
Harald Haury:
Von Riesa nach Schloß Elmau.
Johannes Müller (1864-1949) als Prophet, Unternehmer und Seelenführer
eines völkisch naturfrommen Protestantismus
Gütersloher Verlagshaus 2005
Euro 39,95
Bestellen? |
Johannes Müller:
Von Riesa nach Schloß Elmau
Von
Christopher Koenig
Erschienen in:
H-Soz-u-Kult, 02.09.2005
Johannes Müller gehört zu den schillerndsten Figuren
des freien Protestantismus zwischen wilhelminischem Kaiserreich und
Nationalsozialismus. In den Weimarer Jahren bekannt als Gründer und
Leiter von Schloß Elmau, einem religiös-lebensreformerischen
Erholungsheim vor spektakulärer Alpenkulisse, war Müller bereits in den
späten 1890er Jahren weit über die bildungsbürgerlichen,
liberaltheologisch geprägten Zirkel hinaus als umstrittener religiöser
Schriftsteller und Vortragsreisender geläufig, was mit einem
erstaunlichen Erfolg auf dem protestantischen Buchmarkt einherging.
Seine 'Grünen Blätter', eine religiöse
Vierteljahrsschrift, sowie zahlreiche Einzelpublikationen erreichten
hohe Auflagen und Beachtung auch jenseits der Grenzen des kirchlichen
Protestantismus. Müller verschmolz christliche Traditionselemente mit
lebensreformerischen Idealen und völkischen Versatzstücken zu einer
Legierung, die ihm in Reihe mit Paul de Lagarde, Gustav Frenssen oder
Arthur Bonus den Ruf eines "Kirchenlehrers deutschchristlicher Kreise"
einbrachte, ein Image, das in Müllers Begeisterung für die politischen
und kirchlichen Umwälzungen des Jahres 1933 eine Bestätigung finden
konnte.
Harald Haury hat Johannes Müller nun zum ersten Mal eine
eingehende historische Untersuchung gewidmet. Grundlage seiner Arbeit
bildet eine biographische Übersicht über Müllers Leben und Werk,
allerdings mit Einschränkung auf das Kaiserreich. Diese Entscheidung ist
nicht nur nachvollziehbar wegen der Fülle von Archivmaterial, das Haury
heranzieht, so bearbeitet er neben dem umfangreichen Nachlaß Müllers
z.B. auch Müllers Spruchkammerakte und geht seiner weitgefächerten
Korrespondenz nach. Vielmehr geht es Haury darum, an Müller als einer
typischen Figur des Fin-de-siècle exemplarisch den Aufbruch aus dem
kirchlichen Protestantismus in die "vagierende Religiosität" (Thomas
Nipperdey) der Jahrhundertwende zu beschreiben. An Müllers
Religionsunternehmen und seinem Umfeld soll gerade das Nebeneinander von
Ablehnung, Fortschreibung und teilweise auch intensivem Festhalten an
christlichen Traditionsbeständen untersucht werden. Dabei schließt Haury
an die laufende Diskussion um Abbruchs- und Erneuerungsprozesse im
protestantischen Milieu an, in der ja seit einigen Jahren nicht mehr nur
einseitig im Gefolge des Säkularisierungsparadigmas die Rückzugsgefechte
des kirchlich-etablierten Christentums nachgezeichnet werden. Haury
greift auf R. Laurence Moores Formel vom "Selling God" zurück, schränkt
dieses Modell eines völlig pluralisierten religiösen Marktplatzes aber
zurecht ein, indem er die prägende Bedeutung religiöser Milieubindungen
recht hoch veranschlagt (19).
Haurys Darstellung nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer
referierenden Übersicht über den kirchlichen Protestantismus und seine
theologischen Problemstellungen im 19. Jahrhundert. Diese
theologiegeschichtliche Kopflastigkeit der Arbeit habe "Programm" (21),
so Haury, der beklagt, "daß viele geschichtswissenschaftliche
Untersuchungen christlicher Religiosität zu Unrecht an der Geschichte
und Begrifflichkeit der Theologie vorbeigehen" (93). In seiner Diagnose
eines "Theologiebedarfs" der Religionsgeschichte folgt Haury der
Feststellung Friedrich Wilhelm Grafs, daß für den europäischen Kontext
"keine Ausdrucksgestalten 'religiösen Bewußtseins' bekannt [sind], die
nicht auch durch theologische Sprachmuster oder dogmatische Ideen
(mit-)konstituiert werden" [1]. Haury geht also die Frage an, wieweit
nicht die außerkirchliche religiöse Vorstellungswelt des Müller-Kreises
letztlich durch ausgewanderte theologische Themen strukturiert ist. Das
soll zum einen einer perspektivischen Verengung auf die Randfigur Müller
entgegenwirken: Müller gab sich zwar die Aura des religiösen
Außenseiters, folgte in seiner Forderung nach einem individualisierten
Christentum aber einem auf breiter Basis geteilten theologischen
Anliegen. Zum anderen – und das stellt einen besonders anregenden Aspekt
seiner Arbeit dar – kann durch die Einbettung von Müllers Botschaft in
zeitgenössische theologische Diskussionsverläufe transparent werden,
welche Erwartungen und Bedürfnisse Müller als Grenzgänger des
kirchlichen Protestantismus bei seinem damaligen Publikum erwecken und
befriedigen konnte und wie sich um seine, mitunter mit
prophetisch-autoritativem Gestus vorgetragene Christentumsinterpretation
eine langjährige Jüngergemeinde konstituierte. Trotz biographischer
Passagen steht also Müllers Publikum im Vordergrund unter der
Fragestellung, ob es nicht durch eine bestimmte kirchliche Herkunft und
religiöse Vorprägung für seine theologisch angeleitete Krisendiagnostik
besonders empfänglich war.
Haury wendet sich zunächst dem Werdegang Müllers und
seiner Karriere als "religiöser 'Freiberufler'" (15) zu. Dazu greift er
auf die Autobiographie Müllers zurück, die sich vielfach als eine
umgekehrte Konversionserzählung liest, welche mit Konsequenz auf Müllers
außerkirchliche Sendung zuläuft. Haury arbeitet aber heraus, wie sehr
die sukzessive, teilweise quälende Ablösung vom elterlichen religiösen
Milieu mit einer Fortwirkung seiner neupietistischen Herkunft
zusammenspielte. Müller stammte aus einem von der Erweckungsbewegung
geprägten Elternhaus, dessen Leben sich "weithin zwischen Schule, Kirche
und Rettungshaus" (49), einer erwecklich-missionierenden
Jugendeinrichtung, abspielte. Er studierte in Leipzig und Erlangen
Theologie, also an zwei Fakultäten, die zutiefst vom neulutherischen
Konfessionalismus geprägt waren. Seine erste Anstellung erhielt er beim
lutherischen 'Centralverein zur Mission unter Israel', wo er sich vor
allem einige Routine als öffentlicher Redner erwarb, sich zunehmend aber
auf eine missionierende Apologetik unter den "entkirchlichten
Gebildeten" richtete. Während dieser Vortragstätigkeit in einem
konservativ-theologischen Rahmen arbeitete Müller an einer
philosophischen Dissertationsschrift zu Descartes und Spinoza, die sich
wie eine Absage an das in Müllers Herkunftskreisen noch sehr präsente
orthodoxe Verständnis der Erbsündenlehre liest (57). Müller ging hier
auf Distanz zum Neupietismus als – wie er in seinen Erinnerungen
formulierte – einer "Zuchthausform des Christentums" (61), wo er eine
formalisiert-emotionale Frömmigkeit erlebt hatte, die forcierend mit
Christus auf eine innere Neugeburt hinstrebte. Diese Grundstruktur gab
Müller jedoch auch nach seiner Ablösung aus dem traditionellen
Protestantismus nicht auf, wie Haury herausstellt: Der Fokus auf ein
befreiendes Erweckungserlebnis, die "persönliche Einwirkung Gottes auf
die Seele des Menschen" (69), die sich aus der Begegnung mit einem
undogmatischen Jesus ergebe, blieb auch in seiner freien Verkündigung
erhalten.
Haury schlägt nun den Bogen zurück zu seiner
religionshistorischen Programmatik, indem er in einem ausführlichen
Kapitel eine theologische Systematik von Müllers "lebenskräftige[r]
Fortbildung des Neupietismus" (61) im Kontext der zeitgenössischen
Religionsdebatten entwickelt. V.a. am Beispiel von Müllers
freireligiösem Erfolgsbuch, den 'Reden Jesu' (insg. 4 Bde., 1909-1933),
einer nacherzählenden Evangelienharmonie, gelingt es Haury, die
religiöse Gemengelage zwischen liberaler Theologie Ritschl'scher
Prägung, religionsgeschichtlichen Einsichten und Erweckungsfrömmigkeit
aufzuzeigen. Das betriff besonders das Festhalten an der
Geschichtlichkeit, Einzigartigkeit und religiösen Notwendigkeit der
Jesusbotschaft: Diese wird zwar von Müller im Kontext der darwinistisch
beeinflußten Popularbiologie der Jahrhundertwende umgebogen auf eine in
Jesus anleitend verwirklichte, natürliche Vitalkraft, behält aber
weiterhin Züge, die auf pietistische Gedankenfiguren zurückverweisen,
etwa, wenn die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nun nicht mehr
kreuzestheologisch verankert aufrechterhalten wird, sondern in
kulturkritischer Wendung als Verstrickung in die Zwänge der
Bürgerkultur, aus der eine von Gott initiierte "Menschwerdung"
herausführe (95ff.). Die kirchliche Heilsgeschichte wird hier umgedeutet
in eine naturgesetzliche Bewegung, die die Welt zum "Reich Gottes"
ausbilden will, in dem sich die Menschen "im Zellgewebe eigenartiger
Persönlichkeiten" in den ihnen bestimmten Gemeinschaftsformen von Ehe,
Familie oder Volk einfügen. Haury beschreibt hier die
Anknüpfungsmöglichkeiten an Müllers "persönliches Leben" sowohl aus dem
liberalprotestantischen Ideal einer christlich vertieften Kultur wie
auch von völkischer Seite. Letzteres lag besonders nahe, weil Müller
sein Erneuerungsprojekt unter dem Stichwort der "Verdeutschung"
firmieren und in seine Verkündigung zahlreiche einschlägige Passagen
über den verderblichen, gesetzlichen Charakter des Judentums einfließen
ließ. Eine besondere Wucht erhielt Müllers Botschaft durch die
Naherwartung einer bald eintretenden, zunächst individuellen, dann aber
gesellschaftlichen Wende.
Als geschulter Redner, erfolgreicher Publizist und mit
privater Unterstützung hatte Müller bald die Mittel versammelt, um sich
1903 mit einem Erholungsheim auf Schloß Mainberg selbständig zu machen
(der Umzug nach Elmau erfolgte 1916). Anhand der Gästebücher und der
Zeugenaussagen der Münchener Spruchkammerakte kann Haury schlüssig die
Zusammensetzung von Müllers festem Publikum rekonstruieren. Mainberg
wurde im wesentlichen von am Bildungsbürgertum ausgerichteten,
evangelischen Angehörigen der gesellschaftlichen Zwischenlagen
frequentiert, die aus einem städtischen Umfeld stammten.
Volksschullehrer, Pfarrer und Künstler bilden die am stärksten
vertretenen Berufsgruppen (137ff.). Haury macht an exemplarischen,
autobiographischen Quellen fest, wie sehr sich Müllers Bewunderer noch
einem kleinbürgerlich-neupietistisch geprägten Milieu verbunden fühlten,
aus dem sie sich aber durch beruflichen Aufstieg entfernt hatten und dem
sie sich auch inhaltlich aufgrund ihres akademisch geprägten Weltbildes
nicht mehr zugehörig betrachteten. Müllers Botschaft bot hier
weltanschauliche Sinngebung, religiösen Halt auf bekannten Pfaden und
Hilfe in persönlichen Lebensfragen.
Harald Haurys Studie führt auf eine dichte und
eindrückliche Weise in das Müller'sche Religionsprojekt am Rande des
verfaßten Protestantismus ein. Spannend wäre es allerdings gewesen, noch
mehr über die Rezeption von und Auseinandersetzung mit
Religionsintellektuellen zu erfahren, die entschiedener als Müller eine
außerchristliche Religiosität suchten. Vielleicht hätte sich durch eine
solche Vorgehensweise auch Haurys religionsgeschichtliche "Programm"
schärfen lassen. Das persönliche und literarische Geflecht, an dem
Müller teilhatte und das sich über Christentumserneuerer wie Friedrich
Lienhard oder Moritz von Egidy, monistisch angehauchten Predigern wie
Wilhelm Bölsche oder Heinrich Driesmans bis hin zur neureligiösen
Nietzsche-Rezeption Horneffers erstreckte, steht leider eher am Rand
dieses ansonsten gelungenen Buches.
Christopher Koenig, Department of Church History,
University of the Protestant Church in the Netherlands, Kampen, The
Netherlands
[1] Graf, F.W., "Die Nation – von Gott 'erfunden'?
Kritische Randnotizen zum Theologiebedarf der historischen
Nationalismusforschung, in: Krumeich, G./Lehmann, H. (Hg.), "Gott mit
uns". Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert,
Göttingen 2000, 285-319, 293.
hagalil.com
06-09-05 |