Schlussbetrachtung:
Die deutsche Rechte und das Südtirolproblem 1919-1933
Von Daniel Maul
Resumee
Der Wert Südtirols für die deutsche Rechte bemaß sich
nach den Leitlinien ihres Denkens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die
Rechte verfolgte "superrevisionistische" Ziele, das heißt Ziele, die weit
über eine bloße Beseitigung der Bestimmungen des Versailler Vertrages
hinausgingen. Angesichts der realen Machtverhältnisse im Europa der
Nachkriegszeit bot sich allerdings kaum eine Perspektive für die
Verwirklichung ihrer Projekte.
Einen Ausweg bot ihnen der Begriff des "Volkstums", der
Stärke und Macht abseits der staatlichen Realität versprach. Auf der Ebene
des Volkes konnten die inneren und äußeren Formen des Staates negiert
werden. Das Volkstum zu "stärken" war deshalb eine vordringliche Aufgabe,
der sich die deutsche Rechte widmen wollte. Aus diesem Grund rückten vor
allem die Deutschen im Ausland ins Blickfeld, die unter der staatlichen
Hoheit anderer Staaten dem Versuch ausgesetzt waren, sie ihres Deutschtums
zu "berauben". Die Entnationalisierungspolitik des Faschismus in Südtirol
wurde insofern von der deutschen Rechten in erster Linie als Teil eines
allgemeinen "Volkstumskampfes" interpretiert.
So konnten die Deutschtumsvereine, die sich um die
Südtirolfrage kümmerten, Mitte der zwanziger Jahre mit breiter Unterstützung
rechnen. Sie waren personell und ideologisch eng mit der Rechten verbunden
und die Sprache ihrer Publikationen befand sich im Gleichklang mit deren
"Gefühlswelt". In sie flossen völkisches und großdeutsches Gedankengut
ebenso ein wie weitverbreitete antiitalienische Ressentiments. Es gelang der
Südtirolpropaganda dieser Vereine Mitte der zwanziger Jahre somit mühelos,
eine breite Front zu schmieden. Vor allem in Bayern konnten weite Teile der
Rechten in der Südtirolfrage mobilisiert werden, denn hier bestanden starke
Bindungen zu Tirol und die bayerischen Regierungsparteien förderten die
Aktivitäten der Vereine. Für den engen Zusammenhalt der Aktionsgemeinschaft
aus Südtirolvereinen und rechten Gruppen war mit entscheidend, daß man sich
in ihr nicht nur über Ziele, sondern auch über die Art der anzuwendenden
Methoden einig war. Die nationalistische Kompromißlosigkeit des VDA-Bayern
und des AHB und ihre strikte Verweigerungshaltung gegenüber den
Anforderungen der Weimarer Außenpolitik verstärkten den Zulauf, den sie aus
der Rechten hatten.
Daß Hitler auf Südtirol verzichten wollte, forderte diese
Front der Rechten heraus. In seinem "realpolitischen" Ansatz war die
Südtirolfrage ein Unterpunkt der Lebensraumideologie. Hitler postulierte die
Notwendigkeit eines entgrenzten Expansionismus und setzte dieses Ziel
absolut. Auch er ging vom "Volkstumskampf" aus, doch anders als die übrige
Rechte akzeptierte er keinen Wert des Volkstums "an sich", genauso wenig wie
begrenzte Revisionsziele. Südtirol und die Südtiroler besaßen für ihn
lediglich einen Wert als Bündnisfaktor. Die Verbindung mit Italien hielt er
für eine objektiv notwendige Voraussetzung für den Kampf um Lebensraum,
deshalb mußte Südtirol nach seiner Auffassung übergeordneten Zielen geopfert
werden. Als er diese Vorstellungen der Öffentlichkeit präsentierte, geriet
er folgerichtig in eine schwere Auseinandersetzung mit der Südtirolfront der
Rechten.
Die Debatte zwischen Hitler und der deutschen Rechten
endete nach einem erbittert geführten Streit 1928 ohne ein eindeutiges
Ergebnis. Da Hitler aber seine Position weder aufgegeben noch eingeschränkt
hatte, konnte er sich als Sieger der Diskussion fühlen. Teile der übrigen
Rechten begannen sich nun eigenständig aus der Südtirolfront zu lösen, als
sie sich dem italienischen Faschismus annäherten. Für sie entstand daraus
ein Problem, denn längst nicht alle ihrer Anhänger waren bereit, diesen
Schritt mitzuvollziehen. Dieses Dilemma kannte Hitler nicht. Die Strukturen
der Führerpartei ermöglichten es ihm Widerstände zu überwinden, die in der
NSDAP wie in allen anderen Teilen der Rechten gegen den Verzicht auf
Südtirol bestanden – und sie erlaubten es ihm, die Widerstände zu
ignorieren, die es weiterhin gab. Eines wurde im Laufe dieser Arbeit
ebenfalls deutlich: Große Teile der Rechten, Teile der NSDAP einbegriffen,
schlossen sich nicht der Verzichtsposition Hitlers an. Das Ziel Südtirol
behielten sie über lange Zeit weiterhin im Blick, sie waren lediglich
bereit, es vorübergehend zurückzustellen. So stellte für sie dann die
"Aufgabe" Südtirols 1938/39 also ohne Zweifel eine Niederlage dar. Den Kampf
um dieses Ziel verlor diese Mehrheit jedoch nicht erst 1939, auch nicht
1933, als die NSDAP an die Macht gelangte. Wie gezeigt wurde, verlor sie ihn
bereits in der Weimarer Zeit, lange bevor Hitler die Richtlinien der
Südtirolpolitik auch offiziell bestimmen konnte. Warum verlor die Rechte
diesen Kampf, den sie eine Zeit lang so erbittert geführt hatte? Aus der
vorliegenden Untersuchung lassen sich als Antwort zwei Thesen ableiten:
1. In der Endphase der Weimarer Republik waren jene Kräfte
der Rechten, die das Lager der Südtirolpropaganda im Deutschen Reich
bildeten, doppelt geschwächt. Große Teile näherten sich Mussolini und dem
italienischen Faschismus an, hegten Bewunderung und Sympathie und verspürten
den Wunsch, eine engere Verbindung mit ihm zu schaffen. Gleichzeitig
befanden sich ebenso große Teile im Sog des Nationalsozialismus. Der
überwiegende Teil des völkischen Lagers ging zu ihm über, und eine stetig
wachsende Zahl der bürgerlich-nationalen Rechten folgte. Durch beide
Bewegungen entfernten sich die genannten Kräfte nahezu notwendigerweise von
den Zielen, die sie in der Südtirolfrage verfolgten. Die ambivalente Haltung
der Rechten, die darin bestanden hatte, zur selben Zeit um die Sympathien
des Faschismus zu werben, aber in antiitalienischen Kundgebungen
nationalistischer Empörung über die Behandlung der Südtiroler Ausdruck zu
geben, war auf lange Sicht nicht durchzuhalten. Genauso implizierte die
Annäherung an die NSDAP zumindest die Akzeptanz deren Strategie in der
Südtirolfrage, beziehungsweise dessen, was man für ihre Strategie hielt. Die
Annäherung an Faschismus und Nationalsozialismus, in der für große Teile der
Rechten die Lösung der Probleme lag, sowie sie sich ihnen in den letzten
Jahren der Republik darstellten, war hauptverantwortlich dafür, daß die
Stille um Südtirol einkehrte, die sich die Umworbenen wünschten.
2. Diese doppelte Schwäche war kein alleiniges Resultat
der Umstände in der letzten Phase Weimars. Der Keim dieser Schwäche war
frühzeitig angelegt und zwar bereits in der Zeit, als die Front der Rechten
von außen betrachtet am stärksten und geschlossensten war. Gerade die
Deutschtumsvereine, die sich vorwiegend der Betreuung Südtirols widmeten,
waren Erben und Träger eines unversöhnlichen und grundsätzlich
chauvinistischen Nationalismus. Ihre Sorge galt nur in zweiter Linie dem
Minderheitenschutz. Ihre Perspektive war die des "Volkstumskampfes", ihr
Postulat die Überlegenheit des deutschen Menschen. Das Recht anderer Völker
achteten sie geringer als das des eigenen. Von Anfang an waren sie deshalb
nicht in der Lage, in der Minderheitenpolitik des italienischen Faschismus
das Spiegelbild ihrer eigenen Vorstellungen und Ziele zu erkennen. Sie
ignorierten seine ursächliche und alleinige Verantwortung für die
Entnationalisierungmaßnahmen. Sie standen dem Faschismus nicht prinzipiell
feindlich gegenüber und gelangten nie zu einer antifaschistischen Position.
Eine solche lehnten sie im Gegenteil dezidiert ab. Als sich große Teile der
Rechten an den Faschismus annäherten, fehlten ihnen wichtige Argumente.
Die gleiche Schwäche zeigten sie im Umgang mit Hitlers
Südtirolverzicht. Sie beurteilten ihn gemäß ihrer eigenen Kriterien. Da sein
Ausgangspunkt bei der Bewertung von Fragen des Volktums dem ihren glich und
auch in der Sprache ähnelte, schätzten sie seine Positionen als eine
Abweichung innerhalb eines grundsätzlich bestehenden Konsens ein. Trotz
aller Schärfe, in der die Diskussion Mitte der zwanziger Jahre ausgetragen
wurde, wurden sie sich über die Ernsthaftigkeit der Hitlerschen Positionen
nicht in vollem Umfang bewußt. So wird erklärbar, daß sie sich, als sie sich
im Bann der erfolgreichen NSDAP befanden, gegen alle Offensichtlichkeit,
darüber hinwegtäuschen konnten.
Ausblick
Als 1939 das Optionsabkommens verkündet wurde, zerschlugen
sich alle Illusionen: Für Spekulationen blieb kein Raum mehr. Seit der
Gleichschaltung des VDA 1937 kümmerte sich in Deutschland die SS um die
"Volkstumsarbeit". Sie war es, die nun in Südtirol zielstrebig daran ging,
in den Worten des SS-Reichsführers Heinrich Himmlers die "volkliche
Substanz" für das Reich zu sichern. Sie leitete alle notwendigen Maßnahmen
ein, um für eine zügige und möglichst geschlossene Abwanderung zu sorgen.
Die Südtiroler Aussiedler waren dazu ausersehen, in den Gebieten, die man
erobern wollte, als "Wehrbauern" neu seßhaft gemacht zu werden. In diesen
Monaten zeigte Hitler nicht nur, daß es ihm mit seiner Verzichtspolitik
ernst gewesen war und daß er tatsächlich bereit war, die faktischen
Konsequenzen aus seiner Haltung zu ziehen. Er verdeutlichte daneben auch
noch einmal sehr anschaulich seinen rein instrumentellen Begriff vom
Volkstum. Für ihn waren die Südtiroler nichts weiter als verschiebbare
Schachfiguren in seinem Konzept vom "Volkstumskampf". Er bemaß ihren Wert
allein nach den Funktionen, die sie dabei ausfüllen konnten: Erst Opfer für
ein "lebensnotwendiges" Bündnis und dann Frontsoldaten für den "Rassenkampf"
im Osten.
Die Skeptiker in der Partei, wie im übrigen auch die
Südtiroler Nationalsozialisten im VKS fügten sich dem "Führer" und stellten
seinen Schritt nach dem Optionsabkommen öffentlich nicht mehr in Frage. Aus
ihren Köpfen hingegen vermochte Hitler die Ansprüche weiterhin nicht zu
verbannen. Das zeigte sich, als sich 1943 durch den Sturz Mussolinis und den
Austritt Italiens aus der "Achse" eine neue Situation ergab. Sofort waren
sie wieder zur Stelle. Als deutsche Truppen den Brenner überschritten und
unter anderem auch Südtirol besetzten, erhoben sich sofort die Stimmen in
der Partei, unter ihnen Goebbels, die Hitler zu überreden versuchten,
Südtirol doch noch ins Reich einzugliedern (1). Hitler zögerte weiterhin und
überließ die Hoheit über Südtirol formal dem, von deutschen Fallschirmjägern
aus der Haft befreiten Mussolini und seiner Marionettenregierung in der
neueingerichteten "Republik von Saló". Faktisch jedoch übte die Wehrmacht in
der von ihr eingerichteten "Operationszone Alpenvorland", bestehend aus den
Provinzen Belluno, Trient und Bozen, die Macht aus. Von den Tiroler
Parteistellen und einem nicht geringen Teil der Südtiroler Bevölkerung wurde
die "Operationszone" als Überwindung der Tiroler Teilung gefeiert (2). Ob
und wie diese neue Entwicklung 1943 im Deutschen Reich aufgenommen wurde,
ist schwer zu überblicken. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß viele sie als
späten Sieg empfanden und daß sie erneut Hoffnung verspürten, daß es nach
einem siegreich beendeten Krieg keine Rückkehr zum vorherigen Zustand geben
würde. Und nach 1945? Die großdeutsche Perspektive war durch den Weltkrieg
sicherlich zerstört. Es wäre dennoch ein lohnendes Unterfangen, das
Fortleben der Südtirolfrage in der politischen Landschaft der Bundesrepublik
zu verfolgen. Daß hier einiges zu finden wäre, zeigt die Vorabrezension
einer neu erschienenen, aber bei der Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht
verfügbaren Studie Rolf Steiningers mit dem Titel "Südtirol zwischen
Diplomatie und Terror 1947-1969" (3).
Denn offenbar lebte Südtirol auch weiterhin in den Köpfen
fort. Von der Hilfe deutscher Neonazis für die Südtiroler Bombenleger der
sechziger Jahre ist in dieser Studie die Rede sowie von Erlanger
Burschenschaftlern, die mit Koffern voller Molotowcocktails über den Brenner
fahren. Und auch 1959 noch konnte der spätere Bundespräsident Carl Carstens
mit dem Satz zitiert werden, Südtirol sei "ein urdeutsches, wenn nicht gar
das deutscheste aller deutschen Länder" (4).
Anmerkungen:
(1) Corsini / Lill, Südtirol 1918-1946, 215.
(2) Zur „Operationszone Alpenvorland“ vgl.Corsini / Lill, Südtirol
1918-1946, 369-465; und Steininger, Südtirol im 20. Jahrhundert,187-209.
(3) R. Steininger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947-1969, Bozen
1999.
(4) Zitiert aus der Vorabrezension von Gerhard Mumelter in SÜDDEUTSCHE
ZEITUNG, 282, 6.12.1999, 13.
Das ganze Buch
hagalil.com
01-06-03 |