Mirjam Pressler:
Die Zeit der schlafenden Hunde
Beltz & Gelberg, Weinheim 2003
Euro 14,90
Bestellen? |
Jugendbuch zum Thema "Arisierung":
Die Zeit der schlafenden Hunde
Rezension von Iris Noah
Im Rahmen eines
Gemeinschaftskundeprojekts fährt Johanna Riemenschneider einige Monate
vor dem Abitur nach Israel. Mit ehemaligen Schülerinnen, die während der
Nazi-Zeit vertrieben worden sind, wollen die Schülerinnen und Schüler
sprechen um daraus eine Dokumentation zu erarbeiten. Bei einem Treffen
in Jerusalem erzählt Meta Levin geborene Heimann, daß sie aus einem sehr
reichen Elternhaus kommt. Ihre Eltern waren die Besitzer des Modehauses
Heimann & Compagnie, das heute Modehaus Riemenschneider heißt.
Johannas Welt gerät aus den Fugen, denn
bis dahin war sie davon ausgegangen, daß das Geschäft -
Lebensmittelpunkt der Familie - vom Großvater gegründet und "von seiner
Hände Arbeit zum Erfolg geführt wurde". Nach dem plötzlichen Tod des
Großvaters kann sie mit ihm nicht mehr sprechen. Auf seiner Beerdigung
werden die Formen gewahrt:
"Ein
angesehener Mann, sagt gerade auch der Pfarrer, spricht von der
entbehrungsreichen Kindheit in ärmlichen Verhältnissen, ein strebsamer,
fleißiger Mann. Mit seiner Hände Arbeit hat er sich hochgearbeitet und
es zu Wohlstand gebracht. Und sie denkt, was für eine Heuchelei, soll
ich jetzt laut die Namen Heimann und Rosenblatt sagen? Was würde
passieren wenn ich es täte, wenn ich sagen würde, Moment mal, Herr
Pfarrer, Sie haben etwas Wichtiges vergessen, da gibt es noch einen
dunklen Punkt im Leben meines Großvaters, so einfach war es nicht, sein
Lebenslauf hat ihn nicht so gradlinig von der entbehrungsreichen
Kindheit zu einem Leben als wohlhabender Geschäftsmann geführt. Es war
nicht nur seiner Hände Arbeit, Herr Pfarrer, auch wenn ich nicht genau
weiß, was es war, ich will es eigentlich auch gar nicht wissen, ich will
nicht wissen, ob Frau Levin die Wahrheit gesagt hat. Aber viele Leute
hier sind alt, sie müssten sich noch erinnern, was wirklich passiert
ist, falls sie nicht vorgezogen haben, es zu vergessen." (Seite 15 / 16)
Sie muß sich mit
Familiengeheimnissen und Lebenslügen auseinandersetzen, spricht mit
verschiedenen Verwandten und trägt Mosaiksteine zusammen. Sie will den
Hintergründen der Firmengeschichte, die zugleich Familiengeschichte und
politische Geschichte ist, auf die Spur kommen. Die Situation in der
Familie eskaliert, denn der 1953 geborene Vater reagiert zunehmend
aggressiv auf die Fragen. Johanna fühlt sich hin- und hergerissen
zwischen ihrem Wunsch nach Wahrheit und dem Bedürfnis schlafende Hunde
ruhen zu lassen.
Sie schlägt sich mit Fragen
herum, ob Schuld vererbbar ist, ob man sich mit Geld freikaufen kann und
es Wiedergutmachung gibt, inwieweit man sich von seiner Familie
distanzieren kann und was es bedeutet, daß der geliebte Großvater eben
nicht nur ein lieber Opa war. Wie kann sie mit ihrem Wohlstand leben,
der auf der Vertreibung von Frau Levins Familie aufgebaut ist? Ein
Gespräch mit der Lehrerin hilft ihr bei der Einordnung. Doch eindeutige
Antworten gibt es nicht, auch nicht auf die Frage, warum sich die
Großmutter vor langer Zeit umgebracht hat - aus Scham?
Die Zeit der schlafenden Hunde
ist ein komplexer Entwicklungsroman und doch so klar und einfühlsam,
unaufdringlich und ohne falsches Pathos erzählt, daß er jungen Lesern
ermöglicht, einen Zugang dazu zu bekommen, wie die Familienvergangenheit
in der Gegenwart weiterwirkt.
Auf die Frage, warum sie als
Jüdin zu diesem Thema ein Jugendbuch geschrieben hat, antwortete Mirjam
Pressler, sie habe bei ihren Lesungen immer wieder erlebt, daß
Jugendliche mit den Begriffen "Arisierung", "Enteignung",
"Vermögensverwertung" ... nichts anfangen konnten. Das könnte sich durch
die Lektüre dieses Buches ändern.
hagalil.com
26-12-03 |