Heinen Eugen:
Sephardische Spuren II
Einführung in die Geschichte des Iberischen
Judentums, der Sepharden und Marranen
Verlag Winfried Jenior, 2002
480 Seiten, 34 Euro
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Das Schachspiel
ist eine der eindrucksvollsten Erfindungen des Orients, die von
den spanischen Juden an das christliche Abendland vermittelt
worden sind. Der älteste europäische Text, in welchem die Regeln
des Schachspiels enthalten sind, ist eine in hebräischer Sprache
verfaßte Reimdichtung des judenspanischen Dichterphilosophen
Abraham ibn Ezra (1089-1164). Abraham stammte aus der Aljama von
Tudela (Navarra), das damals noch zum Taifa-Reich der Banu Hud
von Zaragoza gehörte; seine Jugend verbrachte er in Andalusien
und Nordafrika. Dort verfaßte er Dichtungen mit religiösen und
weltlichen Themen, unter den letzteren den folgenden Text zum
Schachspiel (Steinschneider): Ich
sing ein Lied von einer Schlacht, gereihet
Dereinst, bestellet in der Vorzeit Tagen,
Gereiht durch Männer von Einsicht und Verstand
Gegründet auf der Reihen acht;
Auf jeder Reih’ sind eingezeichnet
auf einer Tafel acht Abtheilungen;
Die Reihen sind Gevierte, sind verbunden,
Und dort die Lager stehn gedrängt,
Die Könige mit ihren Lagern stehen,
Zu kriegen, und ein Raum ist zwischen beiden
Und aller Angesicht zum Schlagen ist bereit.
Sie ziehn beständig oder ruhen aus;
Doch werden Schwerter nicht gezücket in der Schlacht,
Ihr Streiten ist ein Werk nur der Gedanken,
Sie sind durch Zeichen nur und Merkmal zu erkennen,
Gezeichnet und gepräget durch die Leiber;
Der Mensch, der sie betrachtet in Bewegung,
Dem scheinen sie Edomim* und wie Kuschim*;
Die Schwarzen strecken ihre Hände aus zum Streite,
Die Rothen ziehen aus nach ihnen,
Die Fussgänger* sie kommen allererst
Zur Schlacht auf gradem Wege;
Der Fussmann schreitet hin vor sich,
Doch lenkt zum Fang des Feindes ab,
Nicht lenkt er ab in seinen Schritten,
Und wendet nicht zurück die Tritte;
Doch wenn er will, darf er zu Anfang springen
Drei [Felder] weit von jeder Seite;
Und ist von seiner Stätt’ er weit gewandert
Zur achten Reihe vorgedrungen:
So kann er wie der Fers* nach jeder Seite kehren,
Gleich diesem gilt er in dem Streite.
Der Fers, er wendet seine Schritte
Und seine Züge [gehn] nach seinen vier Gevierten.
Der Fil* zum Streite schreitet immer näher;
Er steht zur Seite wie ein Lauerer;
Sein Schritt ist der des Fers, doch hat
Den Vorzug er, dass er ein dreifacher.
Des Rosses* Fuss, sehr leicht ist er im Streite,
Er gehet auf gekrümmtem Wege;
Verkrümmt sind seine Wege, nicht gerade,
Der Häuser drei sind seine Grenzen.
Der Roch* geht grad auf seinem Wege
Und auf dem Felde nach der Breit’ und Länge;
Er suchet nicht die krummen Wege,
Sein Pfad ist ohne Schief und Krümmung.
Der König* schreitet hin nach allen Seiten,
Nach allen Winden, hilft den Dienern;
Er hüte sich, dieweil er sitzet oder ziehet
Zum Streite, und an der Stelle, wo er lagert.
Und wenn sein Feind in Feindschaft zu ihm steiget,
Ihm droht, so fliehet er von seinem Platze [Zelte?];
Und wenn der Roch mit Schrecken ihn vertreibt,
Von einer Kammer zu der andern ihn verfolgt:
So muss zu Zeiten er vor ihm entfliehen,
Zu Zeiten aber seine Schaaren um sich sammeln;
Und All’ erschlagen Einer wohl den Andern,
Und Dieser tilget Jenen dort mit grosser Wuth.
Die Helden [- - -] beider [?] Könige
Sind hingestreckt, doch ist kein Blut vergossen.
Zu Zeiten sind die Schwarzen die Besieger
Und fliehn vor ihrem Angesicht die Rothen:
Zu Zeiten sind die Rothen Sieger, und die Schwarzen
Mit ihrem Könige im Krieg sind überwunden.
Und wenn in ihrer Falle der König ist gefangen,
Und ohn’ Erbarmen ist in ihrem Netz verstrickt:
So ist kein Ausweg, sich zu retten, keine Zuflucht
Und kein Entrinnen, nach Festung und Asyle.
Vom Feind wird er verurtheilt und beseitigt,
Es rettet Niemand, zum Sterben ist er matt,
Und seine Schaaren sterben alle für ihn hin,
Sie bieten ihre Seele für die seinige;
Und ihre Herrlichkeit ist hin, sie sind vernichtet,
Indem sie schau’n, wie ihr Gebieter ist geschlagen.
Und doch beginnt ihr Streit von Neuem,
Wenn die Erschlagnen wieder auferstehen.
* Erläuterungen:
Edomin die Roten König König
Fußgänger Bauer Kuschim die Schwarzen
Fers Königin Roß Springer
Fil Läufer Roch Turm
Bekannt war das Schachspiel in Spanien schon
lange Zeit vor dieser gereimten Schachanleitung von Abraham ibn
Ezra. Erwähnung findet es nicht nur zu Beginn des 12.
Jahrhundert in der lateinisch verfaßten Erzählsammlung
Disciplina Clericalis des konvertierten spanischen Juden Moseh
Sefardi (alias Petrus Alphonsi), sondern auch im "Buch Kusari"
des andalusisch-jüdischen Dichters und Philosophen Yehudah
Halevi (11. Jahrhundert) und in einem arabischen Gedicht des
andalusischen Dichters al-Ramadí (10. Jahrhundert). In einer
andalusisch-arabischen Quelle wird auch von Schachfiguren mit
einem Dpppelgesicht gesprochen (vorn eine Frau, hinten ein
Soldat). Aufgrund weiterer Hinweise ist zu vermuten, daß das
Schachspiel, das in seinen Grundzügen im 7. Jahrhundert in
Persien entstanden ist, bereits im 8. Jahrhundert den Arabern
bekannt war und aus dem Vorderen Orient in der Zeit des Emirats
und Kalifats von Córdoba (9.-10. Jahrhundert) nach Europa
gelangt ist. Hierbei soll wiederum ein Jude eine besondere
Vermittlerrolle gespielt haben, ein gewisser Ali, der zum Islam
konvertiert war. Einige Kulturhistoriker gehen davon aus, daß
auch der von dem andalusischen Juden al-Mansur al Yahudi in
Algeciras begrüßte legendäre Sänger Ziriab (789-857) zu Beginn
des 9. Jahrhunderts das Schachspiel auf seiner Flucht von Bagdad
nach Spanien in seinem Fluchtgepäck mit sich geführt habe. Die
ältesten im christlichen Abendland erhaltenen Schachfiguren sind
vermutlich ebenfalls durch jüdische Reisende aus dem Orient über
Spanien in den Norden Europas gelangt (darunter wahrscheinlich
auch diejenigen aus Bergkristall an der Kanzel Heinrichs II im
Dom zu Aachen sowie insgesamt dreißig in Spanien erhaltene
Figuren aus dem 11. Jahrhundert: acht in Orense und drei in San
Millán de la Cogolla; die übrigen 19 Steine, heute in Lérida,
stammen aus einem christlichen Beutezug, an dem ein jüdischer
Händler beteiligt war).
Die Juden vermittelten mit den Handelswaren
aus dem Orient auch andere orientalische Kulturgüter an das
Abendland. Dazu gehörten – neben dem "königlichen" Schachspiel –
auch andere Brettspiele: Back-gammon, Mühle und Dame,
verschiedene Würfelspiele und die vom Mühlespiel abgeleiteten
sogenannten alquerque-Spiele (arabisch: el-qirkat =
"Brett-spiel", in dem drei Spielsteine hintereinander angeordnet
werden müssen; die Bezeichnung alquerque wird in Europa
erstmalig im "Schachzabel-buch" [1283] Alfons’ X erwähnt).
Europa hat von den Arabern außerdem verschiedene sportliche
Freizeitbeschäftigungen übernommen, darunter die Falkenjagd und
einige Reiterspiele (Polo, Fuchsjagd und Stierkampf vom Pferd
aus, eine Sonderform, die noch heute in Spanien mit dem rejón,
einer Art Lanze, ausgeführt wird). Auch der "typisch spanische"
Ausruf olé, mit dem im Stierkampf der Torero angefeuert wird,
stammt nicht aus dem Spanischen, sondern aus einem arabischen
Wort: Allah ("Oh, Gott!"; desgleichen leitet sich der
emphatische spanische Ausruf ojalá = "oh, möge doch" vom
Arabischen ab: en scha Allah = "so Gott will").
Im Gegensatz zu vielen anderen Spielen und
Freizeitbeschäftigungen zeichnet das Schachspiel Regeln aus, die
in besonderer Weise den menschlichen Verstand herausfordern und
auf den Zufall als Spielprinzip verzichten. Dieses Spiel war
daher mit den religiösen Vorschriften vereinbar, nach denen in
allen drei Buchreligionen Glücksspiele nicht nur verpönt waren,
sondern sogar verboten wurden, für die Christen erstmalig auf
der Synode von Elvira (Granada, um 306 - 314) und später im
Codex Iustinianus (529). Viele große Denker und Dichter aller
drei Religionen haben sich dagegen ausführlich mit dem "Geist
des Schachspiels" befaßt und es als Metapher für Leben und Tod
gedeutet. Auch im Don Quijote wird der Vergleich zwischen dem
Schachspiel und dem Menschen bemüht, wenn Sancho Panza in seiner
formelhaften Redeweise bemerkt, daß das Schachspiel ein Spiel
sei, wo jeder Stein, solang das Spiel dauert, seine besondere
Verrichtung hat und, wenn das Spiel zu Ende ist, alle vermischt
und zusammengelegt und untereinander geworfen und in einen
Beutel gelegt werden, wie man die Toten ins Grab legt. Don
Quijote kann seinem Diener nur zustimmen: Von Tag zu Tag,
Sancho, sagte Don Quijote, nimmst du an Einfalt ab und an
Verstand zu. Bei dieser "Weisheit" des Sancho Panza handelte es
sich allerdings um einen bereits seit Jahrhunderten verbreiteten
Topos; so hieß es schon in der Summa collacionum des
christlichen Autors Johannes Gallensis (1260), daß die Welt
einem Brett mit weißen und schwarzen Feldern gleiche, auf denen
die Menschen wie Schachfiguren verschiedene Plätze einnehmen,
und daß die Figuren zum Spiel aus dem Sack geholt und auf das
Brett gestellt würden, daß aber nach dem Spiel auf alle –
ungeachtet ihrer Stellung im Leben wie im Spiel – derselbe Ort
warte. Auch unter den Muslimen gab es tiefsinnige Deutungen des
Schachspiels, etwa als Dualismus der Welt im Kampf des Guten
gegen das Böse, symbolisiert durch die Farben "Weiß" (bzw.
"Rot") und "Schwarz", oder als Symbol des Schicksals, das ohne
Unterschied alle Menschen treffen kann; der andalusische Dichter
Ibn al-Labban schrieb angesichts des aus Sevilla vertriebenen
maurischen Königs al-Mutámid: Wir liegen in den Händen Fortunas
wie die Steine des Schachspiels, in dem der König oft vom
kleinen Bauern geschlagen wird.
Auch der kastilische König Alfons der Weise,
der in der zweiten Übersetzerschule von Toledo im 13.
Jahrhundert die enge Zusammenarbeit zwischen Christen, Muslimen
und Juden förderte, um sich die Erkenntnisse der arabischen
Wissenschaften und die Errungenschaften der orientalischen
Kultur begierig anzueignen, hat sich zur Philosophie des
Schachspiels in einem oft zitierten Vorwort seines
"Schachzabelbuchs" geäußert: In den alten Büchern heißt es, daß
in Großindien ein König lebte, der die Weisen sehr liebte und
sie immer an seiner Seite hielt und sie oft veranlaßte, die
Ursachen und Folgen der Dinge zu erklären. Es waren ihrer drei,
und sie lehrten voneinander abweichend. Der eine sagte, daß
Verstand mehr wert sei als Glück. Der andere sagte, daß Glück
mehr wert sei als Verstand. Der dritte sagte, daß am besten
lebe, wer beides genieße; der rechte Weg sei, den Verstand zu
benutzen, wenn man begreife, daß er zum Vorteil gereiche und,
wenn man Glück habe, es gut zu nützen und sich dabei vor Schaden
möglichst zu hüten. Und der Weise, der für den Verstand
eingetreten war, brachte das Schachspiel. Und der zweite, der
sich an das Glück hielt, brachte die Würfel. Der dritte, der
gesagt hatte, daß Verstand und Glück gemeinsam vorzuziehen
wären, brachte das Spielbrett mit seinen Steinen und den
Würfeln, die sie beim Spiel bewegen, so wie dieses Buch lehrt,
daß der gute Spieler auch bei widrigen Würfeln durch Vernunft
den Schaden vermeiden kann, den der zufällige Wurf mit sich
bringt. (Holländer)
In diesem "Schachzabelbuch" des kastilischen
Königs bezeugen viele Abbildungen die praktische Convivencia
zwischen den Vertretern der drei Kulturen im Spanien des 13.
Jahrhunderts, nicht nur das gemeinsame Musizieren, Ruhen und
Plaudern, sondern vor allem das gemeinsame Spielen der Christen,
Juden und Mauren. Auf einigen der 150 Miniaturen in dieser
Prachthandschrift, dem schönsten europäischen Schachbuch, haben
einige anonyme Illustratoren auch jüdische Spuren hinterlassen,
darunter ein Tuch mit vier Kordeln, die arbah kanfot, die
religiöse Juden über ihrem Gebetsschal tragen. Daß die Juden
sich im Schachspiel besonders auszeichneten, geht aus einer
maurischen Quelle des 12. Jahrhunderts hervor, in der ein
gewisser al-Yahudi ("der Jude") als der beste Schachspieler
seiner Zeit bezeichnet wird. – Im "Schachzabelbuch" wird auch
eines der interessantesten Schachspiele dargestellt, weil es an
die hochentwickelte Astronomie jener Zeit, aber auch an die
spekulative Zahlensymbolik anknüpft: das "astronomische
Schachspiel". Dieses wird folgendermaßen gedeutet: Das Spielfeld
stellt die Welt dar, der äußere Felderkranz entspricht der
Sonnenbahn, die innersten vier Felder den Zeitaltern und den
Jahreszeiten; die Sonnenbahn ist unterteilt in zwölf
Tierkreiszeichen, der äußere Kranz des Schachbretts stellt die
28 Häuser des Mondes dar; der Wechsel zwischen den jeweils zwei
schwarzen und weißen Feldern im Zentrum entspricht dem Wechsel
zwischen Tag und Nacht; die Figuren auf diesem Weltbrett sind
zwei Heere, die auf dem kosmischen Schlachtfeld miteinander
kämpfen. Die von Alfons dem Weisen wiedergegebenen Regeln für
diese Variante des Schachspiels sind bis heute noch nicht
gänzlich geklärt, doch enthalten sie astronomisch-astrologische
Hinweise auf Planetenbewegungen, Konjunktionen und Horoskope. So
wird die Faszination verständlich, die dieses Spiel auf die
jüdischen Kabbalisten jener Zeit ausübte, vor allem aufgrund der
Analogie zwischen dem Schachbrett und den sogenannten "magischen
Quadraten", die im kabbalistischen Schrifttum häufig vorkommen.
Im christlichen Abendland wurden nicht nur die
Regeln des Schachspiels weiterentwickelt, sondern auch die
Schachfiguren und ihre Bezeichnungen, die sich auch im
Sprichwortschatz erhalten haben. So erklärt sich die spanische
Redensart Ni Rey ni Roque ("Weder König noch Turm") in der
Bedeutung "weder das eine noch das andere" aus den Schachfiguren
des "Königs" (Rey) und des "Turms" (Roque), doch wurde diese
Wendung volksetymologisch umgedeutet zu: "Weder der König [des
Himmels = "Gott") noch der Heilige Rochus". Ein sprachliches
Mißverständnis oder eine christliche Umdeutung liegt auch in der
als "Königin" bezeichneten Schachfigur vor: Diese ursprünglich
"männliche Schachfigur" (bei den Arabern: Wesir) wurde von den
Christen marianisch umgedeutet, indem die persische Bezeichnung
für diese Figur (fersan) in den romanischen Sprachen als ferza
(altkastilisch) bzw. fierce (altprovenzalisch) und schließlich
als vierge (französisch) verstanden wurde, also mit der
etymologisch falschen Bedeutung des lateinischen Wortes virgo
("Jungfrau"); mit der "Jungfrau" konnte aus der Sicht eines
Christen im Mittelalter nur die "Königin des Himmels" (Maria)
gemeint sein. Es verwundert daher nicht, daß das Schachspiel im
christlichen Abendland auf dem Höhepunkt der Marienverehrung
seinen Siegeszug antrat. Eine mariologische und christologische
Deutung des Schachspiels (Königin = Maria, König = Christus)
liegt auch in der mittelalterlichen Erzählsammlung der Gesta
Romanorum (entstanden um 1300) vor. – Während die Rabbiner das
Schachspiel vor allem wegen der Schulung des von Gott
geschenkten Verstandes nicht nur als nützlichen Zeitvertreib für
Kinder, sondern auch für Erwachsene zuließen (viele Anfragen an
Rabbiner belegen, daß das Schachspiel sogar am Sabbat erlaubt
war), konnten die Juden ihren Spieltrieb zusätzlich mit einer
frommen Legende rechtfertigen: Angeblich hatte der kluge
Friedenskönig Salomon das Schachspiel erfunden, weil er beweisen
wollte, daß man Schlachten ohne Blutvergießen gewinnen kann.
Solche Legenden beeinflußten auch die historischen Erzählungen
der christlichen und maurischen Chronisten; so soll der
kastilische König Alfons VI, der im Jahr 1085 die alte
westgotische Hauptstadt Toledo wieder einnahm, gegen dessen
Gouverneur eine Schachpartie und Toledo gewonnen haben;
desgleichen soll sich derselbe König bei einer Belagerung der
Stadt Sevilla wieder zurückgezogen haben, nachdem er gegen Ben
Ammar, den Gesandten des maurischen Königs al-Mutámid, ein
Schachspiel verloren hatte.
Die Weiterentwicklung der Regeln des
Schachspiels zu dem noch heute weitgehend anerkannten Regelwerk
fand an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, einige Jahre nach
der Vertreibung der Juden aus Spanien, wiederum durch einen
Juden statt: Der aus Andalusien stammende Marrane Luis de Lucena
verfaßte das Schachbuch "Hinweise zur Liebe und zur Kunst des
Schachspiels" (Repetición de amores y arte de axedres, Salamanca
1496 oder 1497). In diesem Buch werden 150 Schachprobleme
erläutert. Es handelt sich bei dieser Schrift um das erste
gedruckte Schachbuch in Europa. Der Autor gehörte zu jener
Generation ehermaliger Juden, die 1492 gezwungen worden waren,
zum Christentum zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Den
Inquisitionsakten ist zu entnehmen, daß der Vater von Luis de
Lucena Botschafter der "Katholischen Könige" in Rom war und 1505
von der Inquisition verhaftet wurde, da er des heimlichen
"Judaisierens" verdächtigt wurde; er wurde in Zaragoza
gefangengesetzt, später allerdings wieder freigelassen.
Daß das Schachspiel sich nach der Vertreibung
der Juden gerade unter den Conversos besonderer Beliebtheit
erfreute, wird auch aus der Lebensgeschichte und dem religiösen
Verständnis der Hl. Theresia von Ávila (1515-1582) deutlich:
Theresias Vater war als Kind zwar zum Christentum konvertiert,
doch wurde in ihrer Familie die in jüdischen Kreisen verbreitete
Liebe zum geistreichen Schachspiel an die nächste Generation
weitergegeben. Theresia begeisterte sich für das Schachspiel und
bediente sich in ihren mystischen Schriften des Vergleichs
zwischen ihrer Vorstellung von der unio mystica, der Vereinigung
zwischen Mensch und Gott, und dem Spielverlauf, indem sie –
entsprechend der tradierten symbolischen Deutung – die
Schachfigur der "Königin" ebenfalls mit der Gottesmutter und den
"König" mit Christus gleichsetzt; die "Königin" besiegt im
mystischen Sinne der Vereinigung mit Gott ihren Sohn, indem sie
diesen in ihrem Schoß empfängt: Wer beim Schachspiel nicht
einmal die Figuren in Ordnung zu stellen weiß, der wird es
schlecht zu spielen verstehen; und wer nicht Schach bieten kann,
der wird auch nie schachmatt setzen können! Ihr werdet mich
vielleicht tadeln, daß ich von einem Spiele rede, das man in
diesem Kloster nicht hat und auch nicht haben soll. Daraus seht
ihr aber, was für eine Mutter euch Gott gegeben hat, da sie
sogar mit einer solchen Eitelkeit vertraut ist. Man sagt zwar,
dieses Spiel sei zuweilen erlaubt; aber wie weit mehr wird uns
jene andere Art des Spiels erlaubt sein, [...] dem Göttlichen
König Schach zu bieten, so daß er uns nicht mehr entkommen kann
[...]. In diesem Spiele ist es die Königin, die dem König am
meisten zusetzen kann [...]. Diese zog ihn herab in den Schoß
der Jungfrau, und mittels dieser Tugend [der Demut] werden auch
wir ihn wie mit einem Härchen in unsere Seele ziehen. (Seifert)
Wegen ihrer Neigung zum Schachspiel gilt die
Hl. Theresia von Ávila heute in Spanien als "Patronin der
Schachspieler" – eine marranische Spur ganz besonderer Art. |