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Projektgruppe Belarus (Hg.):
"Existiert das Ghetto noch?" Weißrussland: Jüdisches Überleben gegen national-sozialistische Herrschaft
Assoziation A 2003
Euro 15,00

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"Existiert das Ghetto noch?":
Jüdisches Überleben gegen nationalsozialistische Herrschaft

Von Ingrid Strobl

Das Mädchen auf dem Foto ist zwölf Jahre alt. Es hält beide Arme ausgestreckt, auf seinen Händen sitzt eine junge Katze. Das Mädchen blickt sehnsüchtig und ängstlich zugleich auf das Tier. So, als könne es seinem Glück nicht trauen. Als fürchte es, das Kätzchen gleich wieder zu verlieren. Das Foto wurde drei Jahre nach der Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee aufgenommen. Drei Jahre, nachdem das Mädchen fast alles verloren hatte, auch seine Kindheit und seine Gesundheit.

Denn dieses Mädchen war Jüdin und lebte unter der deutschen Besatzung im Ghetto Minsk. Das Foto ist abgedruckt in einem Buch mit dem Titel "Existiert das Ghetto noch?" Weißrussland: Jüdisches Überleben gegen nationalsozialistische Herrschaft. Herausgegeben wurde dieser Band von der Kölner Projektgruppe Belarus, die zuletzt einen Band über Kinder in Konzentrationslagern vorlegte.

Wenn es eine Hierarchie der Schrecken gibt, dann stehen die Verbrechen, die Deutsche in Weißrussland begingen, mit an oberster Stelle. Wehrmacht, Polizei, Gendarmerie und SS wetteiferten darin, die jüdische Bevölkerung zu peinigen und schließlich auszurotten. Wie üblich wurden nur wenige der Täter nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen. Und niemand in Nachkriegsdeutschland wollte wissen, was es da zu verantworten gab. Erst in den letzten Jahren begannen sich ein paar wenige Historiker und vor allem junge Menschen für die deutschen Verbrechen in Weißrussland zu interessieren und dafür, wie die jüdische Bevölkerung auf die deutsche Mordpolitik reagierte. In dem Band der Kölner Projektgruppe Belarus kommen nun – erstmals im deutschsprachigen Raum – Überlebende des Minsker Ghettos selbst zu Wort. Die Herausgeber interviewten zwölf Frauen und Männer ausführlich zu ihrem Leben und Überleben unter der deutschen Besatzung. Die Berichte der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden flankiert von Artikeln kompetenter Historiker und Fachjournalisten, die über die geschichtlichen Hintergründe informieren.

Das große Verdienst dieses Buches liegt vor allem in den Interviews mit den Überlebenden, die deutlich machen, dass sich Geschichte aus den Geschichten einzelner Menschen zusammensetzt. Und die veranschaulichen, was Worte und Begriffe, die verwendet werden, um eine Situation zu beschreiben, ganz konkret bedeuten können. Worte wie Hunger zum Beispiel, oder Versteck, oder Spätfolgen.

Im Ghetto wurde gehungert. Das weiß inzwischen jeder. Aber was hieß hungern? Es hieß, Brennnesseln oder Kartoffelschalen mit einem Löffel Mehl verkochen und diesen Brei dann essen. Weil es nicht anderes zu essen gab. Hungern hieß, nicht mehr laufen zu können, weil die Beine vor Hungerödemen so aufgedunsen waren, dass sie den Dienst versagten.

Das Wort Versteck bedeutete im Minsker Ghetto zum Beispiel, dass in einem der überfüllten Häuser unter dem Schrank ein Hohlraum geschaffen wurde. Wenn die Deutschen eine Aktion im Ghetto durchführten, krochen mehrere Menschen in diesen Spalt, zogen den Schrankboden darüber und rührten sich manchmal tagelang nicht von der Stelle. Der Raum war so eng, dass manche darin verrückt wurden, andere erstickten und wieder andere an Herzversagen starben.

Oder nehmen wir den Begriff Spätfolgen. Oder auch Trauma. Das Wort Trauma geht heute vielen rasch und leicht über die Lippen. Es ist fast zum Modeausdruck geworden. Die Frau, die auf dem Foto als Mädchen mit der kleinen Katze zu sehen ist, erzählte der Projektgruppe Belarus von ihrem Leben nach der Befreiung: Sie war mit 14 noch Bettnässerin. Sie bekam Eiterbeulen unter den Augen und Geschwüre im Zwölffingerdarm. Sie war immer wieder krank. Trotzdem engagiert sie sich als Rentnerin im Verband der Überlebenden des Holocaust.

Dieses Buch ist jedoch nicht nur ein Kompendium des Schreckens. Es ist einfach nur realistisch. Und dazu gehören auch die Geschichten über den Widerstand im Ghetto und über die Partisanenlager, in denen jüdische Zivilisten und vor allem viele Kinder überlebten. Berichte über jüdische Ärztinnen, die sich dieser Kinder annahmen, und über Partisaninnen, die eine Schule für sie einrichteten, mitten in den Sümpfen, umgeben von deutschen Stellungen. Berichte über Mütter, die ihre Kinder retteten, bevor sie sich selbst in Sicherheit brachten. Über halbwüchsige Jungen, die immer wieder aus den Wäldern ins Ghetto kamen, um für ihre jüngeren Geschwister zu sorgen.

Dieses Buch zeigt die Gesichter der realen Menschen hinter den Zahlen und Fakten Es geht behutsam mit diesen Menschen um. Und es stellt die richtigen Fragen.

Gesendet am 6.11.2003 in "Meinungen über Bücher" auf WDR 3

hagalil.com 05-07-04











 

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