
Durch den Horizont sehen
Lernen und Erinnern im interreligiösen Dialog
Herausgegeben von Vito Palmieri, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt und
Wolfgang Wippermann
Ca. 200 Seiten, kartoniert
Wichern Verlag 2005
Euro 15,-
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Helmut Eschwege:
Fremd unter Meinesgleichen
Von Martin Jander
"Fremd unter Meinesgleichen" hat Helmut Eschwege seine 1991 erschienenen
Lebenserinnerungen genannt.(1) Fremd ist er der DDR vor
allem durch eines geblieben: er forschte, schrieb und publizierte unter
vielen Schwierigkeiten über die Shoah. (2) Der
Faschismus, der kommunistische Widerstand und der Krieg gegen die
Sowjetunion wurden in der DDR öffentlich breit behandelt. Die jüdische
Geschichte dagegen, der Antisemitismus, die Diskriminierung, Entrechtung,
Enteignung, Deportation, Vernichtung und der Widerstand europäischer Juden
wurden, so wie Eschwege sie aufschrieb, mit nur ganz wenigen Ausnahmen
weitgehend tabuisiert.
Niemand war über diesen Konflikt mehr erstaunt als Eschwege selbst. Der 1913
in Hannover geborene und 1937 nach Palästina emigrierte Sozialist war
schließlich - gegen den Rat vieler Freunde aus Palästina - nach dem Ende des
Nationalsozialismus bewusst in die sowjetische Besatzungszone (SBZ)
zurückgekehrt. Nur dort hoffte er auf ein besseres, ganz anderes und neues
Deutschland. Vor seiner Emigration gehörte Eschwege der Sozialdemokratischen
Partei (SPD) an, in Palästina jedoch war er der Kommunistischen Partei (KPP)
beigetreten. Nach seiner Rückkehr 1946 wurde er
Mitarbeiter in der Landesleitung Sachsen der Sozialistischen Einheitspartei
(SED) in Dresden.
Noch 1945 hatte er dem späteren Mitglied der KPD-Führung Paul
Merker den Rat gegeben, eine deutsche Regierung solle folgende Erklärung
abgeben: "Das deutsche Volk erwartet, dass das Vertrauen der Juden zu ihm in
der Zukunft zurückkehren möge. Dies hofft es durch seine künftige Führung
und Taten zu beweisen. Das deutsche Volk anerkennt durch aktive oder passive
Beteiligung in seiner überwiegenden Mehrheit am Hitlersystem seine Schuld
gegenüber den Juden und hofft, den wenigen überlebenden Juden und jüdischen
Gemeinschaften durch weitgehende Wiedergutmachung der wirtschaftlichen und
körperlichen Schäden einen Teil seiner Schuld abzutragen." (3)
Diese Haltung setzte sich jedoch in der SED nicht durch. Nach der
ursprünglichen Unterstützung der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948
und der Arbeit an einem Entschädigungsgesetz, der sich u. a. auch Paul
Merker angenommen hatte, startete die SED sogar eine massive
antizionistische und antisemitische Kampagne, in deren Verlauf sie die
jüdischen Gemeinden der DDR als "fünfte Kolonne" des US-Imperialismus
bezeichnete. Merkers Gesetzesvorschlag der Entschädigung aller Juden
titulierte die SED als Versuch der
"Ausplünderung Deutschlands" und der "Verschiebung
deutschen Volksvermögens" an "jüdische Kapitalisten".(4)
Merker wurde inhaftiert und später in einem Geheimprozess verurteilt. Die
Parteizeitung Neues Deutschland formulierte: "Es unterliegt keinem
Zweifel mehr, dass Merker ein Subjekt der USA-Finanzoligarchie ist, der die
Entschädigung der jüdischen Vermögen nur forderte, um dem USA-Finanzkapital
das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen. Das ist die wahre Ursache
seines Zionismus." (5) Viele Juden flohen
angesichts dieser massiven antisemitischen Kampagne im Winter 1952/53 aus
der DDR.
Diese Kampagne der SED
ist in der DDR ein tabuisiertes Thema geblieben. Auch die Aufarbeitung der
DDR-Geschichte seit 1989 hat sich darum nur selten gekümmert. (6)
Für Eschwege jedoch hatte sie eine entscheidende Bedeutung: der ursprünglich
als Kaufmann ausgebildete Sozialist beschloss Historiker zu werden. Er
gehörte zu den wenigen Menschen in der DDR, die über den Antisemitismus in
der SED nicht nur in geschlossenen Räumen sprachen. Ebenfalls stellte er
laut und öffentlich die Israelfeindschaft der offiziellen DDR-Außenpolitik
und ihre Unterstützung der PLO in Frage.
Eschwege, der bei der
Eintragung in seine SED-Parteidokumente darauf beharrt hatte seine
Nationalität als "jüdisch" und nicht als "deutsch" anzugeben, wurde 1953 aus
der Partei ausgeschlossen und verlor seine 1952 errungene berufliche
Position als Abteilungsleiter im Museum für deutsche Geschichte. Später fand
er zunächst eine Stelle als Bibliothekar und noch später als Dokumentarist
der Sektion Marxismus-Leninismus an der Technischen Universität Dresden.
Gegen den Rat enger Freunde hatte er beschlossen in der DDR zu bleiben. An
seinen eigenen Publikationen konnte er nur in der Freizeit arbeiten.
In seiner Autobiographie
hat er die jahrzehntelangen Schikanen beschrieben, mit denen die SED seine
Forschungen behinderte und zu zerstören versuchte.
Seine Dokumentation über Diskriminierung, Entrechtung und Vernichtung der
Juden im Nationalsozialismus "Kennzeichen J" konnte erst nach 1966 in der
DDR erscheinen. Die von Eschwege zusätzlich erarbeitete Analyse der
Verfolgung und Vernichtung der Juden blieb ungedruckt. Auch sein
international beachtetes Buch "Die Synagoge in der deutschen Geschichte"
(1980) lag zwölf Jahre beim
Verlag und
musste mehrfach umgearbeitet werden. Die Untersuchung "Selbstbehauptung und
Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde
1933-1945" (1984) konnte, überarbeitet von dem Historiker Konrad Kwiet, nur
in der Bundesrepublik erscheinen. Für sein Manuskript "Geschichte der
jiddischen Sprache und Literatur" interessierte sich nur die Bibliothek
Germanica Judaica in Köln, der Eschwege es nach erfolglosen
Verlagsverhandlungen auch übergab. Sein Werk über die Geschichte der Juden,
die vor der DDR in Mitteldeutschland gelebt hatten und das Manuskript über
die Geschichte der jüdischen Friedhöfe in der DDR blieben ebenfalls
unveröffentlicht. Nur Kopien der Manuskripte sind noch in einigen
Bibliotheken der Ex-DDR vorhanden. Eschwege publizierte zu diesen Themen
jedoch ebenfalls im Westen. (7)
Der Historiker
korrespondierte bei seinen Recherchen mit Instituten, Museen und
Persönlichkeiten in der ganzen Welt. Seine Publikationen machten ihn schon
bald zu einem international geachteten Forscher.
"Er betrieb" – wie die Historikerin Hartewig resümierte – "auf
unkonventionellen Nebenpfaden als Einzelgänger Kulturpolitik auf eigene
Faust…" (8) International erhielt er
auch schon bald die Anerkennung, die ihm die DDR verweigerte.
Selbstverständlich wurden seine Aktivitäten auch vom Ministerium für
Staatssicherheit (MfS) beobachtet. Er wurde im Operativvorgang (OV)
"Zionist" bearbeitet. (9)
Eschwege hatte trotz
aller Behinderungen auch in der DDR einen über die jüdische Gemeinschaft
hinausreichenden Wirkungskreis. Seit 1965 war er auch in den verschiedensten
Arbeitskreisen für christlich-jüdische Zusammenarbeit und bei Tagungen der
Aktion Sühnezeichen häufig als Referent anzutreffen. Wie man aus den
Erinnerungen verschiedener Bürgerrechtler weiß, hatte er dadurch auch großen
Anteil an der Ermutigung junger Menschen zur Auseinandersetzung mit dem
Thema Shoah. (10) Nicht umsonst verlieh ihm der
Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit
der Bundesrepublik am 11. März 1984 in Worms, zusammen mit dem Leipziger
Pfarrer Siegfried Theodor Arndt, die Buber-Rosenzweig-Medaille. Eschwege
schrieb dazu: "Die Auszeichnung … war natürlich vor allem eine Auszeichnung
der vielen Aktivitäten christlich-jüdischer Gruppen in der DDR, die unter
verschiedenen Namen agieren und im Bund der Evangelischen Kirchen
zusammengefasst sind." (11)
Die Schikanen denen
Eschwege ausgesetzt war, hatten einen wesentlichen Grund: jede Publikation
zum Thema Juden, Shoah und Deutschland brachte in der DDR erneut zu
Bewusstsein, dass der antifaschistische Staat sich bis zum Ende weigerte,
alle von den Nationalsozialisten geschädigten Juden bzw. ihre Nachkommen
vollständig zu entschädigen bzw. das "arisierte" Eigentum rückzuerstatten.
Auch eine Aufbauhilfe für Israel wurde zurückgewiesen. Erst die frei
gewählte Volkskammer der Nach-Wende-DDR bekannte sich für die gesamte
deutsche Geschichte verantwortlich und im Zuge des Einigungsvertrages wurde
im Jahr 1990 auch die "Rückerstattung-Ost" auf den Weg gebracht.(12)
Eschwege wollte trotzdem
bis zum Ende der DDR nicht daran glauben, dass die SED ihre Ansichten zum
Antisemitismus und ihre Haltung zu Israel nicht ändern könnte. Er erkannte
wohl auch deshalb kein Problem darin, sich als informeller Mitarbeiter (IM
"Ferdinand") für das MfS anheuern zu lassen. Der erste Kontakt kam durch
schlichte Erpressung zustande: Eschwege wollte seine nicht nach Deutschland
zurückgekehrten Schwestern und seine Mutter in Israel besuchen. Die SED
wollte ihn ursprünglich nicht reisen lassen, das MfS stimmte zu, band seine
Zustimmung jedoch an die Bereitschaft des Historikers Berichte zu schreiben.
Seine Berichte verfasste
Eschwege dann nicht selten mit einer gehörigen Portion Hintersinn: ihn
bewegte "der Ehrgeiz mit seinen Reiseberichten maßgeblich auf das
Israel-Bild der Staatssicherheit und der SED Einfluss zu nehmen."(13)
Freilich gehörte Eschwege in den 80er Jahren auch zu den wichtigsten
Informanten des MfS in den jüdischen Gemeinden und über ihren langjährigen
Verbandsvorsitzenden Helmut Aris. Selbst den Aufruf der - sich in der
DDR-Wende neu gründenden - Sozialdemokratischen Partei, zu deren
Mitbegründern Eschwege in Dresden selbst gehörte, überreichte er noch seinem
MfS-Offizier.
Heute erreicht man die immer noch lesenswerten Bücher von Helmut
Eschwege und seine Autobiographie leider nur noch in Antiquariaten.
Insbesondere seine Dokumentation "Kennzeichen J" lässt sich auch heute noch
gewinnbringend in der politischen Bildung zum Nationalsozialismus verwenden.
Das wohl
maßgebliche Verdienst von Helmut Eschwege besteht darin, dass er im
Widerspruch zum offiziösen Antifaschismus der DDR, die antisemitischen
Beweggründe der nationalsozialistischen Politik sichtbar machte, die
weitgehend tabuisierte Geschichte und Geschichtsschreibung von und über
Juden in der DDR mit eigenen Beiträgen bereicherte und damit die durch den
Nationalsozialismus fast vollständig abgerissene Tradition jüdischer Kultur
in der DDR fortführte. Er hat die DDR nicht lange überlebt. Helmut Eschwege
starb 1992.
Dr. Martin
Jander studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der
Freien Universität Berlin. Er arbeitet als Historiker, Erwachsenenbildner
und Journalist zu den Themen Politische Theorie, Shoah, Nationalsozialismus,
SED-Diktatur und Opposition sowie westdeutsche Nachkriegsgeschichte. Siehe:
www.unwrapping-history.de
Anmerkungen:
(1) Helmut Eschwege, Fremd unter meinesgleichen.
Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991.
(2) Zur Biografie Eschweges siehe auch: Karin Hartewig,
Zurückgekehrt – Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, Weimar
und Wien 2000, S. 186ff.
(3) Erklärungsentwurf von Helmut Eschwege, zitiert nach:
Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung, Berlin 1998, S. 106.
(4) Zu den Vorwürfen gegenüber Merker und den jüdischen
Gemeinden: Thomas Haury, Antisemitismus von links, Hamburg 2002, S. 293ff.
(5) Neues Deutschland, 4.1.1953.
(6) Mario Kessler, Verdrängung der Geschichte,
Antisemitismus in der SED 1952/53, in: Moshe Zuckermann (Hrsg.), Zwischen
Politik und Kultur – Juden in der DDR, Göttingen 2002, S. 34ff.
(7) Siegfried Theodor Arndt, Helmut Eschwege, u. a., Juden
in der DDR, Duisburg 1988.
(8) Karin Hartewig, a.a.O., S. 194.
(9) Horst Seferens, Heimliches Schielen auf den
"Stützpunkt des Gegners", Jüdische Allgemeine, 22.10.92, S. 15f.
(10) Siehe z.B.: Konrad Weiß, Eine Fahrt nach Auschwitz,
in: Horch und Guck (Heft 44, 2003/4), S. 1ff.
(11) Helmut Eschwege, a.a.O., S. 176.
(12) Jan Phillip Spannuth, Rückerstattung Ost, Freiburg
2001.
(13) Karin Hartewig, a.a.O., S. 192.
hagalil.com
20-03-04 |