Shareen Blair Brysac:
Mildred Harnack und die "Rote Kapelle"
Scherz Verlag 2003
Euro 26,90
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Mildred Harnack und die "Rote Kapelle":
Eine Liebe zu Deutschland
Eine Biografie zeichnet das Leben von
Mildred Harnack nach, einem Mitglied der Roten Kapelle...
Von Silke Kettelhake
Jungle World vom
18.02.2004
"Und ich habe Deutschland so geliebt." Das sollen die
letzten Worte der 40jährigen Amerikanerin Mildred Fish-Harnack gewesen
sein. Am 16. Februar 1943 um 18 Uhr 57 wurde die
Literaturwissenschaftlerin in Berlin-Plötzensee wegen "Hochverrats"
hingerichtet. Einige Monate zuvor, im Dezember 1942, war ihr Mann am
selben Ort gehängt worden.
Aus dem Freundeskreis von Arvid und Mildred Harnack und des
Ehepaares Schulze-Boysen entstand in den dreißiger Jahren ein weit
verzweigtes Widerstandsbündnis gegen den Nationalsozialismus. Die
Gestapo bezeichnete die Vereinigung als "Rote Kapelle", vermutete sie
doch dahinter einen von der Sowjetunion unterstützten Spionagering.
Die amerikanische Journalistin Shareen Blair Brysac
recherchierte sechs Jahre lang in erstmals zugänglichen osteuropäischen
Archiven, in Akten des FBI, des CIC und des CIA, in persönlichen
Aufzeichnungen und Briefen den Weg der Mildred Harnack in den
Widerstand. Sie verfolgt exemplarisch ein Einzelschicksal innerhalb der
Widerstandsgruppe: Im Gegensatz zu vielen anderen Veröffentlichungen,
die die Verhörprotokolle der Gestapoakten zur Grundlage ihrer Recherche
nahmen, wie zum Beispiel der thrillerartige Text "Kennwort Direktor" des
Spiegel-Redakteurs Heinz Höhne Ende der sechziger Jahre oder der
Spionageroman "Auf den Spuren der Roten Kapelle" von Gilles Perrault,
nimmt sich Shareen Blair Brysac einfühlsam der Beweggründe und der
Entwicklung Mildred Harnacks an. Gelungen ist ihr eine geradezu
filmische Verdichtung eines Zeitenbildes der Angst und des Terrors. Man
meint, während des Lesens mit Mildreds Augen durch die zunehmend
bedrohlicher wirkenden Berliner Straßen zu gehen, immer in Angst vor der
Entdeckung der konspirativen Arbeit, immer im Hinterkopf die drohende
Verhaftung und das Schwinden der Hoffnung. Wem trauen? Wohin sich
wenden?
Das Polizeifoto der Gestapo, das nach ihrer Verhaftung
entstand, zeigt eine verhärmte Frau mit spitzem Kinn und strengem
Haarknoten. Von der ehemals gerühmten Schönheit ist nichts mehr
geblieben, die über mehrere Jahre währende Anspannung hat ihren Tribut
gefordert.
Ihre Liebesheirat mit Arvid Harnack führt die
schwärmerische Literaturstudentin aus Milwaukee/Wisconsin in eine der
liberal-bürgerlichen Akademikerfamilien Deutschlands. Doch sie behält
ihren Mädchennamen und ihre Selbstständigkeit bei, in Deutschland nennt
sie sich Harnack-Fish und in den USA Fish-Harnack. Sie promoviert in
amerikanischer Literatur, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Sie
genießt das intellektuelle Umfeld der Harnacks – die Familien Bonhoeffer
und Delbrück gehören zu den Freunden des Hauses – und macht
Übersetzungen. Ein schönes, reiches Leben, trotz materieller
Schlichtheit, wie es schon bald in Deutschland nicht mehr möglich sein
sollte. Der Nationalsozialismus gewinnt zunehmend Einfluss, was Mildred
am 1. Februar 1930 in einem Brief an ihre Mutter auf die schlechte
wirtschaftliche Lage als Folge des Ersten Weltkrieges zurückführt: "Du
kannst dir nicht vorstellen, warum die Deutschen ihre Teller so sauber
kratzen."
Mildred arbeitet ab 1930 an der Berliner
Friedrich-Wilhelm-Universität als Dozentin für amerikanische und
englische Literatur. Nach dem Zusammenbruch der Börsen 1929 waren Arvid
und Mildred überzeugt, in der aufstrebenden Sowjetunion ein
Paradebeispiel der neuen Wirtschaftsentwicklung gefunden zu haben.
Mehrere Reisen lassen Arvid immer begeisterter zurückkehren, während
Mildred dort sehr wohl die Diskrepanzen des stalinistischen Regimes
wahrnimmt. Mitte der dreißiger Jahre gerät das Ehepaar zunehmend in eine
gesellschaftliche Isolation, viele seiner besten Freunde emigrieren. Sie
könnte in die USA zurückkehren, will aber ihren Mann nicht zurücklassen,
der, inzwischen Mitglied der NSDAP, beginnt, im Wirtschaftsministerium
Karriere zu machen – und zugleich Informationen nach Moskau weitergibt,
wie Brysac in Harnacks sowjetischer Akte nachlesen konnte. Dass diese
brisanten Geheimnisse eine Beziehung belasten, steht bei Brysac zwischen
den Zeilen. Vielmehr entsteht der Eindruck einer aufopferungsvollen
Frau, die in ihrer Freizeit zusätzlich am ersten Abendgymnasium
Deutschlands Erwachsene unterrichtet.
Unter dem Eindruck des beginnenden Krieges intensivieren
die beiden ihre Suche nach Gleichgesinnten. In dem jungen Ehepaar
Schulze-Boysen finden sie ein Pendant, das allerdings Lebenslust wie
Labilität in sich zu vereinen scheint. Harro Schulze-Boysen versucht
ebenso wie Arvid, im System Karriere zu machen: Als Oberleutnant im
Luftwaffenführungsstab hat Schulze-Boysen Zugang zu geheimen Dokumenten.
Er und Harnack kooperieren mit einem in Berlin tätigen Mitarbeiter des
sowjetischen Nachrichtendienstes. Schulze-Boysen berichtet ihm über die
deutschen Angriffspläne. Sie versuchen, Moskau per Funk zu informieren,
doch die Bemühungen sind derart amateurhaft, dass nur ein Gruß sein Ziel
erreicht. Doch die Berliner Sektion ist Teil eines europaweiten
Spionagenetzes – und fliegt durch einen Zufall auf.
Mildred Harnack-Fish gehörte zu einer Lost Generation
linksgerichteter, begabter, idealistischer Frauen, deren Namen erst
lange Jahre später in der Öffentlichkeit eine Bedeutung erhielten,
ähnlich einer Marina Zwetajewa, einer Milena Jesenská und vielen
anderen.
52 der 139 Verhafteten der Roten Kapelle waren Frauen,
Frauen, die nicht im Schatten ihrer Männer standen: Da war Libertas
Schulze-Boysen, die in der Reichskulturkammer Zeugnisse des Genozids
sammelte, da war die Ärztin Elfriede Paul, die Juden und anderen
Verfolgten half, da war die Tänzerin Oda Schottmüller, die die
Funkgeräte versteckte, da war die Schauspielerin Martha Husemann, die
Wirtschaftswissenschaftlerin Greta Kuckhoff, da waren die
Abendschülerinnen, die sich um Mildred Harnack sammelten. Junge Mädchen
wie Liane Berkowitz, die sich an Plakataktionen beteiligte, und wie die
kommunistisch geprägte Hilde Coppi, die nach der Geburt ihres Kindes
hingerichtet wurde, und viele mehr. Die "Rote Kapelle" stand in Kontakt
mit anderen Regimegegnern wie der "Weißen Rose" und den Kreisen um die
Attentäter des 20. Juli 1944, doch als außergewöhnlich ist hier der
Anteil der trotz unterschiedlicher sozialer Herkunft hoch aktiven Frauen
zu vermerken.
In der DDR wurde der Widerstandsgeist der Roten Kapelle
heroisiert – Schulen und Straßen nach Widerständlern benannt,
Briefmarken gedruckt – und so die Verbreitungsstrategie vermeintlicher
kommunistischer Ideale initiiert. 1969 wurde Mildred Harnack posthum der
sowjetische Orden des Großen Vaterländischen Krieges verliehen
Noch über zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs führte das CIA eine geheime Akte, um mögliche Überlebende
aufzuspüren – in der Vermutung weiterreichender Spionageverbindungen zum
Erzfeind des Kalten Krieges.
hagalil.com
19-02-04 |