"Josef, du bist ein Mulatte, für
solche Kinder habe ich nichts", sagt der Weihnachtsmann und stößt den
Achtjährigen bei einer Adventsfeier von der Bühne, "Mutti, was ist ein
Mulatte?" Aber die Mutter erklärt nichts. Sie meint, der Junge sei zu
klein. Mitschüler und Lehrer werfen ihm weitere unbekannte Wörter an den
Kopf: "Bastard", "Judensau", "Zigeunerschwein". Sie spielen nicht mehr
mit ihm, spucken ihn an, verprügeln ihn. Warum? Der kleine Josef hält
sich für ein ganz normales deutsches Kind mit normalen deutschen Eltern.
In der Schule hat er zwar gelernt, daß die Juden böse sind und den
Deutschen schaden. Aber ist er denn ein Jude?Die
autobiographischen Erinnerungen von Josef Muscha Müller, geboren 1932 in
Bitterfeld, sind aus der Perspektive des naiven Kindes erzählt, dem
niemand folgenden Spruch erklärt: "Negerschweine gehören in den
Mülleimer, deinem Vater hätten sie die Eier abschneiden sollen!" Müllers
Eltern, ein sozialdemokratisches Arbeiterehepaar, die ihren "Bubi" mit
anderthalb Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatten, wollen sein Bestes
und sagen ihm deshalb nichts. Weil der Vater für den antifaschistischen
Widerstand arbeitet, kommen noch weitere Geheimnisse dazu: "Onkel", über
die Muscha nichts wissen darf, abgesperrte Kammern, in denen Flugblätter
lagern.
Josefs Haut ist dunkler als die der anderen Kinder. Er ist ein Sinto.
Als er acht ist, wird seine Mutter aufs "Rassenamt" bestellt. Das
Pflegekind soll untersucht werden. Überall in Deutschland sind
mittlerweile "Dienststellen für Zigeunerfragen" eingerichtet, die Sinti
und Roma vermessen, Karteien anlegen und Gutachten anfertigen im Auftrag
Heinrich Himmlers. So auch in diesem Fall. Weil die im Amt Zuständigen
als Sozialisten den Jungen schützen, passiert lange Zeit "nichts". Eines
Tages aber, Josef ist inzwischen zwölf, taucht die Gestapo in der Schule
auf, und zerrt den Jungen vor aller Augen aus der Klasse.
Er wird in einem Krankenhaus eingeschlossen. "Ich bin nicht krank",
schreit er. "Du hast Blinddarmentzündung, verstanden!" Nach einer
schrecklichen Woche des Wartens wird er von Dr. Rothmaler, später
Chefarzt in einer Klinik in Flensburg/Mürwick, operiert. Danach soll er
sofort in ein "Heim" gebracht werden. Mit Hilfe von Freunden seiner
Eltern wird er aus dem Krankenhaus geschmuggelt und bis zum Ende der
Naziherrschaft monatelang in einer Laube versteckt.
Nach dem Krieg wird Müller von den DDR-Behörden als Verfolgter des
Naziregimes anerkannt. Er macht eine Friseurlehre, wird aber Erzieher.
Die Heimlichkeiten gehen weiter. Seine Eltern klären ihn zwar über seine
Herkunft auf, raten ihm aber, sie zu verschweigen. Noch immer fürchten
sie Rassenverfolgungen. Als Müller heiraten will, eröffnen sie ihm
schließlich, daß er mit zwölf Jahren sterilisiert wurde. Für ihn bricht
eine Welt zusammen. In seinem Selbstbild ist er kein "richtiger Mann".
Seine Freundin versucht, ihm das Kind eines anderen unterzuschieben und
schreit, als sie von seiner Zeugungsunfähigkeit erfährt: Sie sei froh,
kein "Zigeunerkind" auf die Welt bringen zu müssen.
1955 lernt er eine Frau kennen, die ihm Verständnis entgegenbringt
und reist mit ihr in die BRD aus. Als DDR-Flüchtling schlägt er sich mit
Gelegenheitsarbeiten durch. Seine Hautfarbe ist häufig der Grund für
Ablehnung bei Bewerbungen. Aber eine Anerkennung oder gar Entschädigung
als politisch-rassisch Verfolgter des Naziregimes wird abgelehnt: Die
Zigeuner seien nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden, sondern
wegen ihres bekannten kriminellen und asozialen Verhaltens - so der
Tenor der damaligen Rechtsprechung.
Er geht nach West-Berlin, macht eine Ausbildung zum Heilpädagogen und
arbeitet viele Jahre in einer Kinder- und Jugendklinik. Für seine Arbeit
mit seelisch kranken Kindern und seine Arbeit als Zeitzeuge wird er 1995
mit einem Bundesverdienstorden ausgezeichnet. Seine Identität hat er bis
heute nicht klären können.
1986, bei seiner ersten Rückkehr nach Bitterfeld, führte ihn eine
Nonne zu den Taufregistern der Kirche. Dort erfuhr er nicht nur, daß
sein zweiter Name Muscha ist, sondern auch, daß mit ihm ein Vincenz Rose
Müller getauft wurde - ein Zwillingsbruder. Bis heute sucht er ihn
vergeblich. Daß er es selbst ist, kann nicht ausgeschlossen werden. Die
vielen unbeantworteten Fragen hat er immer wieder gestellt. Auch deshalb
schreibt Müller mit kaum zu ertragender Offenheit über sein Leben, die
Qualen, die Trauer - die Scham darüber, ein Opfer zu sein. Viele, die
Ähnliches erlebt haben, schweigen deshalb. Müller spricht alles aus.
Dafür ist ihm zu danken.
Die Literatur der Sinti und
Roma:
"Die Herkunft wird ignoriert"
Der Dichter Rajko Djuric hat ein Buch über die Literatur der Roma und
Sinti veröffentlicht. Ein Gespräch über Identitätsfindung und eine
Muttersprache, für die es nicht einmal amtliche Dolmetscher gibt...