Yehuda Bauer,
Die dunkle
Seite der
Geschichte.
Die Shoah in
historischer
Sicht.
Interpretation
und Re-Inter-pretationen.
Jüdischer
Verlag
im Suhrkamp
Verlag,
Frankfurt/Main
2001
Euro 32,80
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"Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir weder
Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle
Bindungen aber gehen sie uns etwas an. Wir wissen von ihnen. Sie sind
Akteure unseres Bewusstseins. Auf einer inneren Bühne sind sie anwesend,
lassen sich nicht verscheuchen." (1)
Soweit die klugen Worte von György Konrád. Überdies scheinen die
Protagonisten mit ungebrochener Vehemenz an das Licht zu drängen, denn
anders lässt es sich nicht erklären, aus welchem Grunde weltweit Monat
für Monat neue Publikationen, Filme, Dramen usw. mit Bezügen zur Shoah
erscheinen. (S.10) Kann und darf dies als ein Indiz dafür gelten, dass
es sich bei dem Genozid an den Juden um einen Völkermord besonderer und
beispielloser Art handelte? Yehuda Bauers Antwort ist eindeutig, so
unterstreicht er bereits in der Einleitung die Singularität der Shoah.
(S.10) Der damit einhergehenden Frage nach dem "Warum" widmet sich der
Autor zunächst im theoretischen Untersuchungsteil, der annähernd 150
Seiten umfasst. Dies beinhaltet eine pointierte Darstellung und Analyse
der Theorien von Baumann, Herf, Aly, Goldhagen, Weiss und Friedländer.
Dem schließen sich Ausführungen über die diversen Ausformungen des
jüdischen Widerstands, die theologische Wertung der Shoah und die
"Auschwitz-Protokolle" an. Abschließend erweitert der Verfasser den
Betrachtungsrahmen. Am Ende des Buches steht sowohl die Konstituierung
des Staates Israel vor dem Hintergrund der Shoah als auch die Ansprache
des Autors vor dem deutschen Bundestag am 27. Januar 1998 im
Mittelpunkt. Die Publikation besticht durch eine wohltuende
Nüchternheit. Dank einer hervorragenden Übersetzung bewegt sich die
Studie auf einem hohen sprachlichen Niveau.
Yehuda Bauers Werk ist keine bloße Widergabe des momentanen
Forschungsstandes. Vielmehr besticht insbesondere eine These, die es
lohnt näher betrachtet zu werden. Der Autor vertritt die Auffassung,
dass die Einzigartigkeit der Shoah auch daraus resultiere, dass Hitler
eine Gruppe von Menschen, die man als Pseudo-Intellektuelle bezeichnen
könnte, beeinflusst habe. Sie seien in sozialer, psychologischer und
politischer Weise bereit gewesen, ein mörderisches und radikales
Programm zu vertreten. (S.53) In Anlehnung an Karl Marx Ausführungen
über den entwurzelten, unorganisierten, arbeitslosen, deklassierten Teil
der Arbeiterklasse, dass sogenannte "Lumpenproletariat", bezeichnet sie
der Verfasser als "Lumpenintellektuelle". (S.53) Ihre Mitglieder seien
häufig arbeitslos gewesen und hätten der bürgerlichen Gesellschaft
Ablehnung entgegengebracht. Der verlorene Krieg, die in Auflösung
begriffen scheinende Gesellschaft und die damit einhergehende
persönliche Verbitterung sowie die Suche nach einem Schuldigen sei ein
Charakteristikum dieser Gruppierung gewesen (S.53). In dieser
Ausgangssituation scheint ein Völkermord dann möglich zu sein, "wenn
eine intellektuelle oder pseudo-intellektuelle Elite, die, explizit oder
implizit, ein genozidales Programm verfolgt, in einer
krisengeschüttelten Gesellschaft aus wirtschaftlichen, sozialen und
politischen Gründen an die Macht gelangt - aus Gründen also, die nichts
mit dem Völkermordprogramm zu tun haben - und es ihr gleichzeitig
gelingt, die Schicht der Intellektuellen auf ihre Seite zu ziehen." (S.
136) Diese intellektuelle Schicht bestünde aus den gesellschaftlichen
Gruppen der Oberschicht, also aus Wehrmachtsoffizieren, Beamten,
Industriellen, Ärzten und Rechtsanwälten und vor allen Dingen
Universitätsprofessoren. (S.136) Vor allem der letzten Gruppe käme eine
besondere Bedeutung zu, da sie allen anderen das notwendige ideologische
Instrumentarium zu Verfügung stelle. Mit Unterstützung dieser Eliten
entstünde somit ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der für die
breite Bevölkerung die Rechtfertigung dafür liefere, am
Völkermordprogramm teilzunehmen. (S.136)
Diese Überlegungen sind angesichts der prägnanten und griffigen
Formulierung "Lumpenintellektuelle" überaus einprägsam. Gleichwohl ist
Vorsicht angebracht. Die Elite der NSDAP bestand aus etwa hundert
Personen, in denen Yehuda Bauer die Entwicklung der mörderischen
Tendenzen verortet. (S.53) Zu dieser Gruppe zählt er u.a. Goebbels,
Darré, Himmler, Bormann, Rosenberg, Streicher, Frick, Thierack, Frank,
Heydrich und Hitler selbst. (S.53) Die Liste lässt sich leicht um die
Minister und führenden Parteifunktionäre Göring, Seldte, von Ribbentrop,
Schwerin von Krosigk, Gürtner, Speer, Muhs, Heß, Funk, Ley und von
Neurath - um nur einige zu nennen - erweitern. Waren diese Individuen
"Lumpenintellektuelle"? Was beinhaltet der Begriff? Sollte ein
abgeschlossenes Studium an einer Hochschule oder Universität das
Ausschlusskriterium darstellen, so muß man konstatieren, dass sich
innerhalb der vorab genannten Gruppe von 22 Personen lediglich fünf
Nichtakademiker befanden: Bormann, Heydrich, von Ribbentrop, Göring und
Hitler. Als "verkrachte Existenzen" können nur Bormann und Hitler
gelten. Heydrich war bis 1931 Berufssoldat, von Ribbentrop leitete die
Sekt-Firma Henkell und Göring hatte, wenn auch ohne Studienabschluss, so
doch als letzter Kommandant des Geschwaders Richthofen, durchaus das
"Format", um sich auf dem gesellschaftlichen Parkett zu bewegen. Alle
anderen besaßen einen Hochschulabschluss, wobei die Juristen in der
Mehrzahl waren, acht Personen waren promoviert (2). Yehuda Bauers These
ist somit im Hinblick auf diese Gruppe nicht haltbar, legt man den
akademischen Werdegang zugrunde. Die Überlegungen des Autors würden sich
gleichwohl als richtig erweisen, wenn man die Begrifflichkeit in
"lumpenhaft" denkende Intellektuelle umdeutet. Aber dann wäre der
Vergleich mit Marx verfehlt. Vielmehr umgab sich Hitler zu einem sehr
frühen Zeitpunkt mit Personen, die man aufgrund ihrer Schul- und
Hochschulausbildung nach damaligen und heutigen Maßstäben eindeutig als
Akademiker bezeichnen kann (3). Dieser Faktor schien Hitler missfallen
zu haben, denn die NSDAP sollte eine Volkspartei sein, worunter er eine
Partei verstand, die "nicht nur aus intellektuellen Führern, sondern
auch aus Handarbeitern bestand." (4) Es mag zwar sein, dass sich im
NSDAP-Gefüge durchaus "Lumpenintellektuelle" aufgehalten haben, aber
diesen dürfte der Zutritt zu der "begehrten Intellektuellenschicht"
erschwert worden sein. In diesen Kreisen wären Pseudo-Intellektuelle nur
unangenehm aufgefallen und hätten den Ambitionen der Partei geschadet.
Vorbehaltlos zuzustimmen ist Yehuda Bauer, wenn er folgert, dass es ohne
die enthusiastische Unterstützung der Intellektuellen weder zum Krieg
noch zur Shoah gekommen wäre. (S. 55) Die Ursache dafür, ist nicht
zuletzt an den Universitäten zu suchen, die bereits Jahrzehnte vor der
nationalsozialistischen Machtergreifung zu "Brutstätten extremistischer
rechter Ideen" geworden waren. (S. 55) Hierfür ist die Biographie von
Rudolf Heß ein aussagekräftiger Beleg. Nachdem er wie Hitler zur
Festungshaft verurteilt worden war, gelang es dem studierten Volkswirt,
nach vorzeitiger Haftentlassung eine Assistentenstelle an der
Universität München zu erhalten (5). Die Vorstrafe erwies sich nicht als
Hindernis.
In den zwanziger Jahren gewann der Nationalsozialismus für die
Akademiker an Attraktivität. Insbesondere Lehrer- und
Studentenvereinigungen gehörten zu den ersten, die der Partei beitraten.
(S. 55) Dass Konglomerat von rasseideologischen, antiliberalistischen
und revanchistischen Positionen entfaltete offenbar gerade auf
Akademiker eine überaus anziehende Wirkung. (S. 55,56,58) Davon zeugen
auch die Äußerungen von Karl Larenz, einem der bekanntesten
Rechtslehrer, dessen steile Karriere unmittelbar nach der
Machtergreifung begann. So grübelte er, als einer der ambitioniertesten
Mitglieder der Kieler "Stoßtrupp-Fakultät", in einem Interview mit Bernd
Rüthers darüber nach, ob er ein Nazi war: "War ich ein Nazi? – War ich
überzeugt von den fürchterlichen Sachen, die ich nach 1934 geschrieben
habe? – Ich weiß es selbst nicht. Ich hätte ab 1934 schweigen sollen,
das wäre klüger gewesen. Aber ich wollte aktiv sein." (6) Dieser
Tatendrang ergriff nicht nur die angehenden Professoren, sondern auch
die gesellschaftlich hochgeachtete deutsche Richterschaft. Die
Wechselwirkung zwischen nationalsozialistischer Ideologie und deren
Auswirkung auf die Rechtsprechung zeigte sich alsbald in der Auflösung
der deutsch- jüdischen Mischehen. Die Grundlage für die
Neuinterpretation bot hierbei, wie einem einschlägigen Artikel eines
Gerichtsassessors aus dem Jahre 1933 zu entnehmen ist, Rosenbergs Buch
"Mythus des 20. Jahrhunderts" (7). Rosenberg, den Yehuda Bauer in
Anlehnung an Browning zu den "wahren Gläubigen" zählt, (S. 53) war
bereits 1920 in die NSDAP eingetreten und war Verfasser zahlreicher
antisemitischer Hetzschriften. Nunmehr wurden passagenlange wörtliche
Zitate aus Rosenbergs Pamphlet zur Grundlage einer neuen
Rechtsauslegung, deren "überragende wissenschaftliche Bedeutung" (8)
klar erkennbar sei. Die Ausführungen des studierten Ingenieurs und
Architekten Rosenberg überzeugten. Sätze wie: "Ehen zwischen Deutschen
und Juden sind zu verbieten, Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und
Juden ist je nach der Schwere des Falles mit Vermögensbeschlagnahme,
Ausweisung, Zuchthaus und Tod zu bestrafen" (9) waren zwar 1933 noch
contra legem, sie eröffneten aber Perspektiven. Genauer: Sie erlaubten
es zum einen "aktiv tätig" zu werden und juristisches Neuland zu
betreten und zum anderen eine seit Jahrhunderten ungeliebte, wenn nicht
verhasste Minderheit, zu entrechten. So ist es nicht weiter
verwunderlich, dass die Zahl der Urteile bezüglich der deutsch-jüdischen
Mischehen sprunghaft anstieg, wobei bereits in einer der ersten
Urteilbegründungen aus dem Jahre 1933 das gesamte Spektrum der
nationalsozialistischen Ideologie durchexerziert wurde (10). Die
Rechtswidrigkeit dieser gerichtlichen Entscheidungen war ihren
Verfassern bewusst, denn der Ehescheidung stand § 1589 BGB entgegen.
Demzufolge musste ein Verschulden vorliegen, also etwa Ehebruch. So
folgert dann auch - normlogisch völlig korrekt - besagter
Gerichtsassessor: "Dass ein Ehegatte Jude ist, bildet aber niemals ein
Verschulden. Denn die Juden werden nicht aus Gründen der Moral, sondern
aus rassehygienischen Gründen in Deutschland unter Fremdenrecht
gestellt." (11) Dieses Hindernis ließ sich jedoch mit einer kunstvollen
juristischen Auslegung umgehen. Fortab galt die jüdische Herkunft als
"Eigenschaft" im Sinne von § 1333 BGB. Zum Zeitpunkt der Eheschließung
hatte sich der "arische" Ehegatte schlicht im Irrtum über die Tragweite
seiner Entscheidung befunden. Folglich konnte, wie bei einem
Kaufvertrag, die Ehe angefochten und aufgelöst werden. Eine derartige
juristische Finesse ging aber selbst Freisler, damals Staatssekretär im
Preußischen Justizministerium, zu weit. In einer der renommiertesten und
auflagenstärksten juristischen Fachzeitschrift jener Tage mahnte er
bereits Mitte des Jahres 1933 die Richter zur "Selbstbeschränkung" (12).
Deutlich wird: Zum einen war die NSDAP-Parteielite und ihre Schriften
nicht auf intellektuell niedrigstem Niveau anzusiedeln, vielmehr wusste
die Nomenklatura genau, wen man wodurch ansprechen wollte. Das konnte
aber nur geschehen, indem man selber eine akademische Ausbildung
genossen hatte und sich somit auf "Augenhöhe" begegnen konnte. Zum
zweiten bot der Antisemitismus eine Agitationsplattform
unterschiedlichster Art. Für die Elitejuristen an den Fakultäten bot
sich die Möglichkeit, eine völlig neue Methodik im Sinne der
"Volksgemeinschaft" zu konstruieren. Ein Teil der, ohnehin
handverlesenen Richterschaft, folgte unverzüglich der
nationalsozialistischen Ideologie. In jedem Fall wusste man genau, was
man tat. Bereits jeder Jurastudent hätte in der Lage gewesen sein
müssen, Rosenbergs "Rattenfängertaktik" zu durchschauen. Freilich, man
hat es nicht gewollt. Zu verlockend schien offenbar das juristische
Neuland zu sein, das es im Sinne der Volksgemeinschaft zu erobern galt.
"Mitmachen" und "aktiv" sein im Sinne von Karl Larenz hieß aber auch,
die immanenten Grenzen zu kennen und gerade die Intellektuelle dürften
nur zu gut gewusst haben, wann sie den Rubikon überschritten und somit
erpressbar wurden. Diese Vorgehensweise blieb, drittens, nicht ohne
Wirkung auf die Bevölkerung. Wenn die in der Öffentlichkeit
hochangesehene Berufsgruppe der Richter Ehen auflösen konnten, weil ein
Ehepartner dem jüdischen Glauben angehörte (und nicht etwa Ehebruch
begangen hatte), dann sprach das für sich, dann wird das schon "Recht
gewesen sein."
Yehuda Bauers These erweist sich im Hinblick auf die Richter- und
Professorenschaft als tragfähig. Hinsichtlich der Parteielite ist
freilich Vorsicht angebracht, sie bestand bei weitem nicht nur aus
Pseudo- bzw. "Lumpenintellektuellen". Vor diesem Hintergrund erfüllt
sich auch die Prämisse, die das gesamte Buch durchzieht, nämlich die
konsequente Negierung von "Mystifikationstendenzen" der Shoah. Vielmehr
wurde die rechtliche Ausgrenzung und der Massenmord aus Gründen
begangen, die in der Geschichte liegen, also einer rationalen Analyse
zugänglich sind (S.25). Der Klärung der Frage warum sich ausgerechnet
die Deutschen, und allen voran die intellektuelle Führungsschicht, die
Juden als bevorzugtes Opfer auserkor, hat Yehuda Bauer einen innovativen
Aspekt verliehen. Angesichts dessen ist zu vermuten, dass die
beschwerliche Reise zur dunklen Seite der Geschichte noch lange nicht zu
Ende ist. Anmerkungen:
(1) György Konrád: "Spuren, nicht nur Rauch und
Asche". Rede zur Holocaustausstellung im Berliner Historischen Museum am
16.01.2002, abgedruckt in:
http://www.zeit.de (Rubrik "Reden"), am 24.01.2002.
(2) Frick, Thierack, Frank, Muhs, Funk und von Neurath führten den Titel
"Dr. jur.". Goebbels hatte philosophisch und Ley naturwissenschaftlich
(Chemie) promoviert.
(3) Am "Hitler-Putsch" beteiligten sich u.a. bereits: Heß, Himmler,
Frick und Frank. Frank avancierte später zu Hitlers Verteidiger.
(4) Hitler, Adolf: Mein Kampf, S. 514 zitiert nach Pätzold, Kurt/Manfred
Weißbecker: Geschichte der NSDAP 1920-1945, Köln 1998, S. 55.
(5) Vgl.
http://www.dhm.de/lemo/html/
biografien/HessRudolf.
(6) Cordes, Albrecht: War ich ein Nazi? Ich weiß es selbst nicht, in:
Süddeutsche Zeitung 27.12.2001.
(7) Wöhrmann, in: Juristische Wochenschrift (JW) 1933, S. 2041.
(8) Wöhrmann (FN. 7).
(9) Rosenberg, Alfred: "Mythus des 20. Jahrhunderts", 1. Auflage, 3.
Buch IV 3, S. 545 zitiert nach: Wöhrmann (FN. 7).
(10) Lesenswert in diesem Kontext: Das Urteil des Landgerichts Köln und
des Berliner Kammergerichts, in: Deutsches Recht (DR), S. 818 f.
(11) Wöhrmann (FN. 7).
(12) Freisler, Roland: Recht, Richter und Gesetz, in: DJ (Deutsche
Justiz) 1933, S. 694 |