Versiegelte Zeit:
Über den Stillstand in der islamischen Welt
Rezension von Karl Pfeifer
Darf er denn das, dachte ich mir beim Vortrag von Dan
Diner im Jüdischen Gemeindezentrum in Wien. Denn nichts bereitet anscheinend
so große Sorge, wie der Gedanke, man könne die islamische Religion einer
Kritik unterwerfen. Es ist ja recht seltsam, wenn gerade diejenigen, die
unter dem Vorwand, man wird ja Israel kritisieren dürfen, expliziten
Antisemitismus tolerieren, jede konkrete Kritik an der islamischen Welt
tabuisieren wollen.
Es gibt tatsächlich dummdreiste Vorurteile, die sich
insbesondere gegen die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU richten, wie
z.B. die Agitation der rechtsextremistischen FPÖ unter Herrn Strache, aber
auch die Argumentation mit der durch den polnischen König Sobieski
verhinderten türkischen Besetzung Wiens 1683.
Dan Diner versucht in seinem Buch "Versiegelte Zeit" zu
erklären, warum sich die islamische Zivilisation, insbesondere ihre
arabischen Kernländer in einer tiefgehenden Krise befinden. Sein
Ausgangspunkt ist der im Auftrag der UNO von arabischen Intellektuellen
erstellte "Arab Human Development Report", der die Defizite der arabischen
Gesellschaften auf fast allen Gebieten aufzeigt.
Diner, Professor für Neuere Geschichte an der Hebräischen
Universität Jerusalem und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische
Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, erklärt, wieso erst
zweihundert Jahre nach Erfindung des Buchdrucks dieser auch von den Muslimen
akzeptiert wurde. Eine zentrale Bedeutung hat laut Diner der Unterschied
zwischen der arabischen Hochsprache und den von der Bevölkerung gesprochenen
Dialekten. Er zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Stellenwerts der
Hebräischen und Arabischen Sprache.
Interessant ist auch die Schilderung der osmanischen
Gesellschaft und der Gründe, weshalb diese in der Konkurrenz mit dem Westen
nicht bestehen konnte und schlussendlich von Mustafa Kemal Pascha (genannt
Atatürk) revolutionär geändert wurde, der einzige halbwegs erfolgreiche
Versuch einer Säkularisierung einer islamischen Gesellschaft.
Tatsächlich scheint die arabische Welt resistent gegen
Säkularisierung und Demokratie zu sein und man kann darüber diskutieren, ob
die Gründe dafür hauptsächlich in der Geschichte und im Sakralen – wie uns
das Dan Diner nahe legt – zu suchen sind. Sein Buch ist ein wichtiger
Beitrag zu einer Diskussion darüber, weshalb die arabischen Gesellschaften
in einem Zustand der Stagnation bzw. Krise sind.
Schade, dass der Autor häufig auch dann Fremdwörter
verwendet, wo es allgemeinverständliche Ausdrücke gibt. Trotzdem lohnt die
Anstrengung des Lesens.
hagalil.com
12-10-05 |