Eine Geschichte in drei Stationen:
Krise und Antisemitismus
Rezension von Max Brym
Gerhard Hanloser liefert kein vulgärmarxistisches Werk
ab, er kombiniert Erkenntnisse der Kritischen Theorie, mit der
Psychologie und der speziellen nationalen Entwicklung. Der Autor startet
den Versuch, auf der Basis der Kritischen Theorie, verbunden mit der
Marxschen Krisentheorie, die Wirkungsmächtigkeit des Antisemitismus in
der ökonomischen Krise darzulegen.
Anhand von drei Fallstudien wird dieser Zusammenhang
aufgezeigt: Die Gründerkrise 1873, in deren Verlauf moderne
antisemitische Parteien und Agitatoren zum ersten Mal in Deutschland die
Börse mit dem Judentum gleichsetzten, die Weltwirtschaftskrise 1929 und
die nationalsozialistische Antwort darauf, sowie die heutige Zeit der
krisenhaften "New Economy". Hanloser betrachtet die antisemitische
Bewegung als Phänomen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, das
losgelöst von dieser nicht erklärt werden kann. Gleichzeitig wendet er
sich gegen das banale Erklärungsmuster, nachdem antisemitische Parteien
und Bewegungen bewußt geschaffene Instrumente zur Niederschlagung der
Arbeiterbewegung seien.
Hanloser geht vielmehr von der Tatsache aus, dass die
meisten Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft das Wesen dieser
Gesellschaftsordnung nicht verstehen, demzufolge Erscheinung und Wesen
krisenhafter Phänomene verwechselt werden. Das Geld in der Westentasche
der Leute, das nur einen gesellschaftlichen Zusammenhang wiedergibt,
wird zum Fetisch. Im abstrakten Geld vermutet das irritierte Individuum
die Wurzel der enormen Probleme, besonders in einer Krisensituation.
Aber das Abstrakte strebt danach, konkret beantwortet zu werden. Hinter
dem Geld wird der Jude vermutet und für sämtliche Krisenphänomene
verantwortlich gemacht. Nicht die kapitalistische Produktionsweise und
die Ausbeutung im Produktionsprozeß attackiert der Antisemit, sondern
den "raffenden" Geldspekulanten.
Hanloser zeigt deutlich, wie in der Gründerkrachkrise 1873
plötzlich ein Herr Bethel Henry Strousberg zum Urfeind vieler in
Deutschland wurde. Frei nach dem Motto: "Der Jude hat unser Geld
verzockt". Die Ursache der Krise wurde nicht aus den elementaren
Widersprüchen der kapitalistischen Produktion erklärt. In der Krise
zeigt sich besonders der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen
Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der
Produktion in der ganzen Gesellschaft. Einfach ausgedrückt, jedes
Einzelkapital strebt danach, möglichst viel und kostengünstig für einen
scheinbar unbegrenzten Markt zu produzieren. Da aber jeder Kapitalist so
handelt, entsteht plötzlich eine Situation, in der die Produzenten die
von ihnen produzierten Waren nicht mehr kaufen können. Die Gesellschaft
wird arm, weil sie scheinbar zu reich ist. Die Krise erscheint als Geld-
und Kreditkrise.
Der Gründerkrach 1873 entstand aufgrund der Tatsache, dass
die Produktionskapazitäten Deutschlands in keinem Verhältnis mehr zur
Aufnahmefähigkeit des Weltmarktes und der Kaufkraft standen. Der
Antisemit nimmt diese Realität nicht wahr und bringt die Krise mit
Spekulationen, Geld und Verschwörungen in Verbindung. All das belegt
Hanloser ausgezeichnet und durchleuchtet Felder der Massenpsychologie
sowie kulturelle und nationale Besonderheiten. Auch pflegt der Autor
nicht die in linken Kreisen weit verbreitete Unsitte, komplizierte Dinge
noch komplizierter auszudrücken.
Den Durchbruch der NSDAP ab 1929 beschreibt Hanloser in
Verbindung mit der Weltwirtschaftskrise, die dem antisemitischen Wahn
die nötige Unterfütterung gab. Abstrakter "Antikapitalismus" und
konkreter antisemitischer Antikommunismus bewirkten den Durchbruch der
Nazis. Warum allerdings der Antisemitismus in Deutschland absolut
eliminatorisch endete, erfährt der Leser nicht. Das, so muss hinzugefügt
werden, ist aber auch nicht die Aufgabe, die sich der Autor gestellt
hat.
Vieles ist in der Arbeit von Hanloser nur angerissen. Dies
ließ sich kaum vermeiden, denn Marx, Adorno und Freud in einem Werk zu
verpacken, ist eine schwierige Übung. Dennoch ist es dem Autor gelungen,
eine gute Einführung in den Themenkomplex Antisemitismus, Krise,
Marxismus und "Kritische Theorie" abzuliefern. Nach meinem Geschmack
trifft das jedoch nur bedingt zu, wenn Hanloser das Gebiet der
krisenhaften New Economy betritt.
"New Economy" und Nietzsche
Völlig zutreffend analysiert Hanloser die Gefährlichkeit
der gegebenen Nietzsche-Renaissance. In der Tat eignet sich Nietzsche
als Ideologe des "modernen" Manchester Kapitalismus. Nietzsche stand für
den "Willen zur Macht", für die "Umwertung aller Werte" und für das
Gebot: "Die Schwachen und Mißratenen sollen zugrunde gehen" (Nietzsche
in "Antichrist").
Nietzsche paßt zur sozialen Kälte in der kapitalistischen
Konkurrenzgesellschaft. Nietzsche ist wie einst der Ideologe für Teile
der bürgerlichen Intelligenz, die in schönen Worten ihre eigene
Degeneration abfeiern. Nietzsche hat in seinem Werk sowohl
philosemitische wie antisemitische Versatzstücke zu bieten. Nietzsche
persönlich legte stets Wert auf die Feststellung: "Ich verachte jedes
geschlossene System".
Wie Hanloser darauf kommt, ausgerechnet in den postmodernen
Nietzsche-Jüngern einen Beleg für die Schwäche des Antisemitismus zu
sehen, ist ein Rätsel. Das Rätsel kann gelöst werden, wenn auf
unwissenschaftliche Begriffe wie New Economy und Globalisierung
verzichtet wird. Es gilt vom Kapitalismus und seinen systemimmanenten
Wolfsgesetzen auszugehen. Hanloser berücksichtigt nicht die Bedeutung
der Konkurrenz, in der jetzigen kapitalistischen Weltökonomie. Deshalb
verwendet er auch nicht den Begriff Imperialismus. Er glaubt, so mein
Eindruck, an eine irgendwie neugestaltete kapitalistische Ordnung. Er
erwähnt nicht die knallharte ökonomische Differenz zwischen den USA und
dem deutsch dominierten Europa. Der in Europa um sich greifende
Antisemitismus hat als wichtige Basis die Mystifizierung des
Weltmarktes.
Verschwörungstheorien über die ökonomische und politische
Krise dominieren den deutschen Buchmarkt. Irgendwelche getarnten
Drahtzieher dominieren das Pentagon und die Finanzwelt, bekunden jede
Menge deutsche Autoren. Selbst in Börsenblättern wird von den "Juden und
dem Geld" geschrieben. Das benennt auch Hanloser in seinem Buch.
Speziell in Deutschland richtet sich die "Kapitalismuskritik" gegen
vagabundierendes und spekulierendes Kapital. Der Kapitalismus selbst
wird nicht in Frage gestellt.
Die Organisation ATTAC ist hierfür ein exzellentes
Beispiel. Der in Deutschland täglich erfahrbare Antisemitismus kommt in
dem Buch nur als Randerscheinung vor. Der Autor bemerkt nicht, dass der
Antisemitismus schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen
ist. Dennoch hat Hanloser ein Gespür für Antisemitismus und nennt
speziell die Möllemann Affäre eine antisemitische Geschichte. Das
Verhalten der FDP in Sachen Möllemann nimmt er jedoch als Beleg, um dem
Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft zu verbannen.
Hanloser übersieht jedoch, dass der "Querulant" Möllemann
aus der FDP nicht wegen Antisemitismus, sondern wegen diverser Skandale
ausgeschlossen wurde. Auf alle Fälle ist das Buch von Gerhard Hanloser
empfehlenswert, es hat wichtige theoretische Erkenntnisse zu bieten,
sowie manches, über das es sich trefflich streiten läßt.
Gerhard Hanloser:
Krise und Antisemitismus.
Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die
Weltwirt-schaftskrise bis heute, Unrast Verlag 2003, Euro 13,00
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hagalil.com
31-12-03 |