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Tom Segev, Elvis in Jerusalem. Die moderne israelische Gesellschaft.
Siedler Verlag 2003
Euro 18,00

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Tom Segev schreibt als Kolumnist für die israelische Tageszeitung "Ha'aretz". Sein Buch "One Palestine, Complete" wurde mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet und von der "New York Times" zu den neun besten Büchern des Jahres 2000 gezählt. In Deutschland wurde Segev 1995 durch "Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung" bekannt. Tom Segev lebt in Jerusalem.

Tom Segev über die israelische Gesellschaft:
"Elvis in Jerusalem"

Von Andrea Livnat

Was haben Theodor Herzl, Elvis, Ovadiah Josef und Gadi Manella gemeinsam? Sie alle dienen Tom Segev dazu, in seinem jüngsten Buch die moderne israelische Gesellschaft zu erklären. Im hebräischen Orginal erschien das Buch 2001 unter dem Titel "Die neuen Zionisten", eine Anspielung auf den Ausdruck der "neuen Historiker" und Untermauerung der Grundthese Segevs, die Entwicklung des vergangenen Jahrzehntes könnte auf eine neue Kultur der Offenheit und Kompromissbereitschaft hinweisen.

Tom Segev beginnt mit einem sehr persönlichen Vorwort, sehr persönlichen Erinnerungen. Segevs Vater war während der Nazi-Zeit nach Palästina geflohen und fiel im Unabhängigkeitskrieg, sein Sohn war damals erst drei Jahre alt. Jahr für Jahr erhielt die Familie am Jom haSikharon, am Gedenktag für die Gefallenen, einen Brief des Verteidigungsministeriums. Tom Segev erklärt mit dieser Erinnerung seine grundsätzliche Skepsis gegen "regierungsamtliche Verlautbarungen", die ideologieträchtig versicherten, "dass uns alle Kriege aufgezwungen worden seien, dass das Opfer nicht umsonst gewesen sei und Israel alles in seiner Macht Stehende tue, um Frieden zu schließen." Jene Skepsis zeichne auch die so genannten "neuen Historiker" aus, die Segev verschärft als "erste Historiker" bezeichnet.

In den 55 Jahren seit der Staatsgründung Israels haben sich dramatische Veränderungen abgespielt und das Streben nach einer "Normalisierung" des jüdischen Staates verkompliziert. Masseneinwanderung, Kriege und wirtschaftliche Krisen stellen nur die Eckpunkte der Umwälzungen in der Gesellschaft dar. Noch immer herrscht Unklarheit über grundlegende Fragen, Werte und Normen, allen voran der Dauerbrenner "Wer ist Jude?" Spätestens seit dem 50. Geburtstag des Staates hat der Begriff "Postzionismus" Konjunktur, meistens in negativer Verwendung, obwohl er zunächst nur das Zuendekommen einer Periode zu bezeichnen sucht. Israel wurde in den vergangenen Jahrzehnten zugleich amerikanischer und jüdischer und befindet sich in einer Situation, "die vielfach als 'post-zionistische Entwicklungsphase' bezeichnet wurde." Das Buch erzählt die "faszinierende Geschichte" der Transformation und Veränderung des Zionismus.

Das Denkmal Theodor Herzls am Ortseingang von Herzlija ist Segevs Ausgangspunkt. Herzls Silhouette steht dort mit verschränkten Armen, im Frack, in die Ferne blickend. Geradezu bizarr wirkt der Mann mit Vollbart hier, auch wenn er Namensgeber für die Stadt war. Der Künstler Uri Lipschitz schuf das, was von Herzl blieb, nachdem er als Identifikationsfigur auf Postern, Geldscheinen und Gebrauchsgegenständen das Land überzogen hatte, eine Fassade. Der Prophet des Staates hätte dabei an Herzlija sicher Gefallen gefunden, sein Denkmal blickt auf die Hightech-Gebäude der Stadt, die sich schick, urban, westlich und weltlich gibt – die Verwirklichung der Herzlschen Vision. Segev lässt die Geschichte des Zionismus bis zur Gründung des Staates passieren und geht dabei neben Herzls eigenen zionistischen Vorstellungen, die im liberalen Nationalismus der Jahrhundertwende verwurzelt sind, vor allem auf die tatsächliche Entwicklung in Palästina ein. Denn die meisten Juden, die nach Palästina kamen, kamen nicht als überzeugte Zionisten, sondern als Flüchtlinge. Segev weist dabei immer wieder auf Reaktionen, Aussprüche und Tendenzen hin, die heute als "postzionistisch" geächtet würden, jedoch bereits in den 20er, 30er und Anfangsjahren des Staates kursierten: "Selbstkritik und Zweifel – einige mögen es "mangelnde Vision" einhergehend mit Defätismus und Hoffnungslosigkeit nennen – waren immer ein integraler Bestandteil der zionistischen Geschichte."

Die zweite Statue Segevs ist an einer Tankstelle in Newe Ilan auf dem Weg nach Jerusalem zu finden. Elvis The Pelvis steht hier überlebensgroß vor dem Imbiss: "Dieser Elvis signalisiert einen Sieg; der Bolschewismus der frühen Ben-Gurion-Jahre war passe. Die Israelis haben sich für Amerika entschieden." Die Amerikanisierung, so Segev, hat langfristig die gesellschaftliche Solidarität geschwächt und das Individuum ins Zentrum des israelischen Daseins gerückt. Während man früher am Unabhängigkeitstag gemeinsam Hora auf der Strasse tanzte, wird heute im Kreis der Freunde oder Familie dem Mangal (Barbecue) gefrönt. Neben der politischen Annäherung an die USA, Israel versuchte sich zunächst an den Fronten des Kalten Krieges vorbeizuschlängeln, beschreibt Segev die Amerikanisierung in gesellschaftlicher und kultureller Ebene. Der Aufstieg Bibi Netanjahus in der israelischen Politik ist für Segev sowohl ein wichtiger Schritt wie auch Indikator der Entwicklung: "Wie kein anderer Politiker vor ihm hat Benjamin Netanjahu seine Karriere auf TV-Auftritten aufgebaut. Seine Wahl zum Ministerpräsidenten steht daher nicht nur für die Amerikanisierung der Politik, sondern markiert auch den Einzug Amerikas in die israelische Medienlandschaft." Dem mag sich manch kritischer Zuschauer beim vergangenen Unabhängigkeitstag schmerzlich bewusst geworden sein, als man ein blondes Medienmäuschen im sexy Mini-Camouflage-Kleid eine Fernsehgala der Armee mitmoderieren sah.

Eine Miniaturstatue von Rabbiner Ovadiah Josef, die in einem Souvenirladen von Gush Etzion für 1000 Dollar zum Verkauf stand, ist Segevs drittes Denkmal, das er zum Ausgangspunkt seiner Darstellung über die Rolle des Judentums in der israelischen Gesellschaft nimmt. Der vorstaatliche Jischuw schien die Basis für eine säkulare Gesellschaft geschaffen zu haben, in den vergangenen Jahrzehnten wurde Israel jedoch zunehmend jüdischer. Dabei spricht Segev nicht alleine die Entwicklung der ultraorthodoxen und orthodoxen Bewegungen im Land an, sondern geht vielmehr auch auf religiös motivierte Traditionen und deren Wiederbelebung ein. Das beste Beispiel dafür ist das Mimouna-Fest der marokkanischen Juden, das am Tag nach Pessach stattfindet und seit 1965 wieder gefeiert wird, mittlerweile hat es Volksfestcharakter mit religiösem Hintergrund angenommen. Ein weiterer Schwerpunkt des Kapitels ist die orthodoxe Einstellung zum Holocaust und der Umgang der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen mit der Schoah, wobei Segev besonders auf das Erziehungssystem hinweist. Dabei gibt er zu Bedenken, dass im Jahr 2000 etwa 35 Prozent alles israelischen Kinder keine hebräisch-zionistische Schule besuchten: "Ungefähr ein Viertel alles israelischen Kinder sind Araber. Weitere zwanzig Prozent werden an Bildungseinrichtungen ausgebildet – vorwiegend ultra-orthodoxen -, die nicht dem staatlichen Schulsystem unterstehen. Sie wachsen in einem Staat auf, der mit dem zionistischen Traum nichts mehr zu tun hat."

Das letzte Denkmal ist das eines Soldaten aus dem Kibbuz, Gadi Manella, der 1968 bei der Verfolgung von Terroristen ums Leben kam. Die Bronzeskulptur von Nathan Rapaport steht an der Einfahrt zum Kibbuz Tel Yitzhak. Segev geht abschließend dem Begriff des Patriotismus nach und führt dazu unter anderem Yitzhak Rabin als Beispiel an. Rabin wurde von vielen als Wegbereiter einer neuen Zukunft gesehen. Seine Ermordung wurde "als Angriff auf ein apolitisches Israel, das kein kampfbereites und kämpfendes Kollektiv mehr war" gedeutet. Patriotismus und Heldentum ist für Segev auch Anlass, nochmals auf die Arbeiten und Ergebnisse der "neuen Historiker" zurückzukommen und dieses Themenfeld an einigen weniger bekannten Beispielen zu beleuchten. Zunächst geht Segev auf eine Veröffentlichung von Yoram Hazony ein, der, nach Beratertätigkeiten für Netanyahu, ein Institut in Jerusalem eröffnete und dort seine revisionistische Geschichtsmaschinerie fördert. In "The Jewish State: The Struggle for Israel's Soul" zieht Hazony mit linksgerichteten Intellektuellen ins Gericht und beruft sich dabei scheinbar auf Herzl selbst. Trotzdem dieses Buch in akademischen Kreisen einhellig negativ kritisiert und abgelehnt wurde, hat es relativ viel Staub aufgewirbelt. Ein andere Beispiel Segevs führt in den akademischen Bereich, einmal in die mittelalterliche Geschichte und die Forschung von Israel Yuval, der über jüdischen Christenhass im aschkenasischen Judentum arbeitete, sowie in die Archäologie und zur Forschung Zeev Herzogs.

Abschließend gibt sich Segev nüchtern. Durch den palästinensischen Terror habe der Postzionismus derzeit keine Chance. Dennoch, tief greifende Entwicklungen haben bereits stattgefunden und deuten daraufhin, dass eine Veränderung möglich ist. Derzeit wird vor allem darüber gesprochen, wie Israel zugleich ein jüdischer und demokratischer Staat sein kann: "Die post-zionistische Herausforderung bedeutet, nach Wegen zu suchen, wie sich das Zusammenleben aller Israelis unter Berücksichtigung der beiden großen Einflüsse auf das Land – Amerika und Judentum – ermöglichen lassen. Die öffentliche Diskussion darüber hat gerade erst begonnen."

hagalil.com 12-05-03











 

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