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Zwangssterilisiert:
Die Autobiographie Josef Muscha Müllers

Sabine Lueken
Junge Welt, 12.03.2003


Josef Muscha Müller: Und weinen darf ich auch nicht - Eine Kindheit in Deutschland. Edition Parabolis, Berlin 2002, 227 S., 14,50 Euro
"Josef, du bist ein Mulatte, für solche Kinder habe ich nichts", sagt der Weihnachtsmann und stößt den Achtjährigen bei einer Adventsfeier von der Bühne, "Mutti, was ist ein Mulatte?" Aber die Mutter erklärt nichts. Sie meint, der Junge sei zu klein. Mitschüler und Lehrer werfen ihm weitere unbekannte Wörter an den Kopf: "Bastard", "Judensau", "Zigeunerschwein". Sie spielen nicht mehr mit ihm, spucken ihn an, verprügeln ihn. Warum? Der kleine Josef hält sich für ein ganz normales deutsches Kind mit normalen deutschen Eltern. In der Schule hat er zwar gelernt, daß die Juden böse sind und den Deutschen schaden. Aber ist er denn ein Jude?

Die autobiographischen Erinnerungen von Josef Muscha Müller, geboren 1932 in Bitterfeld, sind aus der Perspektive des naiven Kindes erzählt, dem niemand folgenden Spruch erklärt: "Negerschweine gehören in den Mülleimer, deinem Vater hätten sie die Eier abschneiden sollen!" Müllers Eltern, ein sozialdemokratisches Arbeiterehepaar, die ihren "Bubi" mit anderthalb Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatten, wollen sein Bestes und sagen ihm deshalb nichts. Weil der Vater für den antifaschistischen Widerstand arbeitet, kommen noch weitere Geheimnisse dazu: "Onkel", über die Muscha nichts wissen darf, abgesperrte Kammern, in denen Flugblätter lagern.

Josefs Haut ist dunkler als die der anderen Kinder. Er ist ein Sinto. Als er acht ist, wird seine Mutter aufs "Rassenamt" bestellt. Das Pflegekind soll untersucht werden. Überall in Deutschland sind mittlerweile "Dienststellen für Zigeunerfragen" eingerichtet, die Sinti und Roma vermessen, Karteien anlegen und Gutachten anfertigen im Auftrag Heinrich Himmlers. So auch in diesem Fall. Weil die im Amt Zuständigen als Sozialisten den Jungen schützen, passiert lange Zeit "nichts". Eines Tages aber, Josef ist inzwischen zwölf, taucht die Gestapo in der Schule auf, und zerrt den Jungen vor aller Augen aus der Klasse.

Er wird in einem Krankenhaus eingeschlossen. "Ich bin nicht krank", schreit er. "Du hast Blinddarmentzündung, verstanden!" Nach einer schrecklichen Woche des Wartens wird er von Dr. Rothmaler, später Chefarzt in einer Klinik in Flensburg/Mürwick, operiert. Danach soll er sofort in ein "Heim" gebracht werden. Mit Hilfe von Freunden seiner Eltern wird er aus dem Krankenhaus geschmuggelt und bis zum Ende der Naziherrschaft monatelang in einer Laube versteckt.

Nach dem Krieg wird Müller von den DDR-Behörden als Verfolgter des Naziregimes anerkannt. Er macht eine Friseurlehre, wird aber Erzieher. Die Heimlichkeiten gehen weiter. Seine Eltern klären ihn zwar über seine Herkunft auf, raten ihm aber, sie zu verschweigen. Noch immer fürchten sie Rassenverfolgungen. Als Müller heiraten will, eröffnen sie ihm schließlich, daß er mit zwölf Jahren sterilisiert wurde. Für ihn bricht eine Welt zusammen. In seinem Selbstbild ist er kein "richtiger Mann". Seine Freundin versucht, ihm das Kind eines anderen unterzuschieben und schreit, als sie von seiner Zeugungsunfähigkeit erfährt: Sie sei froh, kein "Zigeunerkind" auf die Welt bringen zu müssen.

1955 lernt er eine Frau kennen, die ihm Verständnis entgegenbringt und reist mit ihr in die BRD aus. Als DDR-Flüchtling schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seine Hautfarbe ist häufig der Grund für Ablehnung bei Bewerbungen. Aber eine Anerkennung oder gar Entschädigung als politisch-rassisch Verfolgter des Naziregimes wird abgelehnt: Die Zigeuner seien nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden, sondern wegen ihres bekannten kriminellen und asozialen Verhaltens - so der Tenor der damaligen Rechtsprechung.

Er geht nach West-Berlin, macht eine Ausbildung zum Heilpädagogen und arbeitet viele Jahre in einer Kinder- und Jugendklinik. Für seine Arbeit mit seelisch kranken Kindern und seine Arbeit als Zeitzeuge wird er 1995 mit einem Bundesverdienstorden ausgezeichnet. Seine Identität hat er bis heute nicht klären können.

1986, bei seiner ersten Rückkehr nach Bitterfeld, führte ihn eine Nonne zu den Taufregistern der Kirche. Dort erfuhr er nicht nur, daß sein zweiter Name Muscha ist, sondern auch, daß mit ihm ein Vincenz Rose Müller getauft wurde - ein Zwillingsbruder. Bis heute sucht er ihn vergeblich. Daß er es selbst ist, kann nicht ausgeschlossen werden. Die vielen unbeantworteten Fragen hat er immer wieder gestellt. Auch deshalb schreibt Müller mit kaum zu ertragender Offenheit über sein Leben, die Qualen, die Trauer - die Scham darüber, ein Opfer zu sein. Viele, die Ähnliches erlebt haben, schweigen deshalb. Müller spricht alles aus. Dafür ist ihm zu danken.

Die Literatur der Sinti und Roma:
"Die Herkunft wird ignoriert"
Der Dichter Rajko Djuric hat ein Buch über die Literatur der Roma und Sinti veröffentlicht. Ein Gespräch über Identitätsfindung und eine Muttersprache, für die es nicht einmal amtliche Dolmetscher gibt...
 

hagalil.com 18-03-03











 

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