Anetta Kahane:
Ich sehe was, was Du nicht siehst
Rowohlt Berlin 2004
Euro 19,90
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Demokratische Kultur des Respekts:
Anetta Kahane über verdrängten
Nationalsozialismus und Rassismus in der DDR
Von Martin Jander
Nicht umsonst streiten noch Jahre nach dem Untergang
der DDR Forscherinnen und Forscher über den Charakter ihres
Herrschaftssystems. Ist die DDR vor allem als "moderne Diktatur", oder
gar "totalitäre Diktatur" zu kennzeichnen? Welche Rolle spielt die
Teilung des Landes für den ersten deutschen kommunistischen Staat? Wie
"sowjetisiert" war die DDR? Dies sind nur einige der zu Recht
diskutierten Themen.
Dabei fällt ein wesentlicher Gegenstand nicht selten
unter den Tisch: die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der
deutschen marxistisch-leninistischen Diktatur. Auf dieses Thema macht
jetzt ein gerade neu erschienenes Buch von Anetta Kahane ("Ich sehe was,
was Du nicht siehst") aufmerksam.
Das Buch scheint zunächst lediglich eine Autobiographie
zu sein. Anetta Kahane schildert größere Teile ihres bewegten Lebens von
ihrer Geburt 1954 in Ostberlin bis hin zu ihrer Mitarbeit am Zentralen
Runden Tisch und ihrem Engagement im Kampf gegen Rechtsradikalismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in der neu vereinigten
Bundesrepublik. Die ganze Anlage des Buches geht jedoch über eine
Autobiographie weit hinaus.
Die Autorin wuchs in einer jüdischen-kommunistischen
Familie in Berlin-Pankow auf, ihre Eltern hatten den Nationalsozialismus
im Exil überlebt und waren nach Deutschland zurückgekehrt. Bereits im
Alter von drei Jahren lebte sie - ihr Vater arbeitete als
Auslandskorrespondent für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften der
DDR - für mehrere Jahre in Neu-Delhi. In die DDR zurückgekehrt
erschienen ihr Kindergarten und Schule so vollkommen ungenießbar, dass
sie sich an ihnen rieb oder sich entzog.
Zur Folie all ihrer späteren Wünsche über ein anderes,
menschliches und anregendes Leben wurde ihr ein längerer Aufenthalt in
Rio des Janeiro. Das wilde, bunte, herzliche aber auch von großer Armut
geprägte Leben in der brasilianischen Metropole ließen sie, zurück in
der DDR, den steifen, rassistischen und verklemmten Alltag nur noch
mühsam ertragen. Die Kultur des Landes beeindruckt sie so sehr, dass sie
später Lateinamerikanistik studierte.
Gegen den Willen ihrer Eltern begann sie sich - was
heftige Konflikte mit ihrer Umwelt hervorrief - noch während ihrer
Schulzeit öffentlich als Jüdin zu bekennen und trug eine Halskette mit
Davidstern. Bis sie mit dem antifaschistischen Staat am Anfang der 80er
Jahre endgültig brach, dauerte es jedoch noch eine Weile. Sie bewunderte
den unpathetischen antifaschistischen Heroismus ihrer Eltern und eiferte
ihm nach. Sie wollte sich bewähren, den Idealen ihrer Eltern und des
antifaschistischen Staates gleichermaßen gerecht werden. Auch auf eine
erpresste Verpflichtung zur Spitzeltätigkeit für das MfS - eine Freundin
war bei dem Versuch ertappt worden, die DDR zu verlassen - ließ sie sich
zunächst ein.
Sie betäubte ihre Einwände, Kritiken und Widersprüche
zum SED-Sozialismus bis sie bei zwei Auftragsarbeiten als Übersetzerin
in Sao Tomé und Mosambik mit so gnadenlos zynischen, rassistischen und
hinterhältigen DDR-Funktionären konfrontiert wurde, dass sie, um nicht
selbst verrückt zu werden, Konsequenzen ziehen musste: "Als ich
zurückkam aus Mosambik" - schreibt Kahane - "wusste ich, dass es für
mich keine politische Identifikation mit der realen DDR mehr geben
könnte. Ich hatte erlebt, wie mit Freunden umgegangen wurde, wie tief
der Rassismus in den Menschen und in der DDR als Staat verwurzelt war."
(S. 119) Sie begann ihre eigenen Erlebnisse mit dem kalten,
rassistischen und teilweise auch antisemitischen DDR-Alltag ernst zu
nehmen, beendete ihre Verbindung mit dem MfS und begann freiberuflich
als Übersetzerin zu arbeiten.
Es ist dieser zunächst nur zögernd und dann immer
radikaler vollzogene Ausbruch Kahanes aus der "Antifaschismusfalle" (S.
131), der das Buch zu einer ungewöhnlichen Dokumentation des Alltags in
der nachnationalsozialistischen DDR macht. "Der Abschied" - schreibt sie
über ihren Bruch mit dem antifaschistischen Staat - "vollzog sich
langsam, nicht immer bewusst und nicht auf einmal. Es waren Momente, die
aneinander gereiht langsam eine Kette bildeten und mir den Hals
zuschnürten." (S. 131)
Der Leser wird in oft sehr bewegenden und plastisch
verfassten Skizzen in eine DDR-Gesellschaft versetzt, die sich qua
"Antifaschismus" weitgehend von Schuld, Verantwortung und Haftung für
die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus selbst exkulpierte und
gleichzeitig von einer hohen Kontinuität deutscher völkisch-nationaler
Kultur gekennzeichnet war, Fremde ausgrenzte, ihre Kultur missachtete
und sie, wie z. B. die so genannten "Vertragsarbeiter", ausbeutete und
schikanierte. Anetta Kahane erzählt ihre Biographie um eben über diese
Zustände zu berichten, um die vielen Geschichten ans Licht zu befördern,
die sie zunächst - um sich selbst nicht in Konflikte zu stürzen - zwar
wahrnahm, aber anfänglich lediglich als untypische Widrigkeiten des
DDR-Sozialismus deutete. Erst mit ihrem Ausbruch aus der
"Antifaschismusfalle" wuchs der Flickenteppich für sie zu einem Muster
zusammen. Der Leser ihres Buches nimmt nachträglich an dieser
Selbstaufklärung teil.
Die DDR hat für Anetta Kahane mehrere Ursprünge: (1) die
Befreiung und Besatzung durch die Sowjetunion, (2) den nicht selbst
zerschlagenen Nationalsozialismus und (3) den Kalten Krieg. In der
marxistisch-leninistischen Diktatur versuchte nicht nur die DDR-Elite,
sondern auch ein großer Teil der Bevölkerung die Nachwirkungen des
Nationalsozialismus vor sich selbst und der Welt zu verbergen. In den
Autobiographien überlebender jüdischer Opfer des Nationalsozialismus -
z. B. Rudolf Schottlaender ("Trotz allem ein Deutscher", 1988) oder
Helmut Eschwege ("Fremd unter meinesgleichen", 1993) - und der
Generation ihrer Kinder - wie z.B. Anetta Kahane - kehren diese
Kernprobleme der DDR in die Wahrnehmung (und damit hoffentlich auch in
die Geschichtsschreibung) zurück. Wer sich mit ihren Erfahrungen nicht
konfrontiert, kann nicht verstehen, wo die DDR-internen Ursachen des
nach 1989 massiv sichtbar werdenden Nationalismus, Rassismus und
Antisemitismus lagen.
Anetta Kahanes oft sehr bewegend und eindringlich
erzählte Geschichten machen darüber hinaus auf ein wesentliches Manko
der neueren DDR-Forschung aufmerksam: es fehlt ihr zwar nicht an
Ansätzen einer Forschung zum Alltag, es fehlt ihr jedoch eine genauere
Recherche zur politischen Kultur. Die weitgehende Nichtbearbeitung des
Nationalsozialismus und die Kontinuität der im Kern völkischen und
nationalsozialistischen Vorstellung einer kulturell homogenen
Gesellschaft, in der Fremde und Fremdsein nicht vorkommen, verachtet,
diskriminiert, ausgebeutet und ausgeschlossen werden, sind eindringliche
Belege eines solchen Mangels.
Anetta Kahanes Geschichten geben jedoch nicht nur
Anregung für neue Richtungen und Themen historischer und
politikwissenschaftlicher Forschung, sie selbst gehört zu den äußerst
produktiven Menschen, die seit dem Ende der DDR an der Gestaltung und
Neuorientierung der Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus in der
nun vereinigten Bundesrepublik maßgeblich beteiligt waren und sind. Sie
hat sich ganz der Förderung demokratischer Kultur und einer "Kultur des
Respekts" (S. 161) verschrieben.
Wer sich ein Bild von ihren gegenwärtigen Aktivitäten
machen möchte, sollte sich neben ihrer Autobiographie unbedingt die
neueste Publikation der von Kahane mitinitiierten Amadeu Antonio
Stiftung besorgen ("Vor
Antisemitismus ist man nur noch auf dem Monde sicher."), die den
Versuch macht, in neuer Weise mit zwei zentralen ideologischen Fermenten
des rechten Radikalismus und des Marxismus-Leninismus umzugehen:
Antisemitismus und Antiamerikanismus. Mit wachem Blick für das Erbe von
Nationalsozialismus und SED-Diktatur werden fundierte Analysen
vorgetragen und natürlich auch Gegenstrategien zur Förderung
demokratischer Kultur erarbeitet. Wie man sicher schon gemerkt hat: Von
beiden Publikationen bin ich begeistert und empfehle intensive Lektüre.
Dr. Martin Jander, geb. 21.1.1955, Historiker, studierte
Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaften an der Freien Universität
Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor, forscht, lehrt und publiziert zu
den Themen Politische Theorien, Nationalsozialismus, Shoah und Deutsche
Nachkriegsgeschichte. Darüber hinaus ist er Mitarbeiter der Redaktion der
Zeitschrift "Horch und Guck" und betreibt in Berlin die Stadtführungsagentur
"Unwrapping
History".
hagalil.com
18-07-04 |