Igal Avidan
Israel
Ein Staat sucht sich selbst
Diederichs Verlag 2008
Euro 19,95
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Sylke Tempel:
Israel
Reise durch ein altes neues Land
Rowohlt Berlin Verlag 2008
Euro 19,90
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60 Jahre Israel:
Zwischen Gott und Google
Von Martin Kloke
Was ist das für ein Staat, der sich – von außen bedroht – immer neu
behaupten und erfinden muss? Im 60. Jahr der Gründung Israels haben die in
Berlin lebenden Journalisten Igal Avidan und Sylke Tempel unkonventionelle
Thesen und Beobachtungen zu Papier gebracht: authentische Bestandsaufnahmen
und Reisereportagen von einem ebenso konfliktgeladenen wie erfolgreichen
Land.
"Wird
Israel noch weitere 60 Jahre existieren?", ist die bange Frage, die den
roten Faden des Buches von Igal Avidan markiert. Indem der israelische Autor
den noch immer blutenden "Kaiserschnitt" von 1948 in seinen Konsequenzen
anschaulich und begreiflich werden lässt, erweist er sich als Insider und
Grenzgänger zwischen den politisch-kulturellen Milieus seiner israelischen
Heimat. 60 Interviews bilden die materialgestützte Essenz des denkwürdigen
Buches.
Igal
Avidan macht bereits in der Einleitung deutlich, was ihn politisch und
moralisch im Innersten bewegt: Es ist die Position eines linksliberalen
reformjüdischen Peaceniks, der für einen Friedensschluss mit den Arabern bis
an die Grenze der nationalen Selbstaufgabe gehen würde. Einerseits hält
Avidan die israelische Gesellschaft für "militant" und "zerrissen";
andererseits sieht er in der friedlichen Umsiedlung der 14.000 Siedler aus
dem Gazastreifen nach Israel eine "bemerkenswerte Leistung". Insofern
verkörpert der Autor den Typus des säkularen Tel Aviver Links- oder
Postzionisten, für den die israelische Selbstkritik zu den Grundwerten
jüdisch-zionistischer Identität zählt. Avidan umschreibt Israel in fast
paradoxen Formulierungen: "Israel ist ein jüdischer Staat, weil die meisten
Israelis Juden sind, aber keine Theokratie. Das Land ist säkularer als je
zuvor. Aber der Anteil der Ultraorthodoxen steigt. Die Mauer zwischen ihnen
und dem Rest der Bevölkerung wird immer höher."
Es
nimmt nicht wunder, dass Avidan in weiten Teilen seines Buches den
israelisch-palästinensischen Konflikt in den Blick nimmt. Dabei seziert er
die letzten tatsächlichen oder vermeintlichen "Tabus" des
israelisch-arabischen Konflikts, macht auf die unheilvollen Folgen der
Besatzung auf die Palästinenser, aber auch auf die israelische
Zivilgesellschaft aufmerksam, hält nach gelebten Modellen einer friedlichen
Koexistenz Ausschau und versucht, Verständnis für die politischen Hoffnungen
der Palästinenser zu wecken. Ein solches Unterfangen ist in einer Zeit, in
der Israel tagtäglich von palästinensischen Raketen aus dem Gazastreifen
beschossen wird, orchestriert von martialischen Vernichtungsdrohungen aus
dem Iran, alles andere als populär.
Avidans selbstkritische Perspektive ist legitim, aus europäischem
Blickwinkel sogar sympathisch. Dennoch sind einige von Avidans
Tatsachenbehauptungen und Werturteilen mindestens fragwürdig: Wenn im
Gespräch mit dem kritischen Historiker Benny Morris von der "Ausrottung der
700.000 Palästinenser" im Unabhängigkeitskrieg die Rede ist, so dürfte diese
ungeheuerliche Unterstellung einem Übersetzungsfehler geschuldet sein. Auch
die naive Verwendung des historisch belasteten Begriffs "Blitzkrieg" zur
Charakterisierung des Sechstagekrieges von 1967 mag ein bloßer Lapsus sein,
über den offenbar weder Autor noch Lektor gestolpert sind – möglicherweise
auch deshalb, weil hierzulande schon 1967 mit solchen und ähnlichen
Metaphern kollektive Emotionen geschürt worden sind, etwa in der
Bild-Zeitung.
Nicht
nachvollziehbar bleibt, warum Avidan abenteuerliche Behauptungen seiner
Gesprächspartner immer wieder kommentarlos stehen lässt – so auch die
scheinbar beiläufige Bemerkung des Linksaktivisten Haim Hanegbi zum
Sechstagekrieg: "Uns war klar, dass der Krieg gegen Ägypten ausgeweitet
wurde, um das Westjordanland zu erobern, um das zu vollenden, was wir im
Krieg von 1948 begonnen hatten, um bis zum Jordan zu gelangen." Tatsächlich
aber starteten die Israelis ihren mehrtägigen Eroberungsfeldzug gegen
Jordanien erst in dem Moment, als die jordanische Armee – in Unkenntnis der
tatsächlichen militärischen Kräfteverhältnisse – Israel angriff, um ihrem
ägyptischen Bündnispartner beizustehen, nachdem die Ägypter zuvor die Mär
vom bevorstehenden "Endsieg" über Israel verbreitet hatten.
Einerlei, ob sich Avidan den Aporien des Nahostkonflikts oder den
innerjüdischen Spannungen zwischen Religiösen und Säkularen, Orientalen und
Westlern widmet: Anhand des Brennpunkts Jerusalem kann er überzeugend
vermitteln, dass die Uhren im Nahen Osten anders ticken als hierzulande:
"Hier ist nicht der Prenzlauer Berg, sondern der Tempelberg". Gleichwohl
entwirft Avidan am Schluss seines Buches ein versöhnliches Szenario – am
Beispiel zweier "moderner Propheten", die beide an der Vereitelung ihrer
jeweiligen "Horrorszenarien" arbeiten und dennoch ein bemerkenswert
realistisches Augenmaß an den Tag legen: Israel Harel, Vorsitzender des
Instituts für Zionistische Strategie und als solcher ein eher moderater
Vertreter der Siedlerbewegung, möchte den jüdisch-zionistischen Charakter
Israels sicherstellen – Israels Existenz als zionistischer Staat ist ihm
wichtiger als die Beibehaltung aller Siedlungen. "Der Sicherheitszaun wird
die Grenze sein", zeigt er sich sicher. Ron Pundak, Leiter des
friedenspolitischen Peres Centers, glaubt, erst "die friedliche Festlegung
der Grenze mit den Palästinensern" werde Israel "stabilisieren". Avidan,
letztlich nun doch ein zionistischer Patriot, schlussfolgert: "Politisch
könnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Sie sitzen aber dennoch im
selben Boot, das sie vor dem Untergang retten soll. Ein anderes Land haben
sie nicht."
Die
Journalistin und Publizistin Sylke Tempel zeigt in ihrer Reisereportage kaum
Interesse an den tagespolitischen Ereignissen und "dramatischen Szenen".
Stattdessen rückt sie die eigentlich bedeutsame "Rahmenhandlung" in den
Vordergrund: die Tatsache, dass Israel nach fast 2000 Jahren überhaupt
wieder existiert – "allein aufgrund der Kraft einer Idee", die ihren
Ausgangspunkt vor über 3000 Jahren in der sagenumwobenen "Offenbarung am
Berg Sinai" genommen hat. Da ist es nur folgerichtig, dass sich die Autorin
in ihrer geschichts- und religionsphilosophisch akzentuierten
Deutungsperspektive zunächst auf den Spuren des israelitischen Exodus durch
die Sinai-Halbinsel bewegt.
Weitere Stationen ihrer Reise "durch alle Schichten der jüdischen Historie"
sind die Felsenfestung Massada in der judäischen Wüste, die "alte Dame"
Jerusalem mit ihrer mehr als 3.000 Jahre währenden Geschichte, Algen
züchtende Pioniere in der Negev-Wüste ("idealistisch, aber nicht
fanatisch"), die Siedlung Kirjat Arba bei Hebron, die nordisraelische
Landschaft Galiläas, die Jesreel-Ebene, wo sich die ersten zionistischen
Einwanderer niederließen, und schließlich die liberale Metropole Tel Aviv.
Wo immer sich Sylke Tempel aufhält – im Bus, im Café, beim Trampen oder
Wandern –, begegnen ihr Menschen, die anders sind als es das Klischee
suggeriert: Es sind europäisch oder gar deutsch geprägte Jekkes, eislaufende
Russen, religiöse Fanatiker, zionistische Pioniere der ersten Stunde,
Beduinen, israelische Araber, arabische Juden, äthiopische Neuankömmlinge,
Überlebende des Holocaust, Soldaten und andere Durchschnittsisraelis. Dabei
ist Israel alles andere als ein Schmelztiegel – das Land ist Schauplatz
einer einzigartigen multikulturellen Gesellschaft, in der mehr als 90
Sprachen gesprochen werden.
Anders als Avidans kritisches Sachbuch mutet Tempels Reisebericht
streckenweise wie eine Hommage für Israel und seine Menschen an. Man möge
sich vom eigenwillig-düsteren Mauer-Cover, das dem anklagenden
Agitprop-Flyer propalästinensischer "Aktivisten" entnommen sein könnte,
nicht in die Irre führen lassen. Tatsächlich ist das Buch eine ebenso klug
wie unterhaltsam geschriebene Liebeserklärung an ein Land, das der Autorin
seit ihrem ersten Israel-Aufenthalt in den frühen 1980er Jahren ans Herz
gewachsen ist. Die "geschichtsträchtige Schwere Jerusalems" ging ihr mit den
Jahren ein wenig "auf die Nerven"; heute schätzt sie eher die "fröhliche
Oberflächlichkeit" des hedonistischen Tel Avivs mit seiner bunten
Partyszene: "Ich wurde Jerusalem untreu und begann, mich in Tel Aviv zu
verlieben. [...] eine Entscheidung für einen anderen Lebensstil."
Macht
sich in Sylke Tempels Buch ein unangenehm lobhudelnder Tonfall breit, der
die komplexen Realitäten des vorderorientalischen Landes ausblendet?
Keineswegs: Die ehemalige Nahostkorrespondentin lässt uns, en passant,
teilhaben an ihrer langjährigen engagiert-mitfühlenden Auseinandersetzung
mit der Geschichte, Politik und gegenwärtigen Situation Israels im Nahen
Osten. Tempel schreibt in erfrischender Direktheit und Klarheit, was sie
denkt – und das stets transparent und wohlbegründet. Kein gutes Haar lässt
sie z. B. an den umstrittenen Siedlungsprojekten im Westjordanland, die die
israelische Gesellschaft schleichend korrumpieren, jeden erdenklichen
Friedensprozess erschweren und die israelische Gesellschaft
Milliardenbeträge kosten. Es seien die Siedler in der Westbank, die als
"neuzeitliche Zeloten" die "zionistischen Ideale verraten" würden.
Auch
die Funktion und Folgen des "Trennungswalls" zwischen Israel und der
Westbank, der inzwischen zu mehr als 50 Prozent fertiggestellt ist,
analysiert sie in aller gebotenen Ambivalenz: Einerseits nimmt sie die
Beschlagnahmung palästinensischer Felder für die vorgelagerten
Sicherheitsschneisen und die Einkreisung grenznaher palästinensischer
Ortschaften wahr, die das Alltagsleben vieler Palästinenser erschweren;
andererseits gibt sie zu bedenken, dass seit dem Bau des Sicherheitswalls
die Zahl der Terrorattentate nachhaltig abgenommen hat: "Der Verlauf einer
Mauer kann verändert werden. Auch Betonwälle kann man wieder abreißen. Aber
ein verlorenes Menschenleben ist nie wieder zurückzubringen."
Doch
Israel ist weit mehr als ein krisengeschüttelter Akteur im Nahostkonflikt,
dessen genuin jüdisch-demokratische Werte von außen wie von innen bedroht
sind: Es ist die gelebte Erfahrung eines modernen Wunders – ein Land, das
sich vom "kollektivistisch organisierten Familienbetrieb" zum modernen
"Hightechland" entwickelt und gleichwohl von der Frage umgetrieben wird,
worin die "Jüdischkeit" seiner vom Kulturkampf zwischen Religiösen und
Säkularen geprägten Gesellschaft besteht.
Die
stärksten Momente des Buches sind jene liebevollen Beobachtungen, die dem
Buch eine Atmosphäre verleihen, die unter die Haut gehen: So erzählt Sylke
Tempel von der unglaublichen Arbeit der Biologin Elaine Solowey, die unter
"nächtlicher Bewachung und gutem Zureden" es schafft, einem fast 2.000 Jahre
alten Dattelkern, der bei Aufgrabungen auf der Festung Massada gefunden
worden war, zu neuem Leben zu verhelfen. Der Dattelkern "Methusala" ist
inzwischen zu einer respektablen 50 Meter großen Dattelpalme herangewachsen.
Und
so geht es weiter – im fast zärtlich-fabulierenden Tonfall: Wenn Tempel etwa
vom herben "preußischen Charme" der Jeckes berichtet, von der
sprichwörtlichen Direktheit und herzlichen Unhöflichkeit junger Israelis
oder vom Zwiegespräch mit dem theoretischen Vordenker des Zionismus, einer
zwei Meter hohen Holzstatue am Rande der Schnellstraße 2 im "Emek Silikon"
zwischen Herzlija und Tel Aviv: "Theodor Herzl blickt nicht mehr auf Sand
und Dünen, sondern auf die Glaspaläste von IBM und Motorola, Intel, Google
und Cisco Networks, SAP und Microsoft [...]. 'Ist doch nicht schlecht,
oder?', wende ich mich an den Holz-Herzl. Der wäre kein waschechter Wiener,
würden ihm allein wirtschaftlicher Erfolg und 'Unternehmensgeist' genügen.
'Gibt's auch genügend Kaffeehäuser?' 'Reichlich', nicke ich ihm zu. 'Pro
Einwohner mehr als in Manhattan, Bars und Restaurants nicht mitgerechnet.'
'Ein ordentliches Kulturleben?' 'Fünf größereTheater, eine Menge kleinerer
Bühnen, ein philharmonisches Orchester, [...] eine Oper, [...], zwei
Universitäten, mehrere große Museen, viele kleine Galerien, von Kinos ganz
zu schweigen. – Zufrieden?' 'Zufrieden', nickt er."
Auf
die Frage "Woher kommen Sie?" erfährt die Autorin Geschichten von Flucht,
Vertreibung, Tod oder Überleben. Der Holocaust ist bis zum heutigen Tag
Bestandteil zahlloser Familiengeschichten; das Trauma der Schoah will nicht
vergehen. Zum innerisraelischen Narrativ gehört die Überzeugung, dass das
Leben von Millionen Menschen hätte gerettet werden können, wenn es den
jüdischen Staat einige Jahrzehnte früher gegeben hätte. Scharfsinnig
beobachtet Tempel: "Kein Land war (und ist) solch entschlossen geäußerten
Vernichtungsdrohungen ausgesetzt wie Israel. Keines wird mit solcher
Aufmerksamkeit beobachtet oder an derart hohen moralischen Maßstäben
gemessen wie der jüdische Staat – als ob gerade die Opfer zeigen müssten,
dass sie aus ihrer eigenen Geschichte die richtigen Lektionen gelernt
haben." Wen wundert's, dass viele Israelis diese neurotische
Außenwahrnehmung als Beleg dafür nehmen, dass der jüdische Staat heute jene
Außenseiterrolle einnimmt, in die früher die Juden der Diaspora gedrängt
worden war.
"Hinter dem oft trotzig zur Schau gestellten Selbstbewusstsein, hinter dem
Beharren, nur man selbst könne am besten für die eigene Sicherheit sorgen,
steckt ein tiefes Einsamkeitsgefühl", vermutet die Autorin. Das "Haus
Israel", bilanziert Sylke Tempel, ist und bleibt eine demokratische
Baustelle ohne verbindliche Hausordnung – zusammengehalten durch einen
ungebrochenen Überlebenswillen, den Optimismus und das Improvisationstalent
seiner streitbaren Bürger, deren nationale Identität in der altneuen Heimat
erst im Entstehen begriffen ist.
Wird
Israels Lebensgrundlage eines Tages so normal und so selbstverständlich sein
wie die Existenz der USA oder der Schweiz? Werden die Israelis mehr Zeit und
Muße finden, sich mit den wunderbaren Banalitäten des Alltags zu
beschäftigen? Es ist der passionierte Radfahrer Igal Avidan, der für diesen
postzionistischen Traum ausgerechnet auf eine Quelle des frühen Zionismus
zurückgreift: "An einem sonnigen Wintertag radle ich entlang der wunderbaren
Promenade am Hafen von Tel Aviv und denke an Theodor Herzl [...]. Vor mehr
als einhundert Jahren prophezeite er nicht nur den Judenstaat, sondern auch
die Massenverbreitung des Radfahrens" – als "Verkehrsmittel" für moderne
"Individualisten".
Ob
sich die Israelis in 60 Jahren den Luxus leisten können, über diesen
Denkanstoß Herzls ebenso leidenschaftlich zu räsonieren wie über die
Existenzaussichten ihres – trotz aller Sorgen, Schmerzen, Selbstzweifel und
Sünden – großartigen Gemeinwesens? Zu wünschen wäre es – Masal-tov Israel!
Eine gekürzte Fassung
dieser Rezension erschien im
Tagesspiegel v. 05.05.2008.
hagalil.com
05-05-08 |