Esther
Dischereit:
Rauhreifiger Mund oder andere Nachrichten
Vorwerk8-Verlag 2001
Euro 12,00
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Von
Esther Dischereit bereits erschienen:
Bücher:
Esther Dischereit,
Mit Eichmann an der Börse (Essays), Berlin 2001;
dies.,
Übungen jüdisch zu sein (Essays), Frankfurt a. m. 1998;
dies.,
Als mir mein Golem öffnete (Gedichte), Passau 1996;
dies.,
Merryn (Erzählung), Frankfurt a. m. 1992;
dies.,
Joemis Tisch (Erzählung), Frankfurt a. m. 1988;
dies. u. a.,
Südkorea - Kein Land für friedliche Spiele, Reinbeck 1988;
dies.,
Anna macht Frühstück, München 1985
CD:
Esther Dischereit / Raymond Kaczynski,
Ich decke mich zu mit der
Zeit, 2000
Über Esther Dischereits Literatur:
Sander l. Gilman, Jews in today's german culture, Bloomington: Indiana
University Press,1995
Bericht
über einen Workshop zu Esther Dischereits Literatur
Kurzbiographie und Literaturliste von Esther Dischereit im Internet
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Eiszeit:
Ein lesenswerter Gedichtband von Esther Dischereit
Von Martin Jander
Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und mit dem Judentum ist - nach
langer zeit - in der Bundesrepublik Deutschland "hip". Nicht zuletzt die
Eröffnung und geradezu begeisterte Annahme des Museums zur Geschichte
der Juden in Deutschland ist ein Hinweis auf diesen überraschenden
kulturellen Wandel der 1990 neu zusammengepurzelten Bundesrepublik. Was
er zum Ausdruck bringt, bleibt vorerst ungewiss.
Diese
neue kulturelle Konjunktur überdeckt fast die gleichzeitig vorhanden
"üblichen" antisemitischen Strömungen und Tendenzen, die lange
Mißachtung der überlebenden jüdischen Opfer des Nationalsozialismus,
ihrer Kinder und Enkel in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften und
jenen Antisemitismus-wegen-Auschwitz (Broder), der nicht nur
konservative sondern gerade auch wohlmeinende Deutsche aus dem
kommunistischen, sozialdemokratischen, protestantischen und grünen
Milieus ergreift, wenn sie von Erinnerung, Verantwortung und Haftung
genug haben.
Als
Eiszeit, als Leben in bitterer Kälte, der die Erinnerung an die
Ermordeten erst mühsam entwunden werden muss und in der die
Wiederaneigung jüdischer Tradition nur dann gelingen kann, wenn man
durch einen dichten Nebel nicht nur verdeckender Sprache hindurchsehen
lernt, hat deshalb Esther Dischereit in einem neuen Gedichtband
"Raureifiger Mund oder andere Nachrichten" jüdisches Leben in der
nachnationalsozialistischen Tätergesellschaft beschrieben.
Die
1952 in Heppenheim geborene Schriftstellerin, die in Frankfurt studierte
und seit den achtziger Jahren in Berlin lebt, hat bereits in mehreren
Erzählungen, Gedicht-, Essaybänden und Hörspielen ihre Auffassungen zum
Thema dargelegt. In ihren literarischen und essayistischen Texten
konzentriert sie sich darauf, verloren gegangenen Menschen und nur noch
schlecht erinnerten Dingen erneut eine Stimme zu verleihen.
In
einem der neuen Gedichte lässt Dischereit das lyrische Ich ihre Arbeit
beschreiben:
"ich
blättere in einem gefrorenen buch. / die wörter wollen nicht
herauskommen / so daß ich sie behauche / ein wenig reibe, da, wo sie in
der tiefe liegen / sie schimmern durch ihren gläsernen sarg / wenn ich
sie in den mund nehme / reißen sich meine lippen an ihnen auf / bis sie
rot und warm verquollen sind / dann schließlich kann ich die wörter /
essen." (s. 21)
Die
Bilder, die Esther Dischereit der Eiszeit der
nachnationalsozialistischen Tätergesellschaft abgewinnt, sind voller
Farbe, fast schon scheint es, das lyrische Ich habe sich in einem
sonnendurchfluteten und doch eiskalten Winter eingerichtet:
"zwischen den bäumen / steht eisweißer staub / gefrorene gräser / sitzen
am bahndamm / und wünschen dir / eine wärmende ankunft / ich würde sie
mitnehmen / oder mit meinen armen / bedecken oder ich stecke sie / in
eine kristallene vase / ich müßte dann mein zimmer / sehr kalt halten /
oder die wände öffnen / damit die gräser ihre schönheit behalten" (s.
14)
Die
plastischen Bilder jedoch sind nicht zur Täuschung angelegt. um ein
heimisch werden im "Nachkriegsgarten" (Dischereit) geht es hier nicht:
"eisig
war es / die leute erfroren" (s. 34)
sagt
die Autorin knapp. Mehr Zeilen hat das Gedicht nicht. Dischereit will
den Graben zwischen den überlebenden Opfern und den Erben der Täter
nicht zuschütten, bleibt skeptisch gegenüber der aktuellen Konjunktur
jüdischer Themen in Deutschland:
"ein
heißer sommer / es war ihnen kalt / ein kalter winter / sie sind
verbrannt / ihre schreie / trieben im wasser / vor den küsten / hinter
denen ihr / blumen und gemüse anbaut / ihr würdet jetzt gern / das
gemüse uns schenken / und blumen bringen / an den tagen / an denen ich
einzöge / um eine nachbarin zu sein / ich ziehe nicht ein / wer anders
zieht ein / und ich bleibe die nachbarin / die nicht einzog." (s. 62)
Das
Eis hat sich sogar wie eine zweite Haut auch um die jüdischen
Überlebenden in der nachnationalsozialistischen Tätergesellschaft
gelegt:
"wenn
der blaßweiße wind / deine haut einritzt / dich schneidet / und beißt /
hast du eine sichere erinnerung / daran daß es dich gibt / und du in
hüllen steckst / von denen du welche / gebrauchen und / ablegen
könntest" (s. 15)
Eine
besondere Stärke dieser Gedichte - wie übrigens auch der Essays der
Autorin - ist der beständige Perspektivenwechsel. Die Ermordeten und
ihre Stimmen, ihr Leben, ihre Sehnsucht werden dem Leser direkt vor das
geistige Auge und die Sinne gestellt. Wieder läßt Dischereit das
lyrische Ich ihre literarische Arbeit beschreiben:
"ich
springe durch / die jahre und jahrhunderte / und bin jetzt hier / ganz
nah / fast gestern / ein stein lockt / die fußspitze / wippt leicht /
duftet die luft / hände die schmecken / ohne zeit oder raum / sozusagen
eben" (s. 55)
Den
beständigen Wechsel der Perspektive, die Nähe auch zu ganz fernen
Menschen und Räumen unterstreicht die Schriftstellerin nicht nur durch
verschiedene lyrische Ichs, die in ihren Gedichten auftauchen, sondern
auch durch die Verwandlung von Worten in Klänge, Geräusche und Rhythmus.
Der Zuhörer wird durch den Vortrag in die aufgerufenen anderen Menschen
und Situationen hineinversetzt.
Leider
hat der Verlag dem Gedichtband keine eigene CD mit beigegeben. Schade.
"Hörbücher" sind doch ebenfalls "hip". So läßt sich der Effekt nur
dadurch simulieren, indem man sich die Gedichte selbst laut vorliest.
Wer sich einen Eindruck von dem durch Wörter, Töne und Geräusche
hervorgerufenen Wechsel durch Zeiten, Identitäten und Räume verschaffen
will, der bei einer Lesung von Esther Dischereit selbst stattfindet,
sollte sich die CD von Esther Dischereit und dem Percussionisten Raymond
Kaczynski mit dem Titel: "Ich decke mich zu mit der Zeit" zulegen.
Was
auch immer die aktuelle Konjunktur jüdischer Themen in der
Bundesrepublik bedeuten mag, ob es sich vielleicht einfach nur um den
Begleitnebel handelt, mit dem die bundesrepublikanische Gesellschaft
sich selbst als Meisterin der Aufarbeitung feiert um das Thema dann
endgültig zu den Akten zu legen, oder ob diese Konjunktur sich als
weiterer Schritt zu einer vorbehaltlosen Anerkennung der eigenen
Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus erweist und
eine dauerhafte Hinwendung zu den Nachfahren der einst Vernichteten
anzeigt, ist ungewiss.
Gewiß
aber ist, dass die Gedichte, Essays und Hörstücke von Esther Dischereit
ein sehr eigenständiger und eindringlicher Bestandteil einer
neuerwachenden jüdischen Identität sind, die sich in der
postnationalsozialistischen Tätergesellschaft behauptet und nicht mehr
ängstlich versteckt. Deutschland ist nicht "judenfrei". Dischereits
literarische Technik, nämlich die Aufhebung von Raum, Zeit und
Identität, die Versetzung des Lesers in eine mögliche andere Existenz,
in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort, eröffnen jedem die
Chance zu verstehen, was zu verstehen ist.
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Dr. Martin Jander, geb. 21.1.1955,
Historiker, studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften
an der Freien Universität Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor,
forscht, lehrt und publiziert zu den Themen "Politische Theorien",
"Nationalsozialismus", "Shoah" und "Deutsche Nachkriegsgeschichte".
Darüber hinaus ist er Mitarbeiter der Redaktion der Zeitschrift "Horch
und Guck" und betreibt in Berlin die Stadtführungsagentur
"Unwrapping History",
die Besucher Berlins und Potsdams mit den Hinterlassenschaften der
wesentlichen Epochen der verworrenen deutschen Geschichte bekannt macht.
hagalil.com
31-12-03 |