Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik:
"Österreichertum und Barbarei absolut unvereinbar"?
Eine Rezension von Karl Pfeifer
Bis auf den englischsprachigen Titel gefällt mir
alles an diesem 213 Seiten umfassenden Buch. Der Titel könnte gerade die
jungen Leser abschrecken, für die dieses Buch in erster Linie gedacht
ist. Das Buch enthält 23 Texte von 21 Autoren. Alle setzen sich kritisch
mit der Zweiten Republik auseinander, insbesondere finden wir darin
radikale – im Sinne von an der Wurzel packen – Reaktionen auf das
blau-schwarz eingefärbte "Gedankenjahr" 2005.
Marlene Streeruwitz beschreibt die provinzielle Enge
meiner Geburtsstadt Baden bei Wien, in der mancher Bürger noch heute mit
Zorn reagiert, wenn man daran erinnert, was da in den Tagen und Wochen
nach dem "Anschluss" geschehen ist.
Burghart Schmidt fragt ob man die Republik
Österreich 2 in Frühpension schicken kann, mit vollem Recht beanstandet
er u.a. dass die Presse, "heute als Star und Leit-Kommentatoren
solche wie Mölzer, Strache, Stadler heraushängt."
Geistreich und witzig der Beitrag Öberdösis ÖÖÖ
von Tina Leisch. Sie zitiert eine Aussendung des österreichischen
Staatsarchivs, die wider Erwarten keine Parodie war.
Und sie bringt ein Zitat von Leopold Figl, das man
meiner Meinung nach, als Ausdruck österreichischen Geistes in Stein meißeln
und direkt neben dem Republikdenkmal am Albertinaplatz platzieren sollte.
"Der Hitlerwahnsinn mit seinem barbarischen Totalitätsanspruch musste an
dieser österreichischen Wesenheit scheitern, denn Österreichertum und
Barbarei sind absolut unvereinbar. Ernste und ehrliche Forscher haben im
Preußentum wesentliche Elemente rassischer Durchsetzung mit mongolischen
Elementen festgestellt" (zitiert nach Sylvia Köchl, "Das muß gefeiert
werden!" in MALMOE 23/2004)
Der folgende Vorschlag von Tina Leisch hat anscheinend
vorläufig keinerlei Chance von der Republik Österreich gefördert zu werden:
"Vielleicht sollte man die Genealogie der Kultur des Katzbuckelns und
Nörgelns, des Jasagens, der Obrigkeitshörigkeit und Konfliktscheu erforschen
und Trainingsprogramme dagegen entwerfen."
In seinem zweiten Beitrag setzt sich Ljubomir Bratic
mit den Ausstellungen "als Ort der Macht" auseinander. Er verweist auf
unverfrorenen Geschichtsrevisionismus, der in offiziellen Ausstellungen zum
Ausdruck kommt.
Martin Wassermair kritisiert die 2005 stattgefundene
Ausstellung Das neue Österreich.
Wolfgang Neugebauer erklärte dazu "Eine
Jubelausstellung, die einseitig nur die Erfolgsstory der Zweiten Republik
beinhaltet, kann von mir nicht mitgetragen werden, die Thematisierung der
Schattenseiten der positiven Entwicklung Österreichs halte ich für
unverzichtbar."
Peter Weiser, der diese Ausstellung mitgestaltete
"versuchte vom strengen Urteil des Historikers [Neugebauer] abzulenken"
indem er einen haarstäubenden "Versuch der persönlichen und institutionellen
Diskreditierung, der nicht nur jeder Grundlage entbehrte" lancierte.
Gedenkkultur, Jänner 2006 von Marlene
Streeruwitz und Das Recht der Erinnerung. Geschichtsrevisionismus
und Vergangenheitsverleugnung im Jubeljahr von Doron Rabinovici sollten
Pflichtlektüre für Mittelschüler werden und werden es vielleicht noch
einmal.
Auch alle anderen hier nicht aufgeführten Artikel sind
lesenswert und informativ.
Wer so wie ich, das dumpfe Österreich der 50er Jahre
erlebte, der kann beim Lesen dieses Buches den Unterschied ermessen. Ein
aufgeklärtes weltoffenes Österreich als Gegenmodell zur Zweiten Republik,
die noch so viel Elemente der Volksgemeinschaft perpetuiert(e), scheint
möglich. Zu befürchten ist aber, dass man noch lange darauf wird
warten müssen.
hagalil.com
01-07-07 |