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Signum der Moderne:
Bilder jüdischer Bibliotheken

Andrea Livnat

Jüdische Bibliotheken unterscheiden sich in ihrer Eigenschaft als Kennzeichen der Moderne nicht von den Bibliotheken anderer Lesekulturen. Sie setzen die gleiche Volksbildung und allgemeine Leskundigkeit wie nicht-jüdische Bibliotheken voraus. Trotzdem weisen sie bestimmte Eigenschaften und Besonderheiten auf, die eine bibliotheksgeschichtliche Untersuchung besonders aufschlussreich und fruchtbar machen. Textualität und Mobilität sind dabei die wesentlichen Charakteristika der jüdischen Bibliotheken, wie sie auch wesentliche Merkmale der jüdischen Geschichte im Allgemeinen sind. Markus Kirchhoff hat die Geschichte der "Häuser des Buches" in einem optisch sehr ansprechenden und informativen Band zusammengestellt.

Der Band basiert auf einer Ausstellung, die Markus Kirchhoff als Mitarbeiter des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig unter dem Titel "Häuser des Buches - Leute des Buches" gestaltet hat. Der Band, der die Ergebnisse seiner Arbeit zu diesem Thema vorstellt, ist geschmackvoll gestaltet, unterstreicht den Text durch zahlreiche Bilder, zeigt seltene Aufnahmen und versucht grundsätzlich die mobile und migrationsgeschichtlicher Perspektive begreifbar zu machen.

Kirchhoff gibt einen Überblick zur jüdischen Bibliotheksgeschichte, der nicht streng chronologisch vorgeht, sondern sich an einzelnen Orten und Biographien orientiert. Ausgehend von der Lesewelt des Shtetls spannt Kirchhoff den Bogen bis zur Restitution jüdischer Bibliotheken nach 1945. Der besondere Wert und die Bedeutung des Verleihens von Büchern lässt sich bis auf Textstellen im Talmud zurückverfolgen, der Kauf und das Ausleihen von Büchern wird dort als eine Form der Wohltätigkeit genannt, Bücher zu kaufen und für sich alleine zu behalten dagegen strikt abgelehnt. "Wenn du Bücher zu verkaufen hast und dein Bruder, der Bücher nicht ausleiht, sie erwerben will, verkaufe sie lieber einem Fremden, der die Bücher anderen ausleiht" heißt es in dem von Rabbi Judah haChassid verfassten "Sefer Chassidim" aus dem frühen 13. Jahrhundert, eines der Zitate, die Kirchhoff seiner Einleitung voranstellt.

Kirchhoff behandelt die moderne Bibliothekskultur des Judentums von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich aus der Tradition des Bücherleihens entwickelte und durch den Bruch der Moderne, der Verweltlichung und Öffnung für nicht-sakrale Texte geprägt ist. Die Vielfältigkeit jüdischer Bibliotheken, ihrer Erscheinung, Hintergründe und Verwendungen spiegeln dabei die Vielfältigkeit jüdischen Lebens selbst wieder.

Kirchhoff beginnt seine Reise durch die jüdische Bibliotheksgeschichte mit der Lesekultur im Shtetl, den fahrenden jüdischen Buchhändlern und der Figur des Mendele Mojcher Sforim, eine Welt, die durch den Einbruch der Haskalah-Literatur, die zunächst, wie in vielen Autobiographien erinnert wird, heimlich gelesen werden musste, grundlegend erschüttert wurde. Im Unterschied dazu etablierten sich in den größeren Städten zunächst Buchhandlungen, die ärmeren Kunden auch Bücher ausliehen, dann eigene Bibliotheken von verschiedenen ideologischen Richtungen. Ein wichtiger Impuls zur Gründung von Bibliotheken ging von der Arbeiterbewegung und den jüdischen Sozialisten aus. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Exkurs zu Bibliotheken für jüdische Einwanderer aus Osteuropa in New York.


Eine Einladung, Mitglied einer Bibliothek zu werden: Der Jiddische Dramatische Club Sh. An-ski wirbt mit seiner Bibliothek, die bereits "über 3000 Bücher" enthalte und ständig wachse.
Der Einfluss einzelner ideologischer Gruppen zeigt sich auch beim Blick auf jüdische Bibliotheken in Polen zwischen den Weltkriegen, die vom Entstehen eines politischen Bewusstseins geprägt waren. Vor allem Jugendorganisationen jeder Art regten ihre Mitglieder zum Selbststudium an, Bildung für eine bessere Zukunft war das Motto. Diese Zeit kann als Blütezeit der jüdischen Bibliotheken in Polen, wie auch des jüdischen Lebens in Polen allgemein angesehen werden. Die jüdische Jugend war in den verschiedensten Gruppen organisiert, die sich nach politischem Zionismus, Bund, internationalem Sozialismus, Kulturzionismus oder nach Überschneidungen zwischen den einzelnen Richtungen richteten. Eines war ihnen allen jedoch gemein, sie alle hatten einzelne kleine Leseräume, kleine Bibliotheken.

In den Lebenserinnerungen von Borukh Yismakhs an seine Jugend in der Nähe von Warschau heißt es: "Das kompetenteste Mitglied jeder Gruppe wurde zum Bibliothekar ernannt. Wenn ein Leser ein Buch im Austausch für ein anderes zurückgab, hatte der Bibliothekar das Recht ihn zu testen, um zu sehen, ob er das Buch wirklich gelesen hatte, und wenn ja, ob er es verstanden hatte."

Ein anderes Kapitel führt den Leser aus Osteuropa zu einer völlig anderen Art der Buchaufbewahrung, in die "Welt der Genisa", jenem Raum innerhalb einer Synagoge, in dem alte Schriftstücke aufbewahrt wurden, die man nach jüdischer Religion nicht wegwerfen kann, da auf ihnen der Name Gottes steht. Die wichtigste Entdeckung einer Genisa war der berühmte Fund in Kairo. Kirchhoff zeichnet den Weg Salomon Schechters nach, der nach Kairo reiste und schließlich mit 140.000 Dokumenten nach England zurückkehrte. Aber auch andere Genisot werden angesprochen, wie beispielsweise in Süddeutschland, die in Vergessenheit gerieten und heute im Zuge der Erforschung der Landjuden wieder entdeckt werden.


Solomon Schechter untersucht in Cambridge Dokumente aus der Genisa von Kairo 1898
© Cambridge University Press

Fund aus der ehemaligen Synagoge von Westheim (Bayern). Das mit einer Schnur umwickelte und in der Genisa abgelegte Bündel enthält Kalender aus den Jahren 1764 und 1766, Teile von zerlesenen Gebetsbüchern und ein Papierfragment aus einem Geburtenverzeichnis des Jahres 1776.
Foto: Andreas Hemstege, Wesel

Ein Ortswechsel führt nach Israel, in die Zeit vor der Staatsgründung, in der die verschiedenen Bibliothekstraditionen scheinbar verschmolzen, dabei zeigt sich jedoch, dass die deutsche Tradition erstaunlich dominant war. Kirchhoff zeigt den Einfluss einzelner Personen auf das Bibliothekssystem des Landes anhand deren Biographien, wie beispielsweise Heinrich Loewes, der bereits 1922 die pragmatische Schrift "Jüdisches Bibliothekswesen im Lande Israel" verfasste. In Deutschland war er als Leiter der Orientalia-Abteilung an der Berliner Universitätsbibliothek beschäftigt, musste diese Stellung jedoch 1933 aufgeben und kam nach Palästina. Dort leitete er von 1933 bis 1948 die Stadtbibliotheken Tel Avivs, die aus einer 1884 in Jaffa von der Bnai Brith Loge gegründeten Bücherei hervorgingen.
   


Heinrich Loewe, der von 1933 bis 1948 die Tel Aviver Stadtbibliotheken leitete.

Lesesaal im Beit Ne'eman. Die Bibliothek des 1902 in der Ethopia Street in Jerusalem eröffneten Hauses galt bereits als Kern der zukünftigen Jüdischen Nationalbibliothek.
Foto: Z. Bassan.
Generell verstärkte sich der deutsche Einfluss auf das Bibliothekswesen in Palästina maßgeblich nach 1933 und der Einwanderung deutscher Buchexperten. Auch die Geschichte der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, deren erster Direktor Hugo Shmuel Bergmann zuvor an der deutschsprachigen Karlsuniversität in Prag beschäftigt war, ist durch das deutsche Bibliothekssystem geprägt. Bergmann baute die Sammlungen entsprechend auf und fand für die einzelnen Bereiche Spezialisten.

Für die Hebraica Sammlung konnte er den junge Gershom Sholem gewinnen. Auch der zweite Direktor war ein Deutscher, Gotthold Weil, der seine Stellung in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin verlor, ab 1949 übernahm die Position der ebenfalls aus Deutschland stammende Curt Wormann. Es wurde vielfach kritisch angemerkt, dass das dadurch entstandene Bibliothekswesen zu starr war, um schnell genug auf die Bedürfnisse der Neueinwanderer und die Anforderungen im Zuge der Masseneinwanderung in den Jahren nach der Staatsgründung zu antworten. Dabei sollte jedoch zwischen den einzelnen Bibliotheken und ihrem Zweck differenziert werden. Für die für das breite Publikum gedachten Stadtbibliotheken Tel Avivs mag das mehr als zutreffend sein, die National- und Universitätsbibliothek musste jedoch an den internationalen wissenschaftlichen Standard anschließen.

Mit einem erneuten Wechsel führt Kirchhoff den Leser zurück nach Deutschland zu den urbanen Lesewelten in Berlin und zeigt das ganze Panorama der jüdischen Bibliotheken der Stadt, von der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, über die Jüdische Lesehalle, religiöse Sammlungen, bis zu weltlichen Buchläden und nach 1920 auch orthodoxe Leihbüchereien im Scheunenviertel. Als Beispiel sei die Jüdische Lesehalle mit ihrer Bibliothek erwähnt, die in Verbindung mit der sog. Bücherhallenbewegung entstand. Die erste jüdische Lesehalle wurde 1895 von Studenten und einigen Vereinen gegründet, wobei das Ziel nicht nur die Förderung allgemeiner Bildung, sondern "eine wahre Stärkung im Kampf gegen die andrängenden Feinde", also Bildung zur Abwehr des Antisemitismus war. Daher fanden auch Geschichtskurse und Hebräischunterricht in der Lesehalle statt. 1920 wurde sie von der Jüdischen Gemeinde übernommen und bildete den Grundstock der ersten Stadtteilbibliothek der Gemeinde.


In der Jüdischen Lesehalle, Berlin, 1905.



In der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde
Berlin. Foto: Abraham Pisarek, ca. 1935.

In diesem Zusammenhang weist Kirchhoff auf ein interessantes Detail in der Landschaft der Berliner jüdischen Bibliotheken hin. Halb im Geheimen entstand ein Archiv mit Bibliothek gegen den Antisemitismus, das sog. "Büro Wilhelmstraße". Später auch mit dem Centralverein verbunden, wurde dort alle greifbare NS-Literatur und Presse gesammelt. Die Sammlung emigrierte später nach Amsterdam und London und stellt die Grundlage der berühmten Wiener Library, deren Geschichte Kirchhoff an anderer Stelle ausführlicher nachzeichnet.

In einem weiteren Kapitel zu deutsch-jüdischen Bibliotheken unter dem Titel "Bibliophilie als Selbstbehauptung" stellt Kirchhoff weitere Buchsammlungen vor, die besondere Projekte darstellen; beispielsweise die Warburg Bibliothek, die unter anderem den Gelehrten der sog. Hamburger Gruppe, darunter Ernst Cassirer und Aby Warburg selbst, als Arbeitsgrundlage diente, sowie die Bücherei des Schocken Verlags.

Buch eines unbekannten Vorbesitzers mit dem Stempel der Zentralbibliothek des Ghettos Theresienstadt.

Die letzten beiden Kapitel beschäftigen sich mit der Geschichte jüdischer Bibliotheken vor und während der Schoah bzw. mit der Restitution der Bücher. Kirchhoff stellt einzelne Fälle der Zerstörung von Bibliotheken, den Raub von Büchern, wie in Saloniki und Wilna, aber auch das Institut zur Erforschung der Judenfrage dar. An den Beispielen Warschau, Wilna und Theresienstadt spricht er zudem das Bestehen von Bibliotheken in den Ghettos an. An eine knappe Darstellung der Restitution nach 1945 schließt Kirchhoff zum Abschluss das Paradebeispiel einer migrierten Bibliothek an, die bereits erwähnte Wiener Library, die von Berlin nach Amsterdam, nach London und schließlich nach Tel Aviv wanderte und heute gleichzeitig in London und Tel Aviv existiert.

Kirchhoffs Überblick zeigt, dass die jüdische Bibliotheksgeschichte durchaus als Migrationsgeschichte begriffen werden kann, Millionen von Büchern wechselten vor allem im 20. Jahrhundert ihren Standort. Jüdische Bibliotheken sind aufs Vielfältigste migriert, nicht nur wegen der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Schoah. Die Mobilität jüdischer Bücher hat eine ebenso lange Tradition wie das Ausleihen von Büchern selbst. Schade, dass Kirchhoff die Geschichte der jüdischen Bibliotheken nach der Restitution von 1945 abbricht, zumindest ein Ausblick in die zweite Hälfte des Jahrhunderts wäre eine wertvolle Ergänzung.

Markus Kirchhoff, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken.
Reclam Verlag Leipzig 2002
Euro 24,90

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Eine Genisah in Nordbayern?
Das wiedergefundene Buch
Nicht mehr benutzbare rituelle Gegenstände oder Bücher auf den Dachboden der Synagoge abzulegen, war unter deutschen Landjuden ein selbstverständlich ausgeübter Brauch...

hagalil.com 13-03-05











 

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