[antisemitismus.net]
Voraussetzungen und Rahmenbedingungen:
Antisemitismus - Geschichte und Gegenwart
Von Karl Pfeifer
Der von Samuel
Salzborn herausgegebene Band beklagt eine relativ geringe öffentliche
Sensibilität für die Ideologie des Antisemitismus. "Antisemitisches
Denken scheint erst an dem Punkt als ernsthaftes gesellschaftliches Problem
wahrgenommen zu werden, an der es vom latenten zum manifesten, ja vor allem
gewaltförmigen Phänomen wird." Antisemitismus wird sowohl in Deutschland
als auch in Österreich verharmlost und in der Regel "nicht als genuiner
Angriff auf aufgeklärte, zivilisatorische und universelle
Gesellschaftsvorstellungen begriffen."
Die im nur 163 Seiten umfassenden Band gesammelten
Aufsätze gehen zurück auf eine Veranstaltungsreihe, die das Netzwerk für
politische Bildung, Kultur und Kommunikation im Sommersemester 2003 und im
Wintersemester 2003/2004 an der Universität Giessen durchgeführt hat. Die
Autoren sehen den Antisemitismus als dem Wahn des Antisemiten bzw. der
Antisemitin entsprungen, folglich als ein politisches und gesellschaftliches
Problem, sie analysieren prägnant seine historische Entwicklung, die
Wandlungen und Veränderungen antisemitischer Argumentationsfiguren. Dabei
beleuchten sie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Antisemitismus und
die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen, in denen antisemitische
Ideologie gesellschaftlich und politisch wirksam wird.
Gudrun Hentges - die bereits 1999 "Schattenseiten der
Aufklärung. Die Darstellung von Juden und "Wilden" in philosophischen
Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts" veröffentlichte - setzt sich mit
"Antijudaismus und Antisemitismus in der Philosophie von Kant, Fichte und
Hegel" auseinander. Der Ausflug in die deutsche Geistesgeschichte zeigte,
"dass in den Schriften des deutschen Idealismus die Grenzen der Gleichheit
recht eng gesteckt sind und in dieser Periode neue, der bürgerlichen
Gesellschaft angemessene, moderne Begründungsformen von Ungleichheit und
Ungleichwertigkeit entwickelt wurden."
Wolfgang Benz, Direktor des Zentrums für
Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, ist Autor
zahlreicher Bücher zum Thema. Hier beleuchtet er das Verhältnis von
Ideologie und Gewalt. Bezugnehmend auf einen Leserbrief, zeigt er wie man
heute in Deutschland (und in Österreich) versucht "zwischen harmlosen
Ressentiments gegen Juden – Zeitgeist, verbreitete Stimmung, von der
Minderheit selbst verursachte Vorbehalte – und gewalttätigem Antisemitismus
zu unterscheiden. Damit bleibt Antisemitismus als unmittelbare Vorstufe zum
Völkermord von alltäglicher Judenfeindschaft abgegrenzt. Das eine ist
verabscheuungswürdige Gewalt, das andere bleibt marginal und entschuldbar.
Offensichtlich soll das eine, die Ideologie der Judenfeindschaft, mit der
anderen, der gewaltsamen Manifestation nichts zu tun haben."
Werner Bergmann, Professor am Zentrum für
Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin, befasst sich
mit Antisemitismus in Deutschland von 1945 bis heute und kommt zum Schluss:
"Verglichen mit fremdenfeindlichen Einstellungen und Aktionen spielt
Antisemitismus in Deutschland eine deutlich geringere Rolle. Er ist
allerdings weiterhin zentraler Bestandteil des Neonazismus und
Rechtsextremismus, der mit dem Internet ein "ideales" Verbreitungsmedium
besitzt, das die Strafverfolgung sehr erschwert. Neu ist im deutschen und
europäischen Kontext, dass sich im Zusammenhang des andauernden
Nahostkonflikts über die Judenfeindschaft Verbindungen dieser rechtsextremen
Szene zu radikal-islamistischen Gruppierungen ergeben haben", für die
Zukunft wünscht er sich, dass die Analyse des Antisemitismus stärker als
bisher über die nationale Perspektive hinaus sich mit den internationalen
Entwicklungen befasst.
Gerhard Scheit, der u.a. Mitherausgeber von Jean Amérys
Werken ist hat in den letzten Jahren sich mit Antisemitismus in der Kultur
beschäftigt und dazu Bücher über Gustav Mahler und über die Dramaturgie des
Antisemitismus veröffentlicht. Sein Thema ist "Antisemitismus in der
deutschen Literatur nach 1945 von Rainer Werner Fassbinder zu Martin
Walser". Scheit der sich nicht mit Skandalisierung sondern mit Erklärung der
Phänomene befasst, bemerkt u.a. "...die Tatsache, dass einer Antisemit ist,
hat so unerklärlich zu bleiben, wie der Umstand, dass es das falsche Ganze
überhaupt gibt, das den Antisemitismus stets aufs Neue hervorbringt. So wie
sie im Innersten zusammengehören – der Antisemit und die Gesellschaft, die
ihn produziert –, darf ihnen keine Gelegenheit gegeben werden, sich
wechselseitig zu entlasten."
Charlotte Kohn, Künstlerin und Lehrbeauftragte an
verschiedenen Kunstschulen schreibt über "antisemitische Mütter und
antizionistische Töchter". Sie zeigt eine erschreckende Kontinuität bzw.
Gedankenlosigkeit auf und wirft der Frauenbewegung "ihre fragwürdigen
Opferansprüche, ihre unreflektierten Angleichungen an Geschichtsverzerrungen
und die Verwandlung des Antisemitismus in Antizionismus" vor. "Es ist für
eine jüdische Frau unmöglich, sich ohne Selbstverleugnung feministischen
Gruppierungen in Deutschland und Österreich anzuschließen."
Thomas Haury befasst sich in seinem Aufsatz "Von der
linker Kritik des Zionismus und antisemitischen Antizionismus von links" mit
einem von Linken gerne verdrängtem Sachverhalt, er weist nach dass hinter
der Kritik an Israel und dem Zionismus, "all zu oft ein latenter bis offen
sich artikulierender Antisemitismus – die Bandbreite reicht von Jürgen
Möllemann über "linke" und antiimperialistische Positionen bis hin zum
islamistischen Fundamentalismus" steht.
Dieser hoch aktuelle Band regt zum Denken und Nachlesen an
und ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte über Geschichte und Gegenwart des
Antisemitismus.
Antisemitismus
Geschichte und Gegenwart
Netzwerk für politische Bildung,
Kultur und Kommunikation e.V., Giessen,
ISBN 3-00-012714-3, Euro 10,00
Bestellen?
hagalil.com
21-03-04 |