Margit Reiter:
Die Generation danach
Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis
StudienVerlag Innsbruck 2006
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Die Generation danach:
Der Nationalsozialismus im österreichischen
Familiengedächtnis
Rezension von Karl Pfeifer
Das von der Zeithistorikerin Margit Reiter vorgelegte
Buch ist eine Pionierarbeit, die auf lebensgeschichtlichen Interviews
gründet, die sie mit Kindern von Tätern durchführte. Sie hat das Ergebnis
einer mehrjährigen wissenschaftlicher Untersuchung (Habilitation) für ein
breites interessiertes Publikum lesbar gemacht. Reiter beleuchtet feinfühlig
und kritisch ein für die meisten Leser unbekanntes Milieu.
"Vom Schweigen und Erzählen / Der Nationalsozialismus im
Familiengedächtnis" ist vielleicht eines der spannendsten Kapitel, dieser
Fundgrube österreichischer Realität. Sie schreibt u.a.: "Die
Nachkriegsgeschichte Österreichs liefert viele Beispiele für das
Weiterbestehen eines alten und neuen Antisemitismus in der österreichischen
Politik, Kultur und Gesellschaft. Dabei hat sich gezeigt, dass das normative
'Antisemitismus-Verbot' in Österreich nicht in jenem Maße 'internalisiert'
wurde wie vergleichsweise in Deutschland und das es in dieser Frage kaum
Diskrepanzen zwischen den politischen und kommunikativen Eliten und der
breiten Bevölkerung gegeben hat. Antisemitisch eingefärbte stereotype
Vorstellungen von 'den Juden' sind offenbar tief in das 'kollektive
Unbewusste' der österreichischen Gesellschaft eingesickert. [...]
Antisemitismus gehörte – neben Antikommunismus und/oder Antiamerikanismus –
offenbar zum fixen ideologischen Repertoire der familiären Kommunikation in
österreichischen Nachkriegsfamilien."
Treffsicher bemerkt Reiter nach einer Interviewpassage und
Aufreihung von in diesen Kreisen gebrauchten antisemitischen Bemerkungen,
von der "jüdischen Weltpresse", der "Verjudung Amerikas" oder von den
mächtigen und einflussreichen "Juden in Amerika": "Auch wenn die Zahl der
Juden und Jüdinnen im Nachkriegsösterreich aufgrund der unmittelbar
vorausgegangenen Vertreibung und Vernichtung überaus gering war, mangelte es
den AntisemitInnen offenbar nicht an potenziellen Objekten ihrer Abneigung.
Insofern ist die These eines 'Antisemitismus ohne Juden' nur bedingt
richtig. Vielmehr ist zu beobachten, dass gerade AntisemitInnen mit fast
zwanghafter Akribie überall, sei es in Politik und Kultur oder im
beruflichen und persönlichen Umfeld Juden ausfindig machen bzw. bestimmte
Personen als 'jüdisch' imaginieren, selbst wenn sie nicht jüdischer Herkunft
sind."
Abschließend bemerkt Reiter, "dass der Antisemitismus in
den Nachkriegsfamilien sehr präsent war und niemand grundsätzlich vom
Antisemitismus auszuschließen war, weder die Väter, Großväter oder Onkel,
noch die Mütter oder Großmütter – Antisemitismus wirkte unabhängig vom
Alter, Milieu und vom Geschlecht. [...] Und das heißt zum anderen, dass im
Erinnerungsmilieu der 'Ehemaligen' der Antisemitismus zwar wesentlich
offener und direkter kommuniziert wurde, dass aber auch in vielen
'durchschnittlichen' österreichischen Nachkriegsfamilien antisemitische
Ressentiments und Äußerungen zum fixen Bestandteil des Familiengedächtnisses
gehören."
Margit Reiter konnte eine gewisse Diskrepanz zwischen dem
großen öffentlichen Interessen (bei Vorträgen, in den Medien usw.) und dem
wesentlich geringeren Interesse von Seiten der Wissenschafts- und
Förderungspolitik an ihrer Arbeit beobachten. Sie hat trotzdem ein
interessantes, lesenswertes Buch veröffentlicht, das einem Teil einer
österreichischen Generation den Spiegel vor das Gesicht hält. Sie kann
wirklich nichts dafür, wenn das Bild nicht so ist, wie man sich das in einer
Gesellschaft wünscht, die Jahrzehnte sich und anderen vorgaukelte "das erste
Opfer" zu sein.
hagalil.com
02-11-06 |