Gerüchte über die Juden:
Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle
Verschwörungstheorien
Eine Rezension von Karl Pfeifer
Das von Hanno Loewy, Direktor des jüdischen Museums in
Hohenems, herausgegebene Sammelwerk versucht einer breiten Palette von
Themen gerecht zu werden.
Die
bekannte Berliner Antisemitismusforscherin Juliane Wetzel berichtet über
"Antisemitismus in Europa" Zwischen Tradition und Einwanderung – neue
Tendenzen und alte Diskussionen. Sie hat mitgearbeitet an der
Antisemitismusstudie der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und
Xenophobie (EUMC) Wien und berichtet über diese Studie und über ihre Folgen
sowie über die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft. Juliane
Wetzel zeigt den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus und
beschäftigt sich auch mit den heiklen Problemen des "Antisemitismus in den
Zuwanderergesellschaften" sowie "Antisemitismus in globalisierungskritischen
Bewegungen und im Mainstream". Sie schließt ihren äußerst lehrreichen und
aktuellen Artikel mit der Erkenntnis, "dass Antisemitismus nicht durch
Programme im Schnelldurchlauf bekämpft werden kann."
In
seinem Beitrag "Die Diaspora, Israel und der ubiquitäre "Kampf der Kulturen"
zitiert Hanno Loewy Jean-Paul Sartre "Trotz alledem haben die Juden einen
Freund – den Demokraten. Aber er ist ein armseliger Verteidiger", um dann
die ganze Schwäche der links-liberalen Argumentation aufzuzeigen.
Thomas Haury analysiert in "...ziehen die Fäden im Hintergrund" No-Globals,
Antisemitismus und Antiamerikanismus", das was üblicherweise als "linker
Antisemitismus" bezeichnet wird. Wer dieses Phänomen verstehen will, der
muss diesen hervorragend dokumentierten Beitrag lesen, in dem auch die
Berührungspunkte des rechtsextremen und des linken Antisemitismus gezeigt
werden. Es überrascht überhaupt nicht, dass dabei österreichische Gruppen
und Personen eine herausragende Rolle spielen.
Monique Eckmann behandelt "Antisemitismus im Namen der Menschenrechte?"
Migration, europäische Identitäten und die französische Diskussion. Gerade
in Frankreich "wird seit Ende der neunziger Jahre eine zunehmende
Ethnisierung sozialer Konflikte konstatiert." Besonders aktuell ist ihre
Feststellung: "Seit Jahren findet in Frankreich z.B. eine Polemik zwischen
Sozialwissenschaft und Politik statt, wie die Delinquenz, darunter auch
Rassismus und Antisemitismus, bei Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund
einzuschätzen sei. Linken und Sozialwissenschaftlern wird vorgehalten, nur
die Diskriminierungen aufzuzeigen, denen Jugendliche aus Migrantenfamilien
ausgesetzt sind und nicht wahrzunehmen, dass diese Jugendlichen auch Urheber
von Gewalt, durchaus rassistischer Art sein können."
Treffend bemerkt sie: "Für viele Juden und Jüdinnen in Europa ist es
(wieder?) schwierig geworden, im alltäglichen Leben über Judentum und Israel
zu sprechen. Verlegenheit, betretenes Schweigen, vielsagende Blicke, Druck
zur Rechtfertigung – viele fühlen sich isoliert und vermeiden es sorgfältig,
sich als Juden auszugeben, oder über Israel zu sprechen. Viele wagen nicht,
ihre Meinung offen zu sagen, oder fühlen sich verpflichtet, Israel zu
kritisieren, das sie befürchten, sonst auf Ablehnung bei Kollegen oder
Freunden zu stoßen."
Astrid Messerschmidts Beitrag "Antiglobal oder postkolonial?" befasst sich
mit "Globalisierungskritik, antisemitische Welterklärungen und der Versuch,
sich in Widersprüchen zu bewegen".
Kurt
Greussings Arbeit "Von den Judenbildern des Koran zum modernen islamischen
Antisemitismus" belegt, das was die meisten mainstream Medien sorgfältig
verschweigen und stellt fest:
"Heute ist Antisemitismus in islamischen Ländern, was er in Mittel- und
Osteuropa spätestens ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gewesen war:
ein Teil der kulturellen Normalität, ein Stück nicht weiter reflektierter
Alltagskultur. Das gilt wohl auch für einen nicht näher bestimmbaren Teil
der moslemischen Migranten in Westeuropa. Dabei ist da wie dort die reale
Präsenz von Juden nicht entscheidend. Sie dienen als Projektionsfläche zur
Erklärung von Rückständigkeit, Machtlosigkeit, unabwendbarer,
undurchschaubarer Herrschaft. Der Kampf gegen sie wird zum zentralen Motiv
religiöser Mobilisierung und zum Symbol für die erhoffte Befreiung von
materieller Not und (neokolonialer) politischer Abhängigkeit."
Zafer
Senocak resümiert in seinem kurzen und gedankenreichen Text "Türken und
Juden":
"Eine
Sensibilisierung gegenüber den dunklen Kapiteln sowohl der eigenen als auch
der deutschen Geschichte ist für die – nicht nur türkischen – Zuwanderer
unerlässlich. Dabei würde auch die eigenen xenophoben und antisemitischen
Kapazitäten offengelegt und nicht auf "politisch korrekte" Weise
verschwiegen. Für die Generationen "danach" geht es ja nicht um die Frage
der Schuld, sondern um die Bürde der Verantwortung, die Geschichte jedem
Einzelnen auferlegt."
Bernd
Fechlers Beitrag "Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer" über
"Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer
Intervention" sollte nicht nur für jeden Pädagogen Pflichtlektüre sein, denn
er hat kein Lösungspatent, sondern stellt Fragen, die zum Denken anregen.
Werner Dreier beleuchtet in seinem Beitrag den Antisemitismus in Österreich
insbesondere im Schulbetrieb und sogar in Schulbüchern. Seinen Artikel
illustriert er mit einer unglaublichen Karikatur aus einer Grazer
Tageszeitung.
Richard Bartholomew prangert "Eine seltsam kalte Zuneigung" an. Er befasst
sich mit christlichem Zionismus, Philosemitismus und "die Juden". Seine
Schlussfolgerung: "Solange Juden bloße Figuren in jemandes anderen
Geschichte bleiben, kann es keinen wirklichen Dialog und keine wirkliche
menschliche Begegnung zwischen Juden und Christen geben. Doch wirkliche
menschliche Begegnung ist der einzige Weg, auf dem Antisemitismus endlich
ausgetilgt werden kann."
Frank
Stern setzt sich mit Mel Gibsons Jesus Film kritisch auseinander.
Yves
Kugelmann stellt in seinem Beitrag über die Schweiz fest: "Juden werden auch
hierzulande immer noch negativer und positiver bewertet als andere Menschen
in gleichen Situationen, werden positiv und negativ ausgegrenzt, und
Normalität zur jüdischen Minderheit existiert nach wie vor nicht. Überspitzt
gesagt: Die einen wollen die Juden jetzt loswerden, die anderen
irgendwann in der fernen Zukunft im Umfeld von Endzeitverheißungen, sobald
sie die Juden nicht mehr brauchen.
Juden
können wählen zwischen Antisemitismus, Philosemitismus und Gleichgültigkeit.
"
Ruth
Ellen Grubers Beitrag "Kitsch-Juden", zeigt wie Juden von der Gebrauchskunst
und Souvenirindustrie dargestellt werden.
Holger Gehle setzt sich mit Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers"
kenntnisreich auseinander.
Moshe
Zuckermann bringt in seinem Beitrag "Zwischen Israelkritik und
Antisemitismus" folgendes Pauschalurteil an: "Juden, will es scheinen, haben
deutsche Antisemitismuskritiker nie konkret interessiert. Juden
wurden (und werden) von ihnen stets abstrahiert beziehungsweise in ferne
Regionen außerhalb des unmittelbaren lebensweltlichen Blickfelds und
Zusammenhangs delegiert. So sind Juden als "sechs Millionen" vernichtete
Schoah-Opfer, als exemplarische Holocaust-Überlebende (möglichst im
Ausland), als Träger untergegangener Lebenswelten und Kulturen (vorzüglich
im klezmerbeseelten Osteuropa) oder eben als "wehrhafte Israelis" im
"zionistischen Zufluchtsland des jüdischen Volkes" argumentativ in Anschlag
gebracht worden. Die in Deutschland lebenden Juden werden, insofern sie
nicht schon durch ihr Fremdländisches ein (diskret) unterdrücktes Befremden
auslösen, mehr oder minder ignoriert."
Würde
man im Umkehrschluss zu einer ähnlichen Konsequenz über die Israeli
gelangen, die gegen antipalästinensische Vorurteile ankämpfen, nämlich, dass
die Palästinenser sie nie konkret interessieren, dann würde Moshe
Zuckermann wahrscheinlich heftig protestieren.
Welchen Wert die Einschätzungen des Politikwissenschaftlers Zuckermann haben
kann man auch beurteilen, wenn man bedenkt, wie häufig dieser in Deutschland
zu Wort kommt.
Zum
Beispiel lässt Marcel Pott in seinem 2004 veröffentlichten "Der
Nahost-Konflikt" Moshe Zuckermann als israelischen Kronzeugen gegen Ariel
Sharon auftreten: "Vor allem konnte er [Sharon] das umsetzen, was schon seit
Jahrzehnten sein eigentliches Anliegen ist, nämlich die Palästinenser
niederzukämpfen, ihre Führung zu zerschlagen und das Besatzungsregime zu
zementieren, wenn nötig durch einen massiven Bevölkerungstransfer der
Palästinenser."
Die
Beschuldigung Israel würde einen "Bevölkerungstransfer der
Palästinenser" planen ist ein Stehsatz jeder antiisraelischen Agitation,
braucht durch keine Fakten belegt zu werden, da ja derjenige, der das
aussagt, einen Markt bedient, der jüdisch-israelische Kronzeugen braucht, um
seine eigene Vorurteile bestätigt zu bekommen.
Und
nun schauen wir eine zweite Behauptung von Moshe Zuckermann an: "In der
Logik seiner [Sharons] Gewaltpolitik wird der Terror sozusagen hingenommen,
wenn nur die Siedlungen im Westjordanland unangetastet bleiben. Und diese
müssen unangetastet bleiben, weil Sharon sonst seine politische Macht sofort
verlöre. Die treuesten Anhänger hat Sharon ja in der Siedlerbewegung".
Die
Realität hat diese Aussagen radikal widerlegt.
Sicher gibt es unter denjenigen, die in den deutschsprachigen Ländern sich
150% mit Israel identifizieren problematische Personen und Positionen, aber
das kann und darf uns nicht abhalten davon, uns in erster Linie mit dem hier
verwurzelten Antisemitismus zu befassen, den Zuckermann aus ideologischen
Gründen auf ein paar Rechte beschränkt sehen will. In diesem Sinne leistet
der Sammelband, in dem auch der interessante Beitrag von Dan Diner über
Israel, Palästina und die Frage eines "neuen Antisemitismus" erschienen ist,
einen wertvollen Beitrag und verdient weite Verbreitung.
hagalil.com
06-11-05 |