Rezension von Karl Pfeifer
Der Rezensent schämt sich, weil er ein oder mehrere Bücher, die ihm
zur Rezension zugesandt wurden, aus irgendeinem Grund immer wieder auf die
Seite geschoben hat. Das hat nichts mit der Qualität der Bücher zu tun,
sondern mit dem Thema, von dem die meisten Österreicher (und Deutsche)
nichts wissen wollen. Doch diese beiden Bücher, die ich hier bekannt mache,
verdienen insbesondere unter jungen Menschen weite Verbreitung zu finden.
Der Lehrer und Historiker Martin Krist hat sich nicht damit begnügt mit
elf seiner Schülerinnen eine Gedenktafel für jene 104 Schüler, die im April
1938 von der Schule in der Gymnasiumstraße in Wien vertrieben wurden,
errichten zu lassen, sondern er hat ihre Geschichte aufgezeichnet.
Schon der Titel dieses Buches ist treffend, denn jahrzehntelang machte
man in Österreich aus Vertreibung euphemistisch Emigration. Doch wer hier
gründlich beraubt wurde, um dann mit einem Köfferchen das Land zu verlassen,
der war kein Emigrant, sondern ein Vertriebener. Erich Hackl hat ein Vorwort
geschrieben, an dem nicht vorbeigegangen werden kann: "Dieses bescheidene,
jedenfalls überschaubare Projekt ist größer und sinnvoller als die großen,
ausgeklügelten Holocaust-Denkmäler, die der Sichtweise der Täter verhaftet
bleiben, weil sie die Ermordeten in der Anonymität belassen, in die sie von
den Mördern gestoßen wurden."
Drei Schülerinnen Gerda Heydemann, Ulli Kittelberger und Karoline
Schillinger die am Projekt mitgearbeitet haben, schrieben für den
Jahresbericht des BG 19: "So bot sich am Tag nach der Buchpräsentation bei
einem Heurigen in Sievering ein etwas ungewöhnliches Bild: Elf Jugendliche
machen Bekanntschaft mit Menschen, die zwei Generationen vor ihnen eine der
dunkelsten Zeiten in der Geschichte Österreichs miterlebt haben, sahen zum
ersten Mal die Gesichter der Personen, mit deren Lebenswegen sie sich
beschäftigt hatten und gewannen Respekt und Achtung vor der Art, wie sie mit
ihrem Schicksal umgehen. Sie alle haben aus der Situation, in die sie der
nationalsozialistische Rassenhaß gebracht hat, das Beste gemacht, die
meisten strahlen heute eine unglaubliche Lebensfreude aus, die Mut macht."
Herbert Kolmer, einen dieser Schüler, die damals aus dieser Schule
verjagt wurden, habe ich sehr bald nach meiner Rückkehr nach Österreich
kennengelernt. Aber erst viel später habe ich erfahren, wie er sich als
12jähriger Junge in England gefühlt hat, als er als letzter am Bahnhof blieb
und alle anderen Kinder schon abgeholt wurden. Es darf nicht vergessen
werden: zunächst gab es keinen Erfolg, sondern Traumata der Trennung von
Eltern, Verwandten und vertrauter Umgebung. Es gibt Vertriebene, die das
Glück hatten, in sichere Länder zu kommen, die den Verlust der
Bezugspersonen besser bewältigten und denen es gelungen ist, aus all dem
"das Beste" zu machen.
In Österreich liebt man es, sich damit zu begnügen und nicht die andere
Seite der Vertreibung zur Kenntnis zu nehmen. Doch die Kriegsereignisse, die
Trennung von den Eltern multiplizierten die Probleme vieler vertriebener
Kinder. Einige Psychoanalytiker haben die langfristige und sequentielle
Dimension von Trennungs- und Mehrfachbelastungen für jüdische Kinder
untersucht.
Letzte Monate in Wien
Martin Krist hat die Erinnerungen von Reinhold Eckfeld herausgegeben, der
knapp nach seiner Vertreibung aus Österreich in einem australischen
Internierungslager aufgezeichnet hatte, was er in Wien nach dem "Anschluß"
erlebte. Seine Aufzeichnungen beginnen am Tag des Novemberpogroms am 10.
November 1938 und enden am 26. August 1939, wenige Tage vor Kriegsbeginn in
Emmerich an der deutschen Grenzstation zu den Niederlanden. Trotz einer
bereits seit zwölf Tagen abgelaufenen "Steuerunbedenklichkeitserklärung"
konnte er noch ausreisen und aus den Niederlanden in Richtung Großbritannien
entkommen. Auch Eckfeld war einer der 104 im April 1938 aus dem BG 19
verjagten Schülern. Reinhold Eckfeld hat genau beobachtet, wie die
österreichischen Beamten die hilflos Ausgelieferten schikanierten bei der
Beschaffung der zur Ausreise notwendigen Dokumenten und Formularen.
Martin Krist schreibt in seinem Vorwort, dass "so gut wie alle Beamten,
alle Polizisten und SS-Männer, die diese Menschen quälten, Österreicher
waren, zeigt, wie brüchig der nach 1945 vom offiziellen Österreich lange
vertretenen Mythos von Österreich als erstem Opfer der
nationalsozialistischen Aggression ist bzw. war. Unter den ersten Opfern
waren wie der Bericht Reinhold Eckfelds eindrucksvoll belegt nicht "die"
Österreicher, sondern jüdische und als jüdisch geltende Österreicher. Der
“Anschluß” war in weiten Kreisen der Bevölkerung mit einer Mischung aus
Begeisterung und Erleichterung willkommen geheißen worden, da ihn viele als
das Ende einer schmerzhaften Identitätskrise betrachteten." Eckfeld hat
genau beobachtet. Wer wissen will, wie es wirklich war, der greife zu diesem
Taschenbuch.
Martin Krist: Vertreibungsschicksale / Jüdische Schüler eines Wiener
Gymnasiums 1939 und ihre Lebenswege
Turia + Kant Wien, 2. Auflage 2001, 206 Seiten, ISBN 3-85132-225-8
Reinhold Eckfeld: Letzte Monate in Wien / Aufzeichnungen aus dem
australischen Internierungslager 1940/41
Herausgegeben von Martin Krist, Turia + Kant Wien, 2002, 109 Seiten, ISBN
3-85132-312-2