Peter Longerich:
"Davon
haben wir nichts gewusst!"
Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945
Siedler Verlag München 2006
Euro 24,95
Bestellen? |
Was man vom Massenmord gewusst hat:
Die Deutschen und die Judenverfolgung
Rezension von Karl Pfeifer
Peter Longerich stellt in seinem Buch
die Frage, was haben die Deutschen gewusst vom Massenmord an den Juden. Und
er belegt auf 448 Seiten, was öffentlich gesagt wurde und was man wissen
konnte und was man nach dem Krieg vorgab nicht gewusst zu haben.
Ein paar Beispiele:
Am 5. Juni 1943 – die industrielle
Vernichtung von Juden war voll im Gang – hielt Goebbels im Berliner
Sportpalast eine in der Presse stark beachtete Rede, in der er noch einmal
unmissverständlich klarstellte, dass die deutsche Politik auf die
"Ausschaltung" und "Beseitigung" des jüdischen Gegners zielte: "Die
gänzliche Ausschaltung des Judentums aus Europa ist keine Frage der Moral,
sondern eine Frage der Sicherheit der Staaten. [...] Wie der Kartoffelkäfer
die Kartoffelfelder zerstört, ja zerstören muss, so zerstört der Jude die
Staaten und Völker. Dagegen gibt es nur ein Mittel: radikale Beseitigung der
Gefahr. [...] Der internationale Jude ist der Kitt, der die feindliche
Koalition zusammenhält."
Ein Lieblingsthema der Propaganda war
der "jüdisch-amerikanische Imperialismus". Die Ernennung des Bankiers und
früheren Gouverneurs von New York, Herbert H. Lehmann, zum Direktor der
alliierten Hilfsorganisation für Kriegsflüchtlinge, bedeutete nach Ansicht
des Völkischen Beobachters vom 13. November 1943, der "Bankjude" sei
zum "Sklavenhalter für Europa" ausersehen.
Am 7. Februar 1944 hieß es in der
Tagesparole des Propagandaministeriums, die Presse solle dem "Zusammenspiel
der britischen und sowjetischen Juden" mehr Beachtung schenken. "Sie sind
eine einzige Verbrecherbande, die ausgerottet werden muss."
Am 12. März 1944 schrieb Robert Ley im
Angriff: "Juda wird ausgerottet. Was Hadrian nicht vermag, wird uns
gelingen, Juda muss sterben! Damit wird die Menschheit vom jüdischen Terror
befreit! Wenn das nicht gelänge, würdest du sterben, deutsches Volk, und der
Jude würde wiederum 5000 Jahre ein neues Purim feiern, das Purim der 85
Millionen Deutschen. Das bedenke, Deutscher: Er, der Jude – oder Du! Es gibt
kein Ausweichen."
Am 7. Mai 1944 kündigte Ley in einem
weiteren Kommentar im Angriff an: "Wir werden nicht eher ruhen, bis
der Jude vernichtet und seine Welt ausgerottet ist. Juda wird und muss
sterben."
Longerich zieht aus allem die
apologetisch anmutende Konsequenz: "Die einfachste und vorherrschende
Haltung war daher sichtbar zur Schau getragen Indifferenz und Passivität
gegenüber der "Judenfrage" – eine Einstellung, die nicht mit bloßem
Desinteresse an der Verfolgung der Juden verwechselt werden darf, sondern
als Versuch gesehen werden muss, sich jeder Verantwortung für das Geschehen
durch ostentantive Ahnungslosigkeit zu entziehen. Es scheint, als habe die
nach Kriegsende zur stereotypen Floskel gewordene Redewendung, man habe
"davon" nichts gewusst, ihre Wurzeln in eben dieser Verweigerungshaltung der
zweiten Kriegshälfte in der Flucht in die Unwissenheit."
Hätte der offen eingestandene Massenmord
an Juden Zustimmung gefunden? Immerhin haben die Nazi diesen Massenmord
angekündigt, jedoch nie offen eingestanden. Doch diese Frage ist
hypothetisch und hat keine Bedeutung, denn die Nazi brauchten keine
Zustimmung, um diesen Völkermord durchzuführen. Ian Kershaw bemerkte, "der
latente Antisemitismus und die Apathie" der Bevölkerung genügten, "mit einer
in zunehmenden Maße kriminelle Dynamik des Hasses dem Nazi-Regime die
notwendige Autonomie zu geben, die benötigt wurde, um den Holocaust zu
betreiben."
Die konkreten Einzelheiten des
Massenmords unterlagen zwar einer strikten Geheimhaltung, immer wieder wurde
diese jedoch durchbrochen. Longerich hat nachgewiesen, dass die
Judenverfolgung im Deutschen Reich nicht nur vor aller Augen stattfand,
sondern dass das NS-Regime ab Ende 1941 auch immer wieder gezielte Hinweise
auf die Vernichtung der Juden gab.
hagalil.com
01-11-06 |