteinander vermengte: Entwicklungsdiktatur und Bemühen um eine
eigenständige Industrialisierung; Dominanz der Staatsbürokratie und
zugleich (im Unterschied zu der UdSSR und anderen realsozialistischen
Staaten) Vorherrschaft der Militärs über die Einheits-Partei; eine
zunächst geringe, später aber vom Staat als "Gegengift" zum Marxismus
geförderte Bedeutung der Religion in der politischen Sphäre.
Ab den frühen 80er Jahren beginnt dieses Entwicklungsmodell auseinander zu
brechen. Innere und äußere Faktoren spielen dabei eine Rolle - die Rolle
der in die eigene Tasche wirtschaftenden Eliten, der Ölpreisverfall auf
dem Weltmarkt der Jahre 1985/86 und der Niedergang des verbündeten
sowjetischen Blocks. Auch in der Gesellschaft hat das
staatssozialistishe Modell an Legitimität verloren, der Staat gilt als
"Auspresser" der Gesellschaft, und viele Algerier glauben in den 80er
Jahren an die Illusion einer "Befreiung" durch den Markt.
Mit der Implosion des alten Ein-Parteien-Staats 1988, unter dem Ansturm
einer zunächst blutig unterdrückten Jugendrevolte, beginnt eine neue
Phase. Der kurze demokratisch-pluralistische Frühling wird beendet durch
den raschen Aufstieg des politischen Islamismus zur Massenbewegung, vor
dem Hintergrund der Krise aller als "links" oder progressiv konnotierten
Befreiungsmodelle (der Begriff des Sozialismus wird mit dem
untergehenden
FLN-Staat, jener des Kommunismus mit der verbündeten und ebenfalls
niedergehenden UdSSR identifiziert). Scheinbar bleibt nur der "Rückbzug
auf die angestammte Identität", die reaktionäre Utopie einer durch
Abschneiden aller verderblichen und zersetzenden Einflüsse "gesundeten"
Gesellschaft als Alternative zu den abgewirtschafteten Eliten.
Die reaktionäre Utopie kann Anfang der Neunziger tatsächlich Millionen
Menschen mobilisieren, jedenfalls an den Wahlurnen. Aus der Nähe
betrachtet, ist der Erfolg des politischen Islamismus jedoch nicht so
total wie befürchtet: Die Politik der Islamistenpartei FIS in den "1990"
eroberten Rathäusern führt zu einer Negativbilanz, die nicht wenige
Wähler abstößt.
Der Versuch einer Machtergreifung von der Straße aus, mit einer (von der
Form her) aufstandsähnlichen Strategie, endet im Misserfolg. Der
parlamentarische Weg an die Macht wird dem FIS schließlich durch einen
Teil der alten Eliten sowie die verängstigten Mittelschichten verbaut.
Ab da eskaliert jedoch der Konflikt, in Algerien gehen scheinbar die
Lichter aus.
Die gesamten Neunziger Jahre hindurch macht Algerien im Ausland vor allem
durch Nachrichten von Massakern, Terror und Gegenterror von sich reden.
Diese rabenschwarze Vision verdeckt jedoch einige Prozesse in der
algerischen Gesellschaft: Unter dem Eindruck konkreter Bekanntschaft mit
islamistischen Praktiken, etwa in "befreiten Zonen" - die aber häufig
vom Staat freiwillig auf Zeit aufgeben worden waren -, kommt es zum
Prozess der Ablösung großer Teile der früheren Anhängerschaft vom
radikalen politischen Islamismus. Dessen bewaffnete Fraktionen antworten
darauf teilweise durch Kollektivmassaker. Zugleich eskaliert eine
Gewalt, die teilweise weniger aus ideologischen Faktoren denn aus der
Eigendynamik einer Raub- und Plünderungsökonomie in einem rasant
verarmenden Land zu erklären ist. Die Ideologie hängt darüber lediglich
ein Mäntelchen der Rechtfertigung.
Gleichzeitig geht der Umbau der ehemals staatssozialistischen zur auf den
Weltmarkt "geöffneten", liberalisierten Ökonomie weiter. Die letzten
Stationen sind die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der
EU (2002) und die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der WTO. Die
sozialen Widerstände bleiben oft schwach, da die Erfahrungen mit dem
Islamismus - seinem Umkippen in einen oftmals gegen "die Massen"
gerichteten reaktionären Terror, aber auch seiner Niederlage gegenüber
dem letztlich doch stärkeren Staat - eine lähmende Wirkung auf die
kollektive Mobilisierungsfähigkeit ausüben. Dennoch kommt es zu Anfang
dieses Jahrzehnts zu einer Reihe vielfältiger sozialer Proteste, denen
es bisher jedoch an Vereinheitlichung und längerfristiger Perspektive
fehlt.
aus dem Inhalt
- Von der Unabhängigkeit (1962) bis zur Implosion des Ein-Parteien-Staats
(1988): Scheitern des Entwicklungsmodells und seine Gründe, die "linke"
und die "rechte" Opposition, Versuche der Instrumentalisierung der
Religion durch die Staatsmacht
- Erfolgsgründe des politischen Islamismus als Massenbewegung (1988 -
1992): Koloniales Gedächtnis, Krise der Linken bzw. Diskreditierung von
Sozialismus und Kommunismus, weltpolitische Faktoren (Irakkrieg 1991 und
Afghanistan-Erfahrung) und internationaler Kontext
- Von der Massenmobilisierung zur Abschreckung der "Massen" (1992 - 1998):
Der Islamismus im Bürgerkrieg, die "islamistische Kriegsökonomie" (nach
Luis Martinez) und die Rolle der Ausplünderung, die strategische
Niederlage 1997/98
- Die Einbettung Algeriens in die "moderne" Weltmarktökonomie geht
unterdessen weiter: Abkommen mit dem IWF 1994, Privatisierungsschub
durch den Bürgerkrieg, Bemühungen um "Modernisierung" und
"Anschluss-nicht-verpassen" unter Präsident Bouteflika (ab 1999)
- Möglichkeiten und Schwierigkeiten von sozialem Widerstand in einer
traumatisierten Gesellschaft: Die Rolle der Erfahrung der Neunziger
Jahre, die kabylische Regional-Revolte von 2001 (mit
Augenzeugen-Kenntnissen), soziale und Streik-Bewegungen sowie Riots der
Jahre 2001 - 03
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14-06-05 |