
Günter Morsch (Hrsg.):
"Sachsenhausen-Liederbuch.
Originalwiedergabe eines illegalen Häftlingsliederbuches aus dem
Konzentrationslager Sachsenhausen"
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Gedenkstätte und Museum
Sachsenhausen
Reprint nach dem Original im Archiv der Akadademie der Künste Berlin
Edition Hentrich 1995 |
Sachsenhausen-Liederbuch:
Michail Orlow starb vor 62 Jahren
Von Mark Querfurth
Am 27. April 1943 starb der ukrainische Häftling im
Alter von 18 Jahren im Konzentrationslager Sachsenhausen. Das von ihm
begonnene Liederbuch ist heute ein einzigartiges kulturhistorisches Dokument
und als Originalwiedergabe 1995 in der Edition Hentrich erschienen.
Musik und Gesang spielten im Lageralltag der Häftlinge von
Anfang an eine ganz besondere Rolle: "Die SS machte das Singen, wie alles,
was sie tat zu einer Schickane, zu einer Qual für die Häftlinge", berichtet
Harry Naujoks, der als politischer Häftling zum Lagerältesten von
Sachsenhausen bestimmt war. "Kamen Zugänge, mussten sie auf Befehl 'Alle
Vöglein sind schon da' singen. Beim Marsch der Arbeitskolonne musste
gesungen werden. Wer zu leise sang oder zu laut, bekam Prügel. Die SS-Leute
fanden immer einen Grund. Wenn wir am Abend unsere toten und
zusammengeschlagenen Kameraden ins Lager schleppten, mußten wir singen..."
Neben der oftmals zynischen Verknüpfung von Gesang und
Strafe durch die SS und der von ihnen beabsichtigten disziplinierenden oder
auch den Lageralltag ordnenden Wirkung, hatten die Häftlinge jedoch auch
ihre eigenen Lieder. In den Baracken stärkte der Gesang das
Zusammengehörigkeitsgefühl der Häftlinge, spendete Trost vom Alltag, die
Hoffnung auf eine Zeit nach der Lagerhaft und stärkte auch den Willen zum
Widerstand. Die Häftlinge nutzten dabei den eng gesteckten Rahmen
kultureller Betätigung so weit es nur ging.
Das Liedgut in den Konzentrationslagern hat eine breite
Herkunft. Neben Volksliedern, Wanderliedern, Soldaten- und
Landsknechtliedern, Heimat-, Natur und Liebesliedern basiert das Repertoire
ebenso auf Liedern aus der Arbeiterjugendbewegung, aus der bündischen Jugend
oder vom Wandervogel. Hinzu kommen die Volkslieder der Häftlinge anderer
Nationalitäten und die Lagerlieder, die ankommende Häftlinge aus anderen
Konzentrationslagern mitbrachten. Solche Lieder entstanden in den Moorlagern
wie Esterwegen, in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und
Neuengamme oder auf der Lichtenburg. Auch in Auschwitz und Theresienstadt
sind eigene Lagerlieder dokumentiert.
Das "Sachsenhausen-Lied" entstand im Winter 1936/37auf
Geheiß des SS-Lageführers. Offizielles Lagerlied ist das Lied zur bekannten
Melodie "Die Bauern wollten Freie sein" wegen seiner eindeutigen Aussage
jedoch nicht geworden und konnte von den Häftlingen später nur noch heimlich
gesungen werden:
Bernard Bästlein, Karl Fischer, Karl Wloch
1. Wir schreiten fest im gleichen Schritt,
Wir trotzen Not und Sorgen,
|: Denn in uns zieht die Hoffnung mit
Auf Freiheit und auf Morgen. :|
2. Was hinter uns, ist abgetan,
Gewesen und verklungen.
|: Die Zukunft will den ganzen Mann,
Ihr sei unser Lied gesungen. :|
3. Aus Esterwegen zogen wir leicht,
Es liegt verlassen im Moore,
|: Doch bald war Sachsenhausen erreicht;
Es schlossen sich wieder die Tore. :|
4. Wir schaffen hinter Stacheldraht
Mit Schwielen in den Händen
|: Und packen zu und werden hart,
Die Arbeit will nicht enden. :|
5. So mancher kommt, kaum einer geht,
Es gehen Mond' und Jahre,
|: Und bis das ganze Lager steht,
Hat mancher graue Haare. :|
6. Das Leben lockt hinter Stachelverhau,
Wir möchten's mit Händen greifen,
|: Dann werden unsre Kehlen rauh
Und die Gedanken schweifen. :|
Das Lied ist im vorliegenden Liederbuch in den
Aufzeichnungen von Michail Orlow dokumentiert, der den ersten Teil des
Liederbuches (ohne Seitenzahlen) schuf. Der von Michail Orlow gefertigten
Teil endet auf zwei Seiten mit bereits vorgefertigten Vignetten für künftige
Liedtexte. Mithäftlinge haben diese Seiten durch folgenden Eintrag ergänzt:
"Miechael Orlof | Verstorben am 27.4.43 | geb. 3.11.24 gest. 27.4.43 | Ruhe
sanft"
Wieviele Häftlinge nach Orlows Tod an dem Liederbuch
weitergearbeitet haben lässt sich schwer feststellen. Sicher scheint, dass
an den Illustrationen und Vignetten auf den folgenden 167 Buchseiten, die
das Lagerleben, aber auch die Sehnsüchte der Häftlinge nach Freiheit, Frau
oder Freundin und der Heimat darstellen, mehrere Künstler beteiligt waren.
Bei den Texten jedoch überwiegt eine Handschrift.
Die letzte Seite zeigt ein als Wappen gezeichnetes Symbol
des Konzentrationslagers Sachsenhausen mit Lagertor, Hacke und Spaten;
überschrieben mit der Häftlingsnummer 34.770 und dem roten Winkel der
politischen Häftlinge. Die Identität eines Häftlings mit dieser Nummer
konnte trotz Nachforschungen bisher nicht festgestellt werden.
Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde am 22. April
1945 gegen 11 Uhr von der Roten Armee befreit. Vor zehn Jahren, zum 50.
Jahrestag der KZ-Befreiung hat die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten,
Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen einen Reprint eines illegalen
Häftlingsliederbuches aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen
herausgegeben.
Dem originalgetreuen Nachdruck des Liederbuches sind eine
Einführung von Günter Morsch sowie Erläuterungen von Dr. Inge Lammel
vorangestellt. Im Anhang befinden sich Texte von in Konzentrationslagern
entstandenen Liedern mit kurzen Informationen zur jeweiligen
Entstehungsgeschichte.
hagalil.com
27-04-05 |