Auf ewig fremd:
Jedoch nicht im Morgenland
"Es ist aussichtslos jüdisch, ewig in der Wohin-Zone zu
kampieren" stellt Joav fest. Seine Flucht aus dem
israelisch-palästinensischen Konflikt nach Deutschland endet erneut an der
äußersten Front - diesmal des türkisch-kurdischen Konflikts. Das ewige
Fremdsein versucht Joav zu überwinden mit der Reise aus seiner Wahlheimat in
das Ungewisse tief im Orient, wo alles mal begonnen hat.
Die Kurdin Fatma führt ihn im Namen einer aussichtslosen
Liebe zu ihrem Geburtsdorf im Gebirge Kurdistans. Die Reise verläuft auf
einer endlosen Asphaltroute entlang der türkischen Küste bis hin zur
irakischen Grenze. Symbiotische Leidenschaft, gewaltsame Ablehnung und die
unerbittliche Verfolgung durch einen Geheimdienstler und Fatmas zornige
Verwandtschaft kennzeichnen ihre befristete Zweisamkeit.
Armut und nationaler Zwiespalt einer Nation am Scheideweg
zwischen Islam und Demokratie werden behutsam geschildert in diesem
Road-Roman, der zugleich den anderen Reiseführer für die Türkei verkörpert.
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LESEPROBE
Am Rande einer gewaltigen Felderlandschaft, die einer
Steppe ähnelt und deren großes Ende der Horizont markiert, steigen wir
aus dem Fahrzeug. Dürres Weideland, Tabakfelder und ein Wind, der über
die Ebene streicht. Ein breites Land. Ich stehe in der tiefen Mitte
einer endlosen Landschaft. Ein Mann aus einem winzigen und zerstrittenen
Land. Morgen fahren wir ins Kriegsgebiet. Ich kehre nach genau zwanzig
Jahren zum Schlachtfeld zurück und Semra will mit mir ein Heim bauen,
genau in der Mitte von Niemals. Dieses sich anbahnende Ereignis in
meinem Leben könnte meiner Verwandtschaft als endgültiger Beweis für
meine Unzurechnungsfähigkeit dienen.
Wir marschieren in die Steppe. Ein eisig kalter Wind
bläst seine Herrschaft auf alles, was ihm im Weg steht. Ich kann ihn
sehen. Er galoppiert nackt, fast himmelsgroß und furchtlos den Bergen
entgegen und alles kniet gefügig nieder bei seinem Erscheinen. Der
Himmel ist eisblau. Es ist ein breites Land.
Tränen brechen aus meinen Augenwinkeln. Aus Müdigkeit?
Ist es der Wind, der erbarmungslos mein Gesicht peitscht? Ich weine wie
ein Kind. Vergrößere den Abstand zu jenen Menschen, die dieses Land als
ihre Heimat bezeichnen. Ich beweine meine Einsamkeit. Fern von der
Heimat. Wenn ich nur wüsste von welcher? Ich weine, weil ich nie im
Angesicht einer unendlichen Steppe stand und meine Atemzüge so verloren
zwischen Raum und Zeit schweben.
"Joav!" Wo sind sie? Dort stehen sie vor einem runden
Steinbecken von welchem sich weiße Dämpfe trotzig dem Winter entgegen
heben. Semra lächelt glücklich. Erkan betrachtet mich besorgt. Er
entschuldigt sich bei ihr und kommt mir auf einem unmarkierten Feldweg
entgegen. Inmitten der türkischen Steppe stehen wir uns allein
gegenüber.
"In deinen Augen flimmert orientalischer Trübsinn."
Trotz seiner Wut meint der Mann es gut mit mir.
"Erkan, mach nur für ein paar Sekunden Pause von deiner verrückten
Leichtigkeit. Semra glaubt tatsächlich, dass ich sie bald heiraten
werde. Ich bin todmüde und morgen brechen wir ins Kriegsgebiet auf."
Seine respektlose Haltung gegenüber allen Konventionen wird er nie
aufgeben, aber das Weinen hat er auch nicht verlernt.
"Ich wollte dich nur einmal glücklich erleben." Er weint.
"Ich wollte dich glücklich erleben, jenseits deines
bleischweren Lebensmuts. Die Jahre in Europa haben deinen Geist
gelähmt."
Der Wind fegt seine Worte über die Felder. Er spricht
über das Existenzrecht des wilden Genusses gegenüber veralteten
Moralvorstellungen. Ich will mich an einem offenen Ort ohne Namen
verlieren.
Nach der Versöhnung, die wir mit unseren Tränen
besiegelt hatten, marschierten wir wie König Saul und Abschalom zur
warmen Kuhle. In diesem Land gilt es Grenzen zu sprengen - Völkergrenzen
wie Vernunftgrenzen, auf persönlicher wie auch auf nationaler Ebene, je
nach Gemütslage. Pech und Glück sind hier nur im großen Maßstab
willkommen. Wer will schon jetzt über Reue und Trauer danach sinnieren?
hagalil.com
25-10-04 |