Olaf Jensen:
Geschichte machen.
Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die
NS-Vergangenheit in deutschen Familien
edition diskord 2004
Euro 20,00
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Harald Welzer, Robert Montau, Christine Plaß:
"Was wir für böse Menschen sind!"
edition diskord 1997
Euro 11,00
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Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall:
"Opa war kein Nazi", Frankfurt a. Main 2002, Fischer Tb
Frankfurt a.M. 2002
Euro 10,90
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Sabine Moller:
Vielfache Vergangenheit
edition diskord 2003
Euro 15,00
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Umgang mit der NS-Vergangenheit:
Landschaften der Lüge
Von Martin Jander
Wer erfahren will, wie in deutschen Familien über den
Nationalsozialismus gesprochen wird und dabei – fast ganz nebenbei – die
Verantwortlichen für seine wesentlichen Verbrechen unsichtbar werden,
der sollte sich das Buch von Olaf Jensen "Geschichte machen" zulegen. Es
resultiert aus einer Forschungsarbeit, deren Gesamtergebnisse bereits
2002 von einem Team um den Sozialwissenschaftler Harald Welzer
(Universität Witten/Herdecke) unter dem Titel "Opa war kein Nazi"
veröffentlicht wurden.
Welzer hat den Umgang nicht-jüdischer deutscher Familien
mit dem Nationalsozialismus untersucht. In 182 Interviews wurden 142
Menschen aus 40 Familien in Ost- und Westdeutschland befragt. Besonderen
Wert legte man darauf, die Weitergabe von Haltungen von der
Zeitzeugengeneration (geboren zwischen 1906 und 1933) an die Kinder-
(geboren zwischen 1934 und 1967) und an die Enkelgeneration (geboren
zwischen 1954 und 1985) zu erforschen. Olaf Jensen arbeitet in seiner
Studie mit dem Material dieser Gesamterhebung.
Das Hauptergebnis der Studie war, dass insbesondere die
Generation der Enkel der Nazitäter jede Gelegenheit nutzt, ihre
Grosseltern von Schuld und Verantwortung im Kontext deutscher
Kriegsverbrechen und dem Völkermord – einschließlich ihrer Vorbereitung
– rein zu waschen. Dabei weiß diese Generation, die in den beiden
deutschen Staaten zwischen 1966 und 1986 auf die Welt gekommen ist,
meist sehr viel über die Geschichte des Nationalsozialismus, seine
Ursachen und auch die Dimension der Verbrechen. Im offenen Widerspruch
zum Wissen um den Nationalsozialismus heroisieren die Enkel jedoch ihre
eigenen Vorfahren, beschreiben sie als Opfer oder gar Widerständler.
Im Familiengespräch wird – wie Welzer und sein Team an
vielen Einzelbeispielen zeigen konnten – das Vergangenheitsbild
richtiggehend ausgehandelt. Dieser Aushandlungsprozess folgt der Logik,
dass Erinnerungsgeschichten nie nur Vergangenheitsbilder darstellen,
sondern zugleich Modelle für die allgemeine Haltung der Gruppe abgeben.
Die erzählten Geschichten und noch mehr das Ereignis ihrer Erzählung
selbst (an der Kaffeetafel oder unterm Weihnachtsbaum) dient dazu, einen
bestimmten Kanon von Familienwerten zu bestätigen. Ein solcher Wert
könnte zum Beispiel sein: "Bei uns bereichert man sich nicht", "Wir sind
für soziale Gerechtigkeit". Eben diese Werte muss die Erzählung
bestätigen.
Eines der erstaunlichsten Ergebnisse der Recherche, die
in einer Spezialuntersuchung von Sabine Moller unter dem Titel
"Vielfache Vergangenheit" 2003 publiziert wurde, besteht darin, dass
Welzer und sein Team nur geringe Unterschiede der Tradierungsprozesse in
Ost- und Westdeutschland feststellen konnten. Parallel zur
staatsoffiziellen Geschichtsmythologie in der DDR erhielt sich auch in
der DDR das Familiengespräch als zentraler Ort der Vermittlung von
Vergangenheitsbildern. Mit dem Systemwechsel sei in den fünf neuen
Bundesländern die Generation der NS-Zeitzeugen in ihrer Interpretation
des Nationalsozialismus ("Hitler hat Arbeit und Brot gebracht") bestärkt
worden. Die Generation ihrer Kinder sei – auch wegen ihrer eigenen
DDR-Vergangenheit – völlig verunsichert. Insgesamt sei man sich mit der
Enkelgeneration einig, dass der DDR-Geschichtsunterricht nur der
Propaganda gedient habe. Welzer resümierte skeptisch, die
Geschichtsbücher seien zwar ausgetauscht, die Denkmäler kommunistischer
Widerstandskämpfer demontiert und die Gedenkstätten umgestaltet worden,
allein die Grosseltern erzählten im Familienkreis nach wie vor ihre
Geschichten vom Nationalsozialismus.
In der Spezialstudie von Jensen werden jetzt im Jahr
2004 die zentralen Tradierungstypen beschrieben und an sehr vielen
Beispielen aus der Erhebung demonstriert, die für die Vermittlung des
Bildes vom Nationalsozialismus in deutschen Familien gegenwärtig
kennzeichnend sind. Der dominierende Tradierungstyp ist dabei die
"Opferschaft". Jensen schreibt hierzu, dass im Zuge familiärer
Kommunikation immer wieder eine "Umkehrung der historischen Täter- und
Opferrollen stattfindet" (S. 117) und im Gespräch "zwischen den
Generationen Mitleid und Empathie auch dann entwickelt wird, wenn sich
die Befragten in einzelnen Situationen oder auch generell zu Opfern
machen, wo sie objektiv Zuschauer, Mitläufer oder auch Täter waren." (S.
117) Die dazugehörigen Familienerzählungen sind auch dadurch
gekennzeichnet, dass die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus in
ihnen gar nicht vorkommen.
An zweiter Stelle folgt der Tradierungstyp
"Rechtfertigung", dessen Hauptargument man so zusammenfassen könnte: ich
habe von Verbrechen nichts gewusst, weil ich nicht beteiligt war, der
Autobahnbau war aber gut. An dritter Stelle folgt die "Distanzierung",
die im permanenten Verweis darauf besteht, dass die
nationalsozialistische Ideologie und ihre Rituale beim Zeitzeugen
(angeblich) überhaupt nicht angekommen wären. Der Tradierungstyp
"Faszination" hingegen tauchte in der Untersuchung erst an vierter
Stelle auf und meint Erzählungen, die besonders den "Gemeinschaftsgeist"
des nationalsozialistischen Regimes, die öffentliche Ordnung etc.
hervorheben und die Begeisterung dafür als "verständlich" beschreiben.
An letzter Stelle rangiert bei den beforschten Familien der
Tradierungstyp "Heldentum", der dadurch gekennzeichnet ist, dass die
Zeitzeugen auf eigene (wirkliche aber auch angebliche)
Widerstandshandlungen verweisen und damit deutlich machen, dass sie
selbst keinen Anteil an den Verbrechen hatten.
Der besondere Wert der Untersuchung von Jensen im
Kontext der Gesamtuntersuchung ist ihre Konzentration auf das Detail.
Nirgendwo kann man besser verstehen, wie denn der Tradierungsprozess im
innerfamiliären Gespräch wirklich vor sich geht. Auch jeder der z. B. in
der politischen Bildung tätig ist, wird gerne auf dieses Buch
zurückgreifen, denn hier werden zum ersten Mal sehr übersichtlich die
Gesprächsstrategien der NS-Zeitzeugen dargestellt, mit denen sie auch
noch 60 Jahre nach dem Untergang des Nationalsozialismus ihre Umgebung
davon zu überzeugen suchen, dass "es" nicht so schlimm war oder aber
zumindest sie selbst. nicht beteiligt waren (was im Einzelfall ja auch
gar nicht falsch sein muß!). Olaf Jensen enthüllt uns jene "Landschaften
der Lüge" (Jürgen Fuchs), die uns bei Familienfeiern in deutschen
Familien, in der Kneipe und anderswo umgeben, ohne dass wir sie immer
gleich bemerken.
Dr. Martin Jander, geb. 1955, Historiker,
studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften an der
Freien Universität Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor, forscht,
lehrt und publiziert zu den Themen Politische Theorien,
Nationalsozialismus, Shoah und Deutsche Nachkriegsgeschichte. Darüber
hinaus ist er Mitarbeiter der Redaktion der Zeitschrift "Horch und Guck"
und betreibt in Berlin die Stadtführungsagentur "Unwrapping
History".
hagalil.com
21-11-04 |