Zacharias Zweig (posthum) und Stefan Jerzy Zweig:
Tränen allein genügen nicht
mit einem Nachwort von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek
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Willi Bleicher
Zacharias Zweig
Stefan Jerzy Zweig
Der "Junge von Buchenwald"
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Eine Biographie und ein wenig mehr:
Tränen allein genügen nicht
Als erstes Kleinkind durchschritt Stefan an der Hand
des Vaters das Lagertor und als Letzter verließ er mit ihm Buchenwald. Die
besonderen Umstände, die zur Befreiung des KZ Buchenwald und seiner
Häftlinge geführt hatten, machten Buchenwald wie kaum ein anderes Lager zum
Mittelpunkt der unzähligen Nachkriegsanalysen, 1946 begonnen von Eugen Kogon
und bis heute andauernd.
Insbesondere die Rettung von fast 1000 jüdischen Kinder
und Jugendlichen, die dank der außerordentlichen Aufopferung der politischen
Häftlinge Buchenwalds vor der Vernichtung bewahrt wurden, ist unauslöschlich
in die Geschichte eingegangen. Die gerettete, aber verwaiste Jugend von
Buchenwald, blieb auch nach der Befreiung längere Zeit, sei es in der
Schweiz oder in Frankreich zusammen, bevor sie sich auf alle Kontinente
zerstreuten und ein neues Leben begonnen hat.
Hier, ist nur ein Beispiel von all den vielen Schicksalen aufgezeichnet, das
sich von all den anderen im Verlauf seines Lebensweges unterscheidet. Stefan
J. Zweig wurde mit seiner Geschichte als das Buchenwald-Kind bekannt.
Erstmals meldet sich hier "der Junge von Buchenwald" in eigener Sache zu
Wort – am Buchanfang mit der Dokumentation seines Vaters, Dr. Zacharias
Zweig – im weiteren Verlauf in Schrift, Bildern, Zeichnungen, Grafiken,
Collagen und Fotomontagen.
Nachwort von Elfriede Jelinek
Ich fange an. Ich höre auf. Ich habe noch nicht einmal
angefangen. Ich habe noch nicht einmal aufgehört. Es ist nichts zu sagen in
einem Nachwort zu einem Buch, in dem schon alles gesagt ist. Man kann
versuchen, etwas zu sagen, aber die leeren Stellen, von denen dieses Buch
handelt, das ursprünglich im Selbstverlag herauskommen musste, (weil es
keinen Verleger gefunden hat, der nicht selbst das Wort hätte führen
wollen), sind nicht leer, sie sind mit Menschen vollgeschrieben, die nicht
sein durften, weil sie nicht mehr sein durften, auch nicht weniger, sondern
gar nicht.
Der Autor, Stefan Jerzy Zweig, Sohn des Dr. Zacharias
Zweig, vor der Nazi-Okkupation Rechtsanwalt in Polen, Ehemann einer
ermordeten Ehefrau, Vater einer ermordeten Tochter und eines Sohnes, hat
dieses Buch geschrieben, weil er es schreiben musste um sich immer wieder
selbst zu vergewissern (und um sie zu ehren), dass es diese Menschen einmal
wirklich gegeben hat (er hat sie in einem Stammbaum der mütterlichen und
väterlichen Linie aufgelistet, noch einmal, denn auf Listen sind sie alle
gestanden, und er hat aufgeführt, wie viele und welche davon es jetzt nicht
mehr gibt, weil sie umgebracht worden sind, im Stammbaum stehen sie noch,
aber sie sind gleichzeitig ausradiert).
Im Grunde kann man über dieses Buch hinaus nichts mehr
sagen, auch zu dem Buch nichts und nach dem Buch schon gar nichts. George
Tabori, auch ein Überlebender, hat einmal darauf hingewiesen, dass im
Deutschen der berühmte letzte Satz Hamlets: the rest is silence immer falsch
übersetzt werde. Es heißt nicht, der Rest sei Schweigen, sondern: der Rest
ist Stille. Aber der Rest ist, inmitten zahlloser Gedenkfeiern und der
vielen Worte, die dabei, nein, nicht verloren, auch nicht gefunden,
verstreut werden, und danach zerstreuen sich die Menschen wieder über der
ausgestreuten Asche, nein, das kann man alles nicht sagen, man kann nichts
sagen, das ist mir bewusst, aber der Rest ist also eine Stille, die im
Ausstreichen von Namen, eines bestimmten Namens aus einer Liste besteht. Und
später im Ausstreichen eines Namens aus dem kollektiven Gedächtnis, das sehr
ungebildet ist oder jedenfalls kaum gebildet, in der Entfernung einer
Gedenktafel vor der ehemaligen Effektenkammer der Gedenkstätte Buchenwald.
Ich lese den ergreifend sachlichen, ruhigen, distanzierten
Bericht des Vaters, des polnischen Rechtsanwalts Dr. Zacharias Zweig, und
ich verstehe ihn nicht, obwohl man einfacher als er gar nicht schreiben
könnte, in einer Art Objektsprache der zur Auslöschung Bestimmten, einer
Sprache, die um nichts mehr kämpft, weil das schreibende Subjekt zu nichts
weniger als der Ausrottung bestimmt war, und wer es geschafft hat zu
überleben, der schuldet dem System der Ausrottung demnach immer noch ein (1)
Stück Leben, ein Stück unter Millionen. Damit Stille ist, müssen Schulden
bezahlt werden. Das Schweigen dieser Millionen Vernichteten ist ein
Schweigen, das an sich halten muss, auch wenn es in diesen Feiern immer
wieder vor uns hingeschüttet wird, es ist letztlich ein verschlossenes
Schweigen, dem wir ausgesetzt werden, weil wir den Andrang all des Seins,
das vernichtet wurde, nicht standhalten könnten. Daher die Leere des
Schweigens, und bald wird es nicht einmal mehr eine Aufgeschlossenheit dafür
geben, die zeigen könnte, warum dieses Schweigen gleichzeitig da ist und
nicht da, eben ein blinder Fleck, auch wenn der noch so viele
Verlautbarungen eines Niemals Wieder hervorbringen mag. Und darin treiben
Untote ihr Unwesen.
Vielleicht ist Stefan Jerzy Zweig so ein Untoter, weil er
sein Leben noch schuldet. Er hat es noch nicht hergegeben. Das
Buchenwald-Kind, wie er genannt wird, schuldet sein Leben, heute noch. Ja,
mit uns können Sie rechnen, mit uns können Sie aufrechnen, mit uns können
Sie alles niederrechnen, ja, auch hochrechnen, von mir aus, aber es kommt
immer dabei heraus, dass Stefan Jerzy Zweig eigentlich tot sein müsste, dass
ihnen einer (und mit ihm sein Vater) ausgekommen ist, entkommen. Mehr bzw.
weniger als das. So schreibt der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich in
seinem Roman "Anders", dass für dieses dreieinhalbjährige Kind ein andrer
tot ist, ein 16-jähriger Sinti sei für das Kind, also: an Stelle des Kindes,
gestorben.
Dieses Buchenwald-Kind, der Bub, der mit drei Jahren
dorthin gekommen ist, unter unfassbaren Umständen ruhiggestellt, versteckt,
geschützt von den "roten Capos", den "Politischen", ist ein blinder Fleck
unter zahllosen andren blinden Flecken, und er ist seinen Tod also immer
noch schuldig geblieben. Der Vater schuldet ihn natürlich auch, den Tod,
jeder, der der Totalität seinen Tod entreißen konnte, bleibt ihn in
Wirklichkeit schuldig, denn das Wort führen die Täter, auch nach der Tat,
und sie führen es fürsorglich; der Vater also, der zwecks Zuerkennung seiner
kleinen Entschädigung nach der Befreiung nachweisen muss, dass er zum
"deutschen Sprach- und Kulturkreis" dazugezählt werden kann, und das tut,
indem er Goethe und Schiller in deutscher Sprache referiert (schließlich
liegt Buchenwald bei Weimar!), aber ein Zurechnungs-Prüfer, nein, nicht
Gott, ein besonders zurechnungsfähiger Prüfer wie von Kafka erdacht, ist der
Meinung, dies reiche als Beweis dieser Zugehörigkeit nicht aus, weil dieses
Wissen bei "jedem jüdischen Intellektuellen vorausgesetzt werden könne", der
Vater also durfte als eine Art Illegaler des Lebens, noch ein wenig
weitermachen, zuerst in Frankreich, dann in Israel.
Ausradiert aus dem Kreis der Kultur bleibt, was einmal
gelöscht war, es hat dann das Recht über sich selbst verloren. Der Nachweis,
dass man immer noch lebt, weil man auch vor dem Tod einmal gelebt hat und
nach dem Tod weiterlebt, diesen Nachweis führt die Sprache im Mund, und sie
ist zugänglich. Sie ist unzugänglich. Dieses Buch ist so vollgeschrieben,
mit einer solchen Entschlossenheit des Sprechens (und gleichzeitig der
Verschwiegenheit, denn es wird diesem streng die Wahrheit Sprechen des
Vaters Zweig nichts hinzugefügt, keine dichterischen Schnörkel, keine
beschönigenden oder das Grauen verstärkenden Floskeln), dass der Eindruck
entstehen muss, die Sprache wäre mit dem Wesen des, jedes Menschen irgendwie
verschmolzen, sie gehörte zum Menschen, der zu entscheiden hat, ob er die
Wahrheit sagen will oder nicht, aber das kann nicht sein: Hannah Arendt
weist darauf hin, dass "je entschlossener der Berichterstatter in die Welt
der Lebenden zurückgekehrt ist, desto stärker wird ihn selbst der Zweifel an
seiner eigenen Wahrhaftigkeit ergreifen, als verwechsle er einen Alptraum
mit der Wirklichkeit".
Das ist hier, in diesem Buch, nicht so. Es ist anders. Sie
können das nachlesen, wieso es anders ist. Ich kann es Ihnen nicht erklären.
Es ist vielleicht deshalb anders als die Aussagen derjenigen, die selber
nicht glauben können, was sie erlebt haben, es ist vielleicht deshalb
anders, weil der Sohn Stefan J. seinen Tod eben noch schuldig ist, wie man
ihm nachträglich gesagt hat. Etwas schuldig zu bleiben, heißt, schuldig zu
sein. Her mit dem Leben! Nicht Geld oder Leben – nur das Leben, das genügt
schon. Es ist die Gedenktafel mit dem Namen des dreieinhalbjährigen
jüdischen Kindes aus der Gedenkstätte Buchenwald entfernt worden, es ist mit
ihr auch der Name entfernt worden (für einen Juden das Schlimmste, eine
neuerliche Löschung seines Lebens) und durch eine allgemein gehaltene
Inschrift ohne Namen ersetzt worden, weil die Identifikation des Einzelnen
(und damit das Leben selbst, das immer das Leben von Einzelnen ist) nicht
erlaubt werden kann. Das Wort haben die Nachgeborenen, und sie können
beliebig steuern, wie es gewesen zu sein hat: Es hat doch schon Anne Frank
mit ihrem Tagebuch viel zuviel Staub aufgewirbelt, wir können im neuen
Deutschland nicht dulden, dass es da rote Capos (Kommunisten, Sozialisten
aller Richtungen und Schattierungen, der Widerstandskämpfer Robert Siewert
und der Nachkriegs-Gewerkschaftsführer Willi Bleicher sollen für sie alle
stehen) gibt, die Menschen gerettet haben.
Namenloser Staub ist dazu da, über namenlose Felder
ausgestreut zu werden, aus hochaktiven Schornsteinen, er ist nicht dazu da,
die Figuren von Menschen nachzubilden, die ausgespart, gerettet wurden. Auge
um Auge. Jude um Sinti und Rom. Es muss alles seine Ordnung haben, und es
wird ausgerechnet und wieder abgerechnet. Es macht der Schriftsteller H. J.
Schädlich seine Rechnung mit dem realen Sozialismus, indem er ausrechnet,
dass Stefan J. Zweig einen Tod schuldet, und zwar den eigenen, und dafür hat
er einen fremden Tod genommen, will Schädlich uns also sagen. Damit die
Rechnung aufgeht und die Menschen endlich abgehen, die ohnedies keinem
abgehen. Und Hans Joachim Schädlich bricht jetzt also mit seinem Sprechen
das Schweigen, mit dem er einen andren bricht, dem er auf seinem
Rechnungszettel nachweist, dass es für ihn einen andren nicht gibt, dass er
gefälligst selber tot zu sein hat, er kann keinen anderen schicken, er muss
schon selber kommen und wieder gehen. Das wird einem damals knapp
vierjährigen Kind gesagt, das danach, als Erwachsener, überhaupt keine
Erinnerung an diese Zeit mehr hatte. Schädlich gibt ihm freundlicherweise
diese Erinnerung, denn er weiß es natürlich. Er war ja nicht dabei, und
daher war er erst recht dabei. Er hat die Übersicht. Er hat sie aus Listen
gewonnen. Diese Absurdität fügt sich in die Erfahrung, dass wirklich alles
möglich ist, auch das Unmögliche.
In der Totalität der Vernichtung im KZ ist es buchstäblich
egal, ob die Insassen zufällig am Leben bleiben oder nicht, sie sind, wie
Hannah Arendt sagt, von der Welt der Lebenden wirksamer abgeschnitten, als
wenn sie gestorben wären, weil der Terror Vergessen erzwingt. Der Mord
geschieht ganz ohne Ansehen der Person, er kommt dem Zerdrücken einer Mücke
gleich. Aber der Autor H. J. Schädlich rechnet mit Personen, indem er sie
gegeneinander aufrechnet, und er kann dabei mit mehr Aufmerksamkeit rechnen
als die im Schatten Gebliebenen oder Schatten Gewordenen (was die SS im
Lager letztlich ja auch getan hat, die Rechnung musste stimmen, Ordnung muss
sein. Jedem das Seine, wie es über dem Lagerportal geschrieben stand. Wenn
zuwenig Lagerinsassen da sind, müssen halt ein paar mehr am Leben gelassen
werden, ist das Lager überfüllt, müssen auch mehr umgebracht werden).
Rechnen, rechnen, rechnen. Das Ergebnis ist ein Zustand, in dem Tod wie
Leben gleich wirksam verhindert werden.
Es ist alles in diesem Buch aufgeschrieben. Ich kann
nichts weiter dazu sagen, ich kann es nicht fassen, nicht umreißen, nicht
einkreisen, ich kann nur sagen, dass man das lesen soll. Zwei Opfer sprechen
hier selbst. Das versteht sich nicht von selbst, das heißt, das Schweigen
übers Knie brechen. Das spricht noch nicht für sich. Sie müssen es selber
tun, weil es kein andrer tut. Das Sprechen erklärt sich nicht durch das
Sprechen. Noch ein andrer hat für sie gesprochen, Bruno Apitz mit seinem
verfilmten Weltbestseller "Nackt unter Wölfen", ohne mit den Menschen ein
einziges Mal gesprochen zu haben, die seine Protagonisten sind (der
Einfachheit halber lässt er den Vater Zweig gleich auch sterben, obwohl er
doch überlebt hat!
Ein symbolischer Tod, es kommt nicht mehr drauf an, einer
mehr oder weniger... die Sprache bricht das Schweigen so wie beim Knobeln
das Papier den Stein einschließt und gewinnt oder die Schere das Papier
schneidet), so wird der Romancier aus der inzwischen untergegangenen DDR,
indem er das Schweigen bricht (während doch die wahren Beteiligten bereits
gesprochen haben, aber die ergreifende Beschreibung von Dr. Zweig wurde nur
in einer winzigen Auflage gedruckt, gekürzt, zensiert, die außerdem längst
verschollen ist), zu einem Zellenschließer, und er schließt immer nur zu,
nicht auf, denn seine "Wahrheit" ist in Wirklichkeit ein Verschleiern der
Wahrheit, indem er misst, wofür er kein Maß hat (auch Bruno Apitz, der Autor
von "Nackt unter Wölfen" war zwar selbst in Buchenwald, hat aber die Zweigs
dort nie getroffen. Er hat aber mit ihnen sehr viel Geld verdient, wie der
kleine Ministerialbeamte Dr. Zweig in seinem Substandardzimmerchen in Israel
noch erfährt), indem er dem Andrang der Wahrheit, von soviel Wahrheit,
tapfer standhält, nichts leichter als das. Wenn so viele sterben, warum
sollte die Wahrheit da nicht auch sterben, dieses arme verhungerte kleine
Kerlchen?
Und die Grundfrage: Wenn einer etwas schreibt, in welchem
Zusammenhang steht dann seine Sprache mit dem, was sie beschreiben will? Sie
schulden also ihr Leben, und der Sohn Stefan Jerzy spricht für den Vater
mit, der in Israel als kleiner Beamter im Finanzministerium in seinem
winzigen Zimmer haust, an dessen Fenster noch Zeitungspapierreste von der
letzten Kriegsverdunkelung kleben (wenn der Sohn zu Besuch kommt, wird eine
Matratze dazugelegt, dann ist die Wohnung aber wirklich voll bis zum Rand),
jetzt ist nur er noch da, und er spricht mit dem Vater, den er in seinem
Buch auch selber sprechen lässt, aber die beiden sprechen Klartext, wie man
so schön sagt. Das Wesen der Sprache kann ein Unwesen sein. Aber Stefan J.
Zweig bleibt der Sprache im Wort und damit dem, was gewesen ist. Stefan J.
Zweig – ein wütender Mann, ein Marsyas, der sich selbst die Haut abzieht,
nein, dem es die Haut abzieht (Stefan J. Zweig leidet an schwerer
Schuppenflechte und muss immer wieder ans Tote Meer fahren, um im wahrsten
Sinn des Wortes "seine Haut zu retten", wie er es ausdrückt), so wie es
unsereinem "die Schuhe auszieht" vor Zorn über die Vielfältigkeit all der
Worte, die von ihm und seinem Vater handeln, aber nur mit sich selbst Handel
treiben, um sich an jeden zu verkaufen, der sie haben will.
Dieses Buch hier hat keinen Verleger, aber es ist um kein
Wort verlegen, aber nicht, weil es geschwätzig wäre, bloßes Gerede, sondern
weil es dem geschwätzigen Schweigen des Ausradierens, des Aufrechnens, des
deutschen Buchhalterwesens mit bloßen Händen und abgezogener Haut entrissen
worden ist, die Belegzettel sind also aus dem riesigen Haufen herausgesucht
und geborgen worden. Indem es unaufhörlich spricht, das Buch, beweist es
ebenso unaufhörlich, dass es aus nichts andrem als dem Schweigen kommen
kann. Aus diesem Buch geht die Wahrheit hervor, und zwar aus etwas, das
bisher abwesend und verlogen war. Etwas andres als das Schweigen hätte
dieses Buch nie hergegeben. Das Schweigen hat dieses Buch herausgegeben,
kein Verleger hat es herausgegeben.
Und sein Reden ist, im Gegensatz zum Dichten eines Bruno
Apitz oder eines Hans Joachim Schädlich, ein SAGEN. Was sagt es, und was
sagt es uns (das ist wirklich nicht dasselbe, das Sagen und das jemandem
Sagen!)? Es sagt einfach Namen, Namen, Namen aus der Materialkammer, der
Effektenkammer des wenig effektvollen Nichts, des Weniger als Nichts (wenn
vorher etwas da war, was nachher nicht mehr da ist, dann ist weniger als
nichts da) Namen am Steilhang, am Abbruch des Schweigens, nicht zum Nutzen
von irgendetwas, zur Rechtfertigung für etwas, nicht zum Beweis, dass man
existiert, obwohl das nicht vorgesehen war, sondern um im Sagen hinter das
bloße Sprechen und Reden zu schauen.
Der Rest sind also Namen. Und diese Liste allein ist schon
zu lang, um sie hier aufzuführen. Stille Stille, kein Geräusch gemacht. Das
Geräusch machen schon andre, und es kommt von wo andersher. Wen wundert es
noch, dass die Wahrheit so selten gesagt wird? Fragt man nach der Wahrheit,
dann fragt man nach dem, WAS IST, und es sind zu viele verschwunden, als
dass es noch allzu viel Wahrheit geben könnte.
Wien, am 8. Mai 2005
© bei Elfriede Jelinek
hagalil.com
01-10-07 |