Frédéric Brenner:
Diaspora. Jüdisches Leben heute
520 Seiten, Knesebeck 2003
Euro 98,-
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Diaspora:
Das Fremde im Eigenen
Frédéric Brenner hat Juden im Exil
fotografiert, ein halbes Leben lang. Sein Bildband "Diaspora" wirft eine
einzige Frage auf: Was ist eigentlich jüdisch?
Von Viola Keeve
Sein erstes Foto schießt Frédéric Brenner mit 18 im
ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem, in Mea Shearim. Er ist Jude,
studiert Sozialanthropologie in Paris. "Ich dachte, das sei das
authentische Judentum", sagt Brenner. Seine Fotos zeigen Chassiden ins
Gespräch vertieft und tanzend mit einem weißbärtigen Rebbe auf einer
Sukkot-Feier, ein inszeniertes Spiel mit Licht und Schatten,
rembrandtartig, feierlich – eine eingefrorene Idylle, nostalgisch
gelebte Erinnerung an das osteuropäische Schtetl im 18. und 19.
Jahrhundert.
Es sind Schnappschüsse von frommen Juden, die sich weit zurücklehnen, in
die Vergangenheit, ohne umzufallen, zu fürchten, ins Stolpern zu
geraten, wie es moderne Juden tun würden, schreibt der amerikanische
Rabbiner Tsvi Blanchard im Essayband "Stimmen", der zu Brenners Bildband
"Diaspora – jüdisches Leben heute" erschienen ist: "Wie merkwürdig das
ist. Wir können uns authentische Juden nur als Menschen vorstellen, die
wir nicht sein wollen."
Mea Shearim ist die Enklave in der Enklave, die Diaspora, die es selbst in
Jerusalem gibt, urteilt der französische Philosoph Jacques Derrida. "Die
Diaspora ist das Fremde in Innern des eigenen Zuhauses", schreibt er zu
"Purim", einem Foto von lyrischer, fast metaphysischer Stille. Ein Mann
mit Fellhut im langen, schwarzen Mantel eilt auf dem Heimweg von der
Synagoge an einer verschneiten Gasse vorbei, durch die ein Kind mit
Engelsflügeln hüpft. Es stellt Brenners ewige Frage: Wie viel Identität
ist Maskerade? Wie viel Maskerade braucht Identität?
80 000 Fotos hat der 44-Jährige inzwischen zusammengetragen von Juden aus
aller Welt, ein Jahrhundertprojekt, gefördert von prominenten Sponsoren
wie Steven Spielberg und Estée Lauder – 264 davon sind in dem neuen
Bildband zu sehen, elegische, bittere, respektlose. Einige wirken
melancholisch-karg, andere provozierend inszeniert, stets auf der Suche
nach Heimat, Erbe, Eigenheit und dem bewundernden Blick für die
Anpassung an den neuen Ort.
Sam Profettas, Mois Amir, Avraham Robissa, Baruch Sevi
Thessaloniki, Griechenland, 1991
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"Nichts Jüdisches ist mir fremd", hat
Kabbalistik-Professor Gershom Sholem gesagt. Kein Motto passt besser zu
Brenners Arbeiten: Die Menschen seiner Bildern sind tadschikische
Friseure, Juden mit schweren Maschinen aus Florida, jüdische
Kruzifixverkäufer in Rom, ein sowjetischer General, ein indischer
Kaufmann aus Kalkutta mit seinem Butler, New Yorker Psychoanalytiker und
Polen, die sich für das Passionsspiel in Tykocin einmal im Jahr als
Juden verkleiden.
"Identität schließt immer eine Dimension von Schauspielerei, von
Nachahmung ein", sagt Daniel Dayan, Professor für Semiotik und
Filmästhetik in Paris. "Brenner zeigt uns, dass Identität nicht mehr als
eine Fiktion ist, aber das mindert in keiner Weise ihre Kraft."
Identität wird verstanden als Konstrukt, als eigenes und das der andern,
vor allem der andern – wie im Fall der europäischen Juden zur NS-Zeit,
Identität als Negativität. "Etwas darf nicht sein, weil es ist",
schreibt die Wiener Dramatikerin Elfriede Jelinek zum Foto vom
kleinwüchsigen Hutmacher Leonid Semyonovich Doktor aus dem ukrainischen
Schargorod. Er hat die Hände in den Taschen verborgen und ein
skeptisches, selbstbewußtes Lächeln - einer, der überlebt hat und
geblieben ist.
Wer ins Exil geht, kann das Eigene deutlicher spüren – oder verlieren. Der
Grad zwischen Bewahren und Verrat der Tradition ist schmal, der Preis
hoch: Einsamkeit, Selbstzweifel, diffuse Schuldgefühle. Brenner fragte
sich auf seinen Reisen immer wieder: "Wie kann man ein anderer werden
und sich dennoch treu bleiben?"
Das Exil, entdeckte er, zwingt vor allem zu einem: zur Neudefinition. 1994
fotografiert er New Yorker Frauen am Jewish Theological Seminary of
America mit Tallit und Teffilin, Pionierinnen des 21. Jahrhunderts.
Dozentinnen, Rabbinerinnen, Kantorinnen und Studentinnen schauen
selbstbewusst in die Kamera, ernst und entschlossen – auf Widerstand
gefasst. "Die Frage der Identifikation steckt in jeder ´jüdischen
Frage´", schreibt Derrida. "Ich versuche zu identifizieren, aber ich
versuche auch, mich zu identifizieren, während ich die Grenzen einer
solchen unwiderstehlichen Versuchung, eines solchen Zwangs, aufzuspüren
suche."
Juden in der Diaspora führen ein Leben in der Schwebe, geprägt, so
Derrida, von Eigentum, Enteignung und Aneignung. Im Monument Valley wird
Frédéric Brenner 1994 Zeuge eines Treffens von Juden und
Navajo-Indianern - beide Opfer von Genoziden, beide gebunden an ein Land
der Vorfahren. Ein kunstvolles Bild der Begegnung hat er aufgenommen auf
einem Highway, den Canyon und die Indianer im Rückspiegel eines Autos
festgehalten. "Es geht um eine Rückkehr als Rückblick im Rückspiegel der
Seele", schreibt Jacques Derrida dazu.
"Ist die Aufforderung, sich zu erinnern, dieses 'Vergiss nicht', nicht
etwas dem Jüdischsein Eigentümliches?", fragt sich der französische
Philosoph. Keiner tut das scheinbar mit so viel Stolz, Grazie und
Selbstbehauptung wie die Familie Benchimol, reich geworden durch den
Kautschukboom im brasilianischen Manaus, die Brenner in der Oper 1991
abgelichtet hat. Elegant gekleidet, aber geisterhaft und vereinzelt
steht der Familienclan im Spiegelsaal, die Positionen im pompösen Foyer
sind exakt eingenommen – doch die Verlorenheit scheint grenzenlos.
Solche Fotos sind für Sidra Dekoven Ezrahi, Professorin für
Vergleichende Jüdische Literaturwissenschaft in Jerusalem, "Ethnografie,
in situ eingefangen in ihrem wunderlichen Anachronismus, Seiten in einem
National (Jewish) Geographic-Heft".
Die Benchimols, schreibt Ezrahi, haben in Manuas einen Vorposten
europäischer Kultur, eine Kolonie im brasilianischen Regenwald
errichtet: "Neben Champagner, Kaviar, Kristall, edlem Leinen und Seide
importierten sie auch die italienische Oper." Und der ägyptische
Journalist André Aciman überlegt bei ihrem Anblick: "Ein Jude ist immer
jemand, bei dem man fragt: Warum um alles in der Welt ist er nicht da,
wo er hingehört? Und die Antwort lautet natürlich: weil er Jude ist."
Ihn, der in New York lebt und schreibt, beschäftigt: "Ist ein Jude, wer
für immer anderswo ist?" Oder besser gesagt: "Ist ein Jude, der sich nie
sicher ist, dass er noch etwas anderes ist als ein Jude?"
Lewi, 16 Jahre alt, Nadra Faez, 14 Jahre alt und ihr
Kind in ihrer neuen Wohnung im Zentrum für Neueinwanderer Rhovot,
Israel, 1993
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Frédéric Brenner faszinieren immer aufs Neue
Widersprüche, Brüche, etwa die schwarzen Hausmädchen in Johannisburg,
die einen jüdischen Kochkurs besuchen müssen. Er fotografiert sie mit
Schabbatbrot und stolzer Vorkochdame unter Antilopenköpfen im Raum eines
Tierpräparators – Siegestrophäen der reichen Weißen in Südafrika. Und er
reist nach Miami, wo Rabbiner Loring Frank fünfmal im Jahr
Massenbekehrungen anbietet: Drei Stunden Belehrung in Judentum und
Kabbalah, rituelles Bad, hebräischer Name und Mittagessen, Bagel mit
Lachs, "schon sind sie Juden", schreibt er zu seinem Foto von 1994, das
eine Gruppe in Bikini und Shorts unter Palmen zeigt - ein spirituelles
Drive-In unter der wärmenden Sonne Floridas.
Manche Fotos sind bewusst schockierend wie die halbnackter jüdischer
Brustkrebsopfer, lesbischer Töchtern von Holocaust-Überlebenden und
verzweifelter Mütter der Juden, die während der Militärdiktatur in
Argentinien verschwanden. In weißen Hemden stehen sie vor einer sterilen
Kachelwand. Andere sind ironisch-spielerisch wie die "Marxisten" aus New
York, 16 als Groucho Marx verkleidete Schauspieler mit Brille, Zigarre
und Schnurbart. Die Marx Brothers überwanden – im Freudschen Sinn – die
Demütigung der Juden im Exil durch Humor, durch Verwandlung, Theater,
die Macht der Träume.
Hollywood ist eine "der beiden jüdischen Utopien", die im 20. Jahrhundert
entstand, schreibt Literaturwissenschaftlerin Ezrahi: "Die verzögerte
Ankunft des Messias ist die Ethik von Purim und von Hollywood, die Ethik
einer unvollkommenen Welt, die uns einlädt zu spielen, während der
Erlöser zaudert." Die Komödie war das Spezialgebiet amerikanischer
Juden, schreibt Ezrahi, "die Komödie des schönen Scheins, die entgiftete
Katastrophe, die sich entfaltet, während die Epen und Tragödien unserer
Zeit auf anderen Bühnen, unter anderen Schnurrbärten aufgeführt wurden."
Nur in wenigen Fotos beschäftigt sich Brenner übrigens mit dem Holocaust,
obwohl er selbst einen großen Teil seiner Verwandtschaft verloren hat.
"Ich wollte zeigen, wie Juden leben", sagt der 44-Jährige, "nicht, wie
sie starben."
Viele spannende Geschichten hat Frédéric Brenner entdeckt, zum Beispiel
die Marranen von Belmonte in Portugal, die heute noch – wie zur Zeit der
Inquisition – heimlich Schabbat feiern, innerlich Juden, äußerlich
Katholiken. Marranen (portugiesisch: Schweine) ist ein Schimpfwort für
die Juden, die nicht bereit waren, für ihren Glauben zu sterben. Heute
ist aus der Feier auf dem Dachboden, der Vorsicht, dem Geheimnis, weil
es lange so praktiziert wurde, ein eigenes, sakrales Ritual geworden.
"Vergessen ist die furchtbare Wahrheit der Vorfahren, die der
Unverzeihlichkeit ihres Jüdischseins ausgeliefert waren", schreibt
Philosoph Benny Lévy, Sartres Assistent, über Brenners Fotos. "Das
Gebet" zeigt drei Marranen unter freiem Himmel, die sich die Augen
verdecken. Damit verfremdet, übertreibt er, um zu zeigen: Auch sie
lauschen dem Unsichtbaren. "Der Jude ist ein Pilger, der den Wegen der
Welt folgt", schreibt der Rabbiner Daniel Epstein dazu, "von einer
Furcht getrieben, die mehrere tausend Jahre alt ist, lauscht er einer
inneren Stimme, die mächtiger und anders als seine eigene ist."
Das Beharren auf dem Anderssein prägt jüdische Geschichte so sehr wie die
Sehnsucht nach dem Ende des Exils. "Meine Umwelt muss spüren", sagt der
Genfer Investmentbanker Solly Alain Lawi, den Brenner 2002 fotografiert
hat, "wie ich mich oft gleichzeitig fremd und dazugehörig fühle, als
Teil eines Volks und einer Tradition, die überall auftaucht und nirgends
hingehört."
Auf die Frage: "Was ist jüdisch?" hat Brenner inzwischen mehr Fragen
gefunden als Antworten, mehr Diskontinuität, Paradoxien als Kontinuität.
Er weiß nur: Das authentische Judentum gibt es nicht. Und vielleicht ist
das auch gut so. "Das Schädlichste für die Juden heute sind die
Etikettierungen", sagt Shimon Freundlich, ein Lubawitscher Rebbe, den
Brenner 1998 auf einer Dschunke im Hongkonger Hafen fotografiert hat.
Im Midrasch heißt es, dass die Wahrheit in tausend Stücke zersplittert,
wenn Gott sie auf die Erde wirft. Wenn wir das Bruchstückhafte als
Geschenk sehen, nicht als Makel, lehrt Brenners Bildband "Diaspora",
wird aus der ängstlichen Frage, wer wir sind - jüdisch oder nicht - eine
gelassene, spannende Entdeckung des Eigenen im Anderen.
Eine gekürzte Version dieses Artikels erschien im
Literaturspezial der Jüdischen Allgemeinen.
hagalil.com
23-11-04 |