Michael Wildt:
Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung
Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939
Hamburger Edition 2007
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Auf Ausgrenzung basierend:
Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung
Eine Rezension von Karl Pfeifer
Michael Wildts Buch beschreibt nicht einfach die
"Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939" sondern
setzt diese in Bezug zur Volksgemeinschaft, die nicht von den
Nationalsozialisten erfunden wurde. Das erste Kapitel "Volksgemeinschaft
als politischer Begriff" ist ein hervorragende Schilderung, die nicht
nur aufzeigt, wie diese im Ersten Weltkrieg entstanden ist, sondern auch
das Verhältnis der Weimarer Parteien zur Volksgemeinschaft, die später
zur Ausgrenzung führte.
Manche Deutsche und viele Österreicher neigen dazu, den tief
eingewurzelten Antisemitismus zu leugnen und dieses Phänomen auf die
nationalsozialistische Periode zu reduzieren. Wildt dokumentiert im
zweiten Kapitel die "Antisemitische Gewalt in der Weimarer Republik"
aufgrund der in Moskau gelandeten Akten des Centralvereins deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), der während dieser Jahre die
antisemitische Hetze und die darauf folgenden Ausschreitungen
registrierte. Nicht nur Nationalsozialisten hetzten damals, auf einer
Massenversammlung von Bauern in Würzburg im April 1920 erklärte der
Führer der Bayerischen Volkspartei, dass die Bauern gern die geforderten
Kontingente an Lebensmittel liefern würden, aber zugleich fordern
würden, "daß die 80000 verlausten Ostjuden hinausgeworfen" würden. Der
Zeitungsartikel notierte: "Zurufe: Schlagt sie tot!"
Im Herbst 1923 wurde im Berliner Scheunenviertel ein regelrechter Pogrom
veranstaltet, nachdem man den Juden die Verantwortung für die
galoppierende Inflation unterschob. Mindestens ein Toter war zu
beklagen, etliche Menschen waren verletzt worden, zum Teil schwer. Der
Geschäftsführer des C.V. in Berlin wurde von einer Menge schwer
misshandelt. Ladenbesitzer im Scheunenviertel versuchten sich mit
Schildern wie "Christliche Geschäftsleute" vor Plünderungen zu schützen.
Auch anderswo kam es zu Pogromen, so in Beuthen (Oberschlesien), hier
wüteten im September 1923 Hunderte junge Männer in der Stadtmitte,
schlugen Menschen mit Knüppeln krankenhausreif. 20 Opfer erlitten
schwere Verletzungen. Die C.V. Zeitung berichtete, dass Rufe wie
"Schlagt die Juden tot" oder "Morgen ist Hitler da, dann kaufen wir
alles umsonst" laut wurden.
In einem Fall – in Ortelsburg – gelang es antisemitischen Agitatoren eine
Arbeiterdemonstration gegen die Teuerung antisemitisch zu drehen und zur
Gewalt aufzustacheln. "Dass in den Berichten immer wieder von Mengen die
Rede ist, die Geschäfte plünderten und sich an den Gewaltaktionen
beteiligten, verweist darauf, dass sich die Täter nicht nur auf klar
einzugrenzende, organisierte Gewalttrupps beschränkten, sondern um
diesen Kern herum Mittäter, Anfeuernde und Zuschauer einfanden, die den
Exzess unterstützten und sich nicht zuletzt auch durch die Plünderungen
bereicherten."
Statt eines Krisenbewusstseins gab es im Herbst 1923 im deutschen Judentum
vordergründig zunächst nur eine Bewusstseinskrise. Jacob Toury bemerkte,
immer noch wollte man in den C.V. Kreisen nicht sehen, dass sich die
Angriffe keineswegs allein gegen "Ostjuden" richteten, sondern gegen
"Juden" überhaupt, dass kein "Ostjudenpogrom", sondern ein "Judenpogrom"
stattgefunden hatte.
Hingegen warnte die zionistische Jüdische Rundschau davor, die
antisemitische Bewegung, weil in München der Hitler-Putsch gescheitert
sei, für erledigt zu halten. "Denn der Verstand, der die traurigen und
beschämenden Tatsachen erkennt, vermag wenig gegenüber entfesselten
Leidenschaften, den triebhaften Affekten, die nicht nach wahr und unwahr
fragen und nicht irre werden, selbst wenn Dinge geschehen, die die
Massen an der Urteilskraft bisher blind verehrter Führer zweifeln lehren
müssten. Zu tief hat sich der Antisemitismus in die Seelen eingefressen,
er ist eine Volkskrankheit geworden, gegen die apologetische
Argumentation wenig auszurichten vermag." Und Arnold Zweig analysierte
in derselben Ausgabe vom 20.11. 1923 hellsichtig, dass im Augenblick der
Aktion der Unterschied zwischen deutschen und Ostjuden, der innerhalb
des assimilierten deutschen Judentums so sorgsam und nicht selten
herablassend gezogen werde, zusammenbrechen würde. Sie, die deutschen
Juden, "werden nun nicht mehr, sollte man hoffen, bereit sein, die
Ostjuden preiszugeben, um selber auf der Seite der Gerechten zu stehen.
Sie werden nun hoffentlich wissen, daß wer die Unterscheidung mitmacht,
selbst vom Antisemitismus angesteckt ist, der wie jede Affekthandlung
ansteckend auf sie überzugreifen stets bereit ist."
Diese antisemitische, republikfeindliche Gewalt führte im Februar 1924 zu
einer sozialdemokratischen und demokratischen Reaktion, als das
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegründet wurde.
In den folgenden Kapiteln wird die jüdische Reaktion 1933 mit "Uns tun sie
ja nichts, wir sind doch Deutsche", der Boykott, die Menge als Akteur,
die "Rassenschande", das Dilemma der Gewaltpolitik, der Novemberpogrom
1938 detailliert geschildert.
Wildt zeigt auf, was von der angeblichen deutsch-jüdischen Symbiose
während der Weimarer Republik zu halten ist. Es ist nicht nur ein gut
geschriebenes gründlich recherchiertes Buch, sondern auch ein Beitrag zu
einer Debatte, die immer wieder wegen der Schutzbehauptung: "davon
hatten wir doch keine Ahnung" aufflammt.
Manchmal wird auf das enge Verhältnis von Juden und Nichtjuden in
deutschen Dörfern und Kleinstädten hingewiesen, der Autor zeigt auf,
dass gerade in solchen Ortschaften der Boykott gegen Juden nicht auf den
1. April 1933 beschränkt blieb und wie dauerhaft aggressiv und
gewalttätig gegen Juden aber auch gegen diejenigen vorgegangen wurde,
die Kontakte zu Juden hielten.
Wer nach der Machtübergabe an Hitler mittat, musste strafrechtliche
Ahndung nicht fürchten, im Gegenteil, die Gewalttäter konnten sich der
heimlichen wie offenen Komplizenschaft vieler anderer sicher sein. In
den Gewalttaten ließ sich die eigene Übermacht erfahren. Die Herstellung
der Volksgemeinschaft – die auf der Ausgrenzung, allen voran der Juden
basierte – bedeutete sowohl die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft
als auch Partizipation als rassistische Selbstermächtigung: Alle Gewalt
geht vom Volke aus.
hagalil.com
01-07-07 |