Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht:
Der Fall Österreich
Rezension von Karl Pfeifer
Österreich hat NS-Täter bestraft. Österreich hat
NS-Täter zum Teil nicht verfolgt und die meisten laufen lassen. Beide
Behauptungen stimmen, wie das im von Thomas Albrich, Winfried Garscha und
Martin F. Polaschek herausgegebenen Sammelband "Holocaust und
Kriegsverbrechen vor Gericht / Der Fall Österreich" gezeigt wird.
Der vorliegende Band ist Ergebnis einer Kooperation von
drei Forschungsgruppen aus Wien/Linz, Graz und Innsbruck. Winfried R.
Garscha und Claudia Kuretsidis-Haider haben die Einführung geschrieben. Sie
bestätigen sowohl der Justiz als auch den Beamten der Sicherheitsverwaltung
gute Arbeit.
Doch in zahlreichen Fällen, in denen österreichische
Tatbeteiligte ermittelt worden waren, kam es nicht zu einer Anklage. "Die
Hauptursache dieser Mängel lag in der ungenügenden personellen Ausstattung
der mit NS-Straftaten befassten Einrichtungen der Justizverwaltung.
Verantwortlich hierfür waren die politischen Entscheidungsträger. Für diese
stellt die Ahndung der von österreichischen Tätern begangenen NS-Verbrechen
meist nur dann ein vordringliches Anliegen dar, wenn dies aus
außenpolitischen Gründen opportun erschien." Die konsequente Verfolgung
österreichischer Täter hätte ja die Lebenslüge der Zweiten Republik
zerstört.
Thomas Albrich und Michael Guggenberger schildern die
strafrechtliche Verfolgung der Täter des Novemberpogroms
("Reichskristallnacht") in Österreich. Sie stellen klipp und klar fest:
"Auch Teile der Bevölkerung waren aktiv an Ausschreitungen, Misshandlungen
und Plünderungen beteiligt... Trotz der von Goebbels am 10. November [1938]
nachmittags angeordneten Beendigung der "Aktionen" konnten die
Ausschreitungen [in der Ostmark] nicht gestoppt werden, sie klangen erst im
Lauf des 15. November aus." Den Wert der von Österreichern geraubten Güter
und Wertgegenstände kennt man nicht. "Die offiziell beschlagnahmten und
sichergestellten Wertgegenstände und Güter schätzte der Gauleiter auf 25
Millionen RM, [Ostmark] Reichsstatthalter Josef Bürckel bezeichnete den
Pogrom zu Recht als "den Tag und die Nacht der langen Finger."" Gerhard Botz
geht von 1000 Personen aus, die an der Zerstörung von 49 Bethäusern und
Synagogen in Wien beteiligt waren. Deswegen wurden in Österreich alle die
daran beteiligt waren entweder überhaupt nicht verfolgt oder freigesprochen.
Simon Wiesenthal s.A. hat 1963 einige signierte
"Tätigkeitsberichte" über Synagogenanzündungen vorgelegt, worin z.T. die
Täter genannt werden: "Wo sind die Täter, die so schöne Berichte an die
Gauleitungen geschrieben haben? Mit wenigen Ausnahmen haben sie den Krieg
überlebt [...] Sturmbannführer Köberl lebt als Vertreter in Wien, Kowarik
lebt in Wien. Trittner lebt in Baden, Ungar lebt in Wien und auch die vielen
anderen, die in den Berichten namentlich genannt sind, erfreuen sich der
Freiheit." Fazit: "Über 90 Prozent der mutmaßlichen Pogromtäter mussten sich
nie vor österreichischen Gerichten verantworten."
Martin Achrainer und Peter Ebner befassen sich mit der
Strafverfolgung der "Euthanasie"-Verbrechen. Hier ging es immerhin um
Mitglieder der deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft, die von den
Machthabern als "unwertes Leben" eingestuft wurden. In 13 mit Urteil
abgeschlossenen Verfahren verhängten die Volksgerichte fünf Todesurteile und
Freiheitsstrafen von einmal 20 Jahren, zweimal 15 Jahren, einmal zwölf
Jahren, siebenmal zehn Jahren, zweimal acht und fünfzehnmal zwischen zwei
und fünfeinhalb Jahren. Damit bildeten die "Euthanasie"-Verfahren einen
deutlichen Schwerpunkt der österreichischen Volksgerichtsbarkeit.
Eva Holpfer und Sabine Loitfellner, haben sich an ein
unerforschtes Thema angenähert: "Holocaustprozesse wegen Massenerschießungen
und Verbrechen in Lagern im Osten vor österreichischen
Geschworenengerichten".
Die sozialistische Alleinregierung nach 1970 hatte die
Verfolgung aller NS-Straftaten eingestellt. Das wurde offiziell nie
bekanntgegeben. "Inoffiziell erklärte Justizminister Broda seine Haltung mit
den negativen Auswirkungen der Geschworenenfreisprüche im Ausland sowie mit
dem großen zeitlichen Abstand..." Dieser hat die Justiz der BRD nicht
gestört, die Verfolgung fortzusetzen. In Österreich lag die
Hauptverantwortung dafür bei SPÖ-Politikern. Sie wollten nicht viele
"national" gesinnte Wähler verlieren. Deswegen haben sie die Chance nicht
wahrgenommen, mit Gerichtsverfahren gegen Naziverbrecher die historische
Erinnerung an die österreichische Tätergeschichte wach zu halten.
Gabriele Pöschl erklärt die Verbrechen in
nationalsozialistischen Ghettos aus juristischer Sicht. Sie schildert im
Detail den skandalösen Prozess gegen Franz Murer, Gebietskommissar der Stadt
Wilna, der wegen seiner Tätigkeit von 1947 bis 1955 in der Sowjetunion
inhaftiert war. Acht Jahre nach seiner Rückkehr wurde er in Österreich
angeklagt. Bis dahin lebte er als Obmann der Bezirksbauernkammer und
ÖVP-Funktionär unbehelligt. Täter die unter seiner Führung fürchterliche
Verbrechen begangen haben, wurden in der BRD bestraft, doch in Österreich
wurde Murer freigesprochen. Mehrfache Beschimpfungen der jüdischen Zeugen
durch den Verteidiger wurden vom Vorsitzenden ebenso wie die Verhöhnung der
Zeugen durch die Söhne Murers toleriert. Mit einer Ausnahme wurden diese
Verbrechen in östlichen Ghettos von der Justiz des "ersten Opfers" nicht
bestraft.
Eva Holpfer berichtet über die Ahndung von
Deportationsverbrechen in Österreich. Auch sie hebt hervor, dass jüdische
Kollaborateure, die selbst Opfer gewesen sind und zur Zusammenarbeit mit den
Nazi gezwungen waren, streng bestraft wurden. Mit den Mitgliedern der
Volksgemeinschaft ging man milder um. Zum Beispiel mit Franz Novak, der eine
führende Rolle bei der Deportation europäischer Juden gespielt hatte. Am 13.
April 1972 wurde er rechtskräftig zu sieben Jahren schweren Kerker
verurteilt. Am 18. Oktober 1974 wurde Novak von Bundespräsident Rudolf
Kirchschläger amnestiert. Die Prozesse gegen Novak und Erich Rajakowitsch
kamen nur aufgrund außenpolitischen Drucks zustande.
Sabine Loitfellner erklärt weshalb die Auschwitz-Verfahren
in Österreich scheiterten. Man muss die Details des Prozesses 1972 gegen
zwei Österreicher lesen, die nicht nur die Gaskammern und Krematorien
planten, sondern auch für die katastrophalen Lebensbedingungen der Häftlinge
verantwortlich waren, und die freigesprochen wurden, um die Heuchelei des
damaligen offiziellen Antifaschismus zu sehen. Die beiden Prozesse wurden
mit Ausnahme von Neonazis und Holocaustleugnern, die etwa den Freispruch
gegen Dejaco und Ertl dazu benützten, um ihre Mantra zu verbreiten, "in
keiner Weise weder von öffentlichen Geschichtsbildern noch von Kunst oder
Literatur (wie etwa in der BRD bezüglich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses
geschah) rezipiert.
Peter Eigelsberger schildert im Kapitel über Mauthausen,
dass 42 Personen wegen Tötungsverbrechen im KZ Mauthausen und seinen
Außenlagern abgeurteilt wurden. Das verhängte Strafmaß reichte vom
Todesurteil bis zu zehn Monaten Haft. "Besonders harte Urteile sprach das
Volksgericht Linz gegen ehemalige Häftlinge aus. SS-Aufseher, deren
Verfahren (mit einer Ausnahme) alle vor dem Volksgericht Wien geführt worden
waren kamen in der Regel glimpflicher davon. Während der siebziger Jahre kam
es zu zwei Prozessen. Beide wurden gegen Johann Vinzenz Gogl geführt und
endeten jeweils mit einem Freispruch.
Heimo Halbrainer zeigt in einem detaillierten Bericht auf,
dass die Volksgerichtsverfahren wegen Denunziation mit Todesfolge sowohl was
Rechtssprechung als auch die Strafbemessung betrifft – sehr unterschiedlich
geführt worden sind.
Winfried R. Garscha befasst sich mit Prozessen wegen
Verletzung des Kriegsvölkerrechts, z.B. ein Prozess wegen der Ermordung von
rund hundert rumänischen Kriegsgefangenen am 6. April 1945 in Wien.
Lediglich drei Wochen später behaupteten die Gründer der Zweiten Republik,
Die Reichsregierung hätte "das macht- und willenlos gemachte Volk
Österreichs, in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt
[...], den kein Österreicher gewollt hat". Immerhin haben doch nicht wenige
Österreicher bis zum letzten Moment Verbrechen begangen, doch die Urteile
waren mild.
Garscha berichtet auch über den skandalösen Fall von
Robert Jan Verbelen, der in Belgien zum Tode verurteilt, im von der SPÖ
regierten Wien 1959 eingebürgert und 1965 freigesprochen wurde. Sein
Gerichtsakt ging zwar verloren, doch konnte der Autor das Verfahren
rekonstruieren. "Die in breiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung
noch 25 Jahre nach Kriegsende anzutreffende Überzeugung, dass im Kampf gegen
Partisanen "alles erlaubt" sei, führte zu einstimmigen Freisprüchen selbst
dort, die Angeklagten ihre Taten zugaben." Es gab auch krasse Fehlurteile.
Die Autoren haben als seriöse Historiker ganze Arbeit
geleistet. Tatsächlich hat die österreichische Justiz nach 1945 im großen
und ganzen sich intensiv mit den Verbrechen der Holocaust-Täter und
Kriegsverbrechen auseinandergesetzt, doch das ist nur eine Seite.
Susanne Uslu-Pauer schildert die Verfolgung von
Endphaseverbrechen am Beispiel der Todesmärsche. Insgesamt kam es bei den
Volksgerichten zu 173 Verurteilungen und 87 Freisprüchen. Hingegen kam es ab
1955 bei den Geschworenengerichten wegen dieser Art der vor dem
"Zusammenbruch" begangenen Verbrechen lediglich zu einer Verurteilung und
vier Freisprüchen.
Österreicher begingen also noch Verbrechen, als es schon
dem Dümmsten klar hätte sein müssen, dass der Krieg "sinn – und
aussichtslos" ist.
Martin F. Polaschek und Bernhard Sehl beschreiben die
Wirkung des Obersten Gerichtshof, der Urteile der österreichischen
Volksgerichte überprüfte, welche in vieler Hinsicht mehr von der
öffentlichen Meinung als vom einschlägigen Gesetz geleitet wurden.
Claudia Kuretsidis-Haider vergleicht die Judikatur
österreichischer und bundesdeutscher Gerichte. Deutschland kommt besser weg,
obwohl auch dort nicht alles optimal ablief. Doch dort änderten die großen
Prozesse das Bewusstsein der Bevölkerung, während in Österreich 1976 nach
einer Umfrage des SPÖ-nahen IFES-Instituts 83% der Befragten weitere
Prozesse wegen Kriegsverbrechen und der Schoa ablehnten.
Die Abschaffung der Volksgerichtsbarkeit im Dezember 1955
bedeutete praktisch das Ende des gesetzgeberischen Engagements gegen die
nationalsozialistische Makrokriminalität. Die NS-Amnestie 1957 bewirkte
schließlich nicht nur die Einstellung einer ganzen Reihe von noch offenen
Verfahren, sondern darüber hinaus die Verstärkung der bereits in den Jahren
zuvor feststellbaren Tendenz zur Bagatellisierung der NS-Verbrechen. Noch
während die Volksgerichte weiterhin Täter verurteilten, setzten sich
Politiker ab Anfang der 1950er Jahre für die Amnestierung verurteilter
Mörder ein.
Zusammenfassend kann festgestellt werden: Knapp nach der
Befreiung Österreichs durch die Alliierten 1945 bestand in Österreich
politischer Wille, die Täter zu bestrafen, doch gab es objektive Ursachen,
welche oft genug die Durchführung hinderten, nach 1955 gab es keine
objektiven Gründe, die eine konsequente Bestrafung der Täter hätten hindern
können, doch es fehlte der politische Wille. Im Buch wird nachgewiesen, dass
die Volksgerichte 13.607 Schuldsprüche fällten, darunter 43 Todesurteile und
29 lebenslängliche Freiheitsstrafen. 30 Todesurteile wurden vollstreckt,
zwei Verurteilte begingen vor der Vollstreckung Selbstmord.
Die SPÖ-Alleinregierung stoppte überhaupt jede Verfolgung.
Dieses wichtige Buch macht klar, weshalb Bruno Kreisky unprovoziert und ohne
äußere Not Simon Wiesenthal angriff.
Vielleicht hatten die zügellosen Angriffe des
"Sonnenkönigs" gegen Israel, dass er als "semifaschistisch"
charakterisierte, gerade mit der Tatsache zu tun, dass Österreich
gleichzeitig Mörder mit viel Judenblut an den Händen nicht bestrafte oder
frühzeitig amnestierte.
hagalil.com
03-07-06 |