"Erinnerung im globalen Zeitalter":
Der Holocaust und die "Globalisierung"
Was haben das Tagebuch der Anne Frank, der Eichmann-Prozeß und "Schindlers
Liste" von Steven Spielberg gemeinsam? Sie alle sind Meilensteine auf dem Weg
der Veränderung nationaler zu kosmopolitischer Erinnerungskultur. Entlang dieses
Weges wurde der Holocaust zu einem universalen "Container" für Erinnerungen an
unterschiedliche Opfer, wie Daniel Levy und Nathan Sznaider in einer
beeindruckenden Arbeit zeigen, die im Hause Suhrkamp in der Edition Zweite
Moderne erschienen ist.
"Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust" geht der Frage nach
Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung auf den Grund. Die Thesen sind in den
Rahmen der Theorie einer "Zweiten Moderne" eingebettet. Der Begriff, der von
Ulrich Beck in die Soziologie eingeführt wurde, meint die Schau auf globale
Prozesse, bei denen Politik und Kultur entortet sind, entgegen der ersten
Moderne, die national- und territorialstaatliche Politik im Mittelpunkt hatte.
Gerade im Bereich der Kultur wird Globalisierung oft kritisiert. Es zeige sich
jedoch, so Levy und Sznaider, daß sich grenzüberschreitende Kulturen und
Erinnerungen bilden. Exemplarisch und überzeugend zeigen sie dies am Beipiel des
Holocausts. Die Autoren behaupten, daß die Erinnerung an den Holocaust im
globalen Zeitalter zu einem Maßstab für humanistische und universalistische
Identifikationen wird. Die Fallstudien untersuchen die politischen Kulturen
Deutschlands, Israels und der USA.
Levy und Sznaider betreten damit Neuland im breiten Forschungsfeld der
Erinnerungsforschung, die mittlerweile zu einem "Modethema" wurde. Seit
mittlerweile über 10 Jahren herrscht in den einzelnen Disziplinen großes
Interesse an Gedächtnis und Erinnerung. Nicht nur die kulturelle Revolution
durch die Nutzung neuer Medien der externen Speicherung sind als Grund
anzuführen. Vor allem aber das Zuendekommen einer Generation von Zeitzeugen ist
für das erwachte Interesse verantwortlich. Kollektive Erinnerung wird dann
aktiv, wenn die lebendige Erinnerung auslöscht.
Kollektives Gedächtnis wurde bisher ausschließlich im Rahmen des Naionalstaates
untersucht. Levy und Sznaider zeigen aber, daß die Erinnerung an den Holocaust
aus der nationalen Verortung herausgebrochen und zu einer kosmopolitsch-globalen
Erinnerung wurde. Dabei spricht kollektive Erinnerung gegen globale Kultur, da
das Gedächtnis von Gruppen und Nationen an feste Räume und Zeiten gebunden ist.
Die Autoren argumentieren, daß sich die Sicherheiten, die durch das Konzept des
kollektiven Gedächtnisses entstehen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts auflösen und
neu zusammensetzen, wodurch neue kulturelle Horizonte entstehen, die aus den
alten hervorgegangen sind.
Die Tatsache, daß der Holocaust in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der
Öffentlichkeit immer wichtiger und präsenter wurde, liegt nicht allein am
Ereignis allein, das zweifelsohne eine Besonderheit des 20. Jahrhunderts
verkörpert. Die globale Relevanz des Holocausts liegt für Sznaider und Levy
vielmehr in seiner Eigenschaft als Nahstelle zwischen Erster und Zweiter
Moderne: "In einer Zeit der Ungewißheit haben grundsätzliche Fragen nach "Gut
und Böse" an Bedeutung gewonnen. Dies macht u.a. die zeitgenössische Zentralität
der Holocausterinnerung verständlich und die vielen Metaphern, die mit ihr
einhergehen. Der Holocaust (bzw. seine Assoziation mit dem Genozid) ist in
vielen westlichen Staaten zum moralischen Maßstab der Unterscheidung zwischen
gut und böse geworden, ein Maßstab, an welchem humanistische und
universalistische Ansprüche gemessen werden."
Trotzdem bleibt die Erinnerung an den Holocaust gleichzeitig innerhalb des
nationalen Rahmens formbar. Globale Kultur und lokale Erinnerung vermischen
sich, wodurch der immer größer werdende Unterschied zwischen nationaler
Vergangenheit und globaler Zukunft überbrückt wird. Das kosmopolitische
Gedächtnis geht zwar über das nationale hinaus, löst es jedoch keineswegs ab. In
Anlehnung an Roland Robertson sprechen die Autoren in diesem Sinne von
"Glokalisierung", also einem dialektischen Verhältnis zwischen Globalem und
Lokalen, aus der eine hybride Form der Indentifizierung hervorgeht. Am globalen
kulturellen Horizont kann die eigene lokale Existenz bestimmt werden.
Der Holocaust eignet sich für die Untersuchung von Levy und Schneider besonders,
da er eine universale Bedrohung verkörpert. Nicht alleine die Frage nach Schuld,
nach Gut und Böse wird berührt: "Vielmehr steht die Zivilisation, die Moderne,
das Selbstverständnis Europas und Amerikas und damit fast des gesamten Globus
auf dem Spiel." Die Autoren behaupten weiterhin, daß sich die Rolle der Juden
als "Andere", als "Fremde" im Zuge der Globalisierung wesentlich geändert hat.
Durch eine grundsätzlich positive Umwertung des Kosmopolitismus in der Zweiten
Moderne habe sich auch das Bild der Juden heändert, die einerseits schon immer
als Kosmopoliten gesehen wurden und deren Kultur andererseits durch die
Diaspora-Situation immer mit anderen Kulturen vermischt war. Durch diese
positive Neubewertung könnten sich auch andere Opfergruppen mit dem Holocaust
identifizieren und ihn in ihr Gedächtnis integrieren.
Die Fallstudien zeigen in allen drei Ländern ähnliche Entwicklung, dabei vor
allem ein stark zunehmendes Interesse am Holocaust in den letzten 20 Jahren,
wobei die Gründe dafür unterschiedlich sind und mit der jeweiligen Geschichte
des Landes zusammenhängen. Die Autoren gliedern ihre Forschung in vier Phasen
der Erinnerung: das Nachkriegsjahrzehnt, die 60er und 70er Jahre, die 80er Jahre
mit einem regelrechtem "Boom" der Erinnerung und schließlich Universalisierung
und Kosmopolisierung in den 90er Jahren.
Die Nachkriegszeit ist dabei am unterschiedlichsten. In Deutschland ist ein
gravierender Kontrast zwischen dem, was man unmittelbar nach dem Krieg
tatsächlich wußte und der öffentlichen Wahrnehmung, festzustellem. Bilder vom
Holocaust produzierten damals nicht dieselbe Bedeutung für ihre Betrachter wie
heute: "Dafür mußte erst ein diskursiver und erinnerungspolitischer Rahmen
hergestellt werden, in welchem der Holocaust als "einzigartig" empfunden und
verstanden werden konnte." Die Erinnerung wurde zunächst im privaten Rahmen,
hauptsächlich von Überlebenden getragen. Durch das Nicht-Erwähnen des Holocausts
im öffentlichen Diskurs sollte das angeschlagene deutsche Nationalbewußtsein
erneut positiv besetzt werden. Die Autoren vertreten die These, daß die
Abwesenheit des Holocausts im öffentlichen Diskurs eine wichtige Voraussetzung
für die Demokratisierung Deutschlands war, nur so hätte die Normalisierung
vollzogen werden können. Sie betonen jedoch ausdrücklich, daß damit keine
moralische Wertung verbunden ist.
In Israel war das Verhältnis zum Holocaust lange Zeit sehr gespalten. Einerseits
wurde er zu einer negativen Legitimierung des Staates, der eine Wiederholung
verhindern könnte, andererseits verstand sich der junge Staat natürlich auch als
rechtlicher und moralischer Nachfolger der Opfer. Durch die zionistische
Ideologie, die ein wehrhaftes Judentum propagierte, wurden vor allem die
"Märtyrer" geehrt, die im aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus
starben. In den USA dominierte zunächst die Rolle der Retter-Nation, die aus dem
Holocaust universale Perspektiven zog: Zivilcourage und Antirassismus als Lehren
des Holocaust, nicht Zuschauen, sondern aktives Handeln bewirkt Gutes. Der
Wendepunkt in Israel und den USA kam mit dem Eichmann-Prozeß von 1961. Für die
USA bedeutet die Zäsur den Beginn einer jüdisch-ethnischen Politik, in Israel
wurde der Holocaust schließlich vollständig vereinnahmt. Die jüdischen Opfer
wurden damit ins Zentrum der Erinnerung gerückt.
An den Veränderungen der 60er und 70er Jahre wirketen vor allem drei Gründe: der
Generationenwechsel vollzog den Übergang vom sozialen zum historischen
Gedächtnis, die wissenschaftliche Aufarbeitung des Holocausts veränderte sich,
die Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust Ende der 70er Jahre. Die Nutzung der
Massenmedien führte dazu, daß zunehmend von "Amerikanisierung" des Holocausts
gesprochen wurde. einer zunehmenden "Amerikanisierung". Diese Entwicklung
sollten jedoch keineswegs negativ beurteilt werden, da der Holocaust durch
Nutzung von Fernsehen und Kino besser "konsumierbar" wird und sich in Folge
dessen mehr Menschen damit auseinandersetzen.
Nach einem erneuten Wendepunkt 1989 wurde die Darstellung und die Erinnerung an
den Holocaust im Zuge der "Amerikanisierung" zunehmend kosmopolisiert. Die Juden
rücken als Opfergruppe wieder in den Hintergrund, wie man beispielsweise bei
Spielbergs "Schindlers Liste" sehen kann. Wichtig sind nur noch die Kategorien
Böser, Retter und Überlebender.
Überall außerhalb der USA gab es empörte Kritik gegen die Darstellung des
Holocaust in einem Spielfilm, der natürlich die Geschichte vereinfacht, mit
emotionalen Stilmitteln verknüpft darstellt. Die Tatsache, daß der Film auch in
Israel ein gewisser Erfolg in den Kinos war, zeigt für die Autoren, daß globale
und nationale Faktoren der Erinnerung gleichzeitig und nebeneinander bestehen
können.
Als weiteres Beispiel für die kosmopolitische Wahrnehmung des Holocausts führen
Levy und Sznaider ausführlich die politischen Debatten im Zusammenhang mit dem
Bosnien-Krieg an. Elie Wiesel forderte in diesem Zusammenhang: "Als Jude sage
ich, daß wir etwas tun müssen, um das Blutvergießen in diesem Land zu beenden."
Und auch Bill Clinton berief sich auf den Holocaust in der Forderung nach einer
Intervention: "Wenn die Erinnerung von Holocaust-Überlebenden uns nicht dazu
bewegt, auf Leiden und Verfolgung in unserer Zeit zu reagieren, welchen Zweck
hat dann überhaupt Erinnerung?" Noch deutlicher wurden die Aussprüche dann
während der Kosovo-Krise 1998/99. Die "Lehren des Holocausts", der Schutz der
Menschenrechte und die Verhinderung von Völkermord, wurden erstmals von
politischer Instanz als Hauptkriegsgrund aufgeführt.
Die aus dieser letzten Entwicklung entstehende Frage, ob in Zukunft die
partikularistische jüdische Erfahrung oder aber eine universalistische Lehre der
Menschenrechte in den Vordergrund der Erinnerung gestellt werden sollte, lassen
die Autoren offen. Beide Positionen schließen sich nicht gegenseitig aus, so
Levy und Sznaider. Vielmehr sei genau das ein Merkmal der Erinnerung in der
Zweiten Moderne: "Sie bedient sich selbstbewußt der Erinnerung an die
Vergangenheit, um neue Erinnerungen für die Zukunft zu gestalten. Während die
Erinnerungen im letzten Jahrhundert zumeist aus dem nationalen Kontext kamen,
sind die Erinnerungen zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts das Produkt von
nationalen und globalen Geschichten mit starken Individualisierungstendenzen."
aue / haGalil
onLine 11-03-2002 |