Sabine Klamroth:
"Erst wenn der Mond bei Seckbachs steht"
Juden im alten Halberstadt
Projekte-Verlag 188 2006
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Juden im alten Halberstadt:
Weder Tonband-Meter noch Schriftzeichen gezählt
Von Uwe Kraus
"Erst wenn der Mond bei Seckbachs steht" ist ein Buch, vielleicht
gerade noch zur rechten Zeit. Sabine Klamroth hat dafür viele ehemalige
jüdische Mit-Menschen befragt, sich dankenswerterweise nicht allein auf die
stummen Quellen aus Archiven, Bibliotheken oder den verdienstvollen
Einzelpublikationen eines Werner Hartmanns oder von Dr. Martin Gabriel
verlassen.
Über Jahre recherchierte sie, befragte Zeitzeugen, startete Aktionen im
Internet. Doch sie ermöglicht durch ein vielfältiges Lektüreverzeichnis im
Anhang allen an der lokalen jüdischen Historie Interessierten weiter zu
lesen. Der pensionierten Rechtsanwältin gelang es mit der knapp 400seitigen
Veröffentlichung im Hallenser Projekte-Verlag, eine umfassende Darstellung
von rund 200 Jahren jüdischen Lebens in der Domstadt vorzulegen.
Dabei wählte sie eine Dreiteilung des Buches, durch die der Leser immer
wieder auf die Protagonisten jüdischen Lebens in Halberstadt stößt, die ihre
Erinnerungen und Wertungen in die Texte der nicht-jüdischen Autorin
einbringen und sie "vor manchem Fehler aus Unkenntnis", wie sie selber sagt,
bewahrten. So dankte sie ausdrücklich Judith Biran und Paul Suessmann, denen
das Buch auch gewidmet ist.
Die gebürtige Halberstädterin Sabine Klamroth, Sproß einer der angesehensten
christlichen Familien jener Zeit, kehrte mit der Wende in ihren Geburtsort
zurück. Die Stadt hat sie nie losgelassen und dann wieder voll in ihren Bann
gezogen. Sie weiß, die Entwicklung ihrer Heimatstadt trugen nicht nur
Bischöfe, Adlige und nichtjüdische Bürger, sondern auch Juden, die hier über
Jahrhunderte lebten und wirkten.
Dem
Projekt "Juden im alten Halberstadt", so der Untertitel ihres
Werkes, hat sie ihre vergangenen Lebensjahre gewidmet. Schier unvorstellbar
scheint der Rechercheaufwand, sie hat nicht die Tonband-Meter und
Schriftzeichen gezählt, die es brauchte, um dieses umfassende Buch vollenden
zu können. Obwohl, es scheinen an vielen Stellen keine Schlussstriche
gezogen, sondern neue Fragezeichen gesetzt zu sein.
Die Autorin beklagt an vielen Stellen, dass man nur noch vermuten kann oder
dass die Erinnerungen dürftiger geworden sich in den seither vergangenen
rund 75 Jahren. Doch ihre Geschichten entreißen eine große Zahl jüdischer
Menschen dem schleichenden Vergessen, ebenso wie sie die heutigen
Halberstädter an jene Zeit erinnern, die sie nicht erlebten, deren Spuren
aber das Stadtbild immer noch prägen.
Sabine Klamroth wählt dabei einen fast dokudramatischen Stil, weil die
Bruchstücke der Erinnerung, um zum Bild zu werden, eben jenen Mörtel "So
hätte es gewesen sein können" brauchen. Die Erzählweise macht es dem Leser
leicht, den Biografien zu folgen, die lebendig daherkommen, zuweilen trotz
der lang zurückliegenden Zeit zu Spaziergängen im Geist verleiten. Man
glaubt, hinter der nächsten Ecke könnte jemand aus der Familie Nussbaum, ein
Kober, Hirsch oder Meyer hervortreten. Wenn, ja wenn diese Mitbürger nicht
vor der deutschen Judenvernichtung nach Großbritannien, Israel oder in die
USA geflohen wären oder wie jene letzten Halberstädter jüdischen Glaubens am
Weißen Sonntag 1942, den Weg in die Vernichtungslager des Hitler-Regimes
gingen.
"Erst wenn der Mond bei Seckbachs steht" ist einen von Sabine Klamroth
verfasste lebendige Sozialgeschichte am Beispiel von Halberstadt, der Stadt
mit einer über Jahrhunderte florierenden jüdisch-orthodoxen Gemeinde. Und
die Autorin fragt nach der Art der gesellschaftlichen Beziehungen, nach
Einladungen, Freundschaften, gemeinsamen Unternehmungen zwischen den
Halberstädter Juden untereinander, vor allem aber zwischen Juden und Gojim,
den nichtjüdischen Mitbürgern. Ausführlich beschreibt sie die Regeln des
Schabbats, der Freitagabend beginnt und am Sonnabend abend endet, und andere
jüdische Regeln zwischen Beten, Essen und Baden.
Jene Halberstädter Juden, die einfachen, ungenannten oder die, die tiefere
Spuren in der jüdischen oder Wirtschaftsgeschichte hinterließen, brachten
sich wesentlich in das Leben ihrer Stadt ein. Sie praktizierten als Ärzte
wie Dr. Crohn, ihnen gehörten Kaufhäuser in der Innenstadt, wo sie ebenso
wie auf den Nussbaum-Gütern oder in der Metallwarenfabrik der Familie
Hirsch, Arbeitgeber für zahlreiche christliche Mitbürger waren. Sie lebten
miteinander und voneinander, pflegten Handel und Wandel, ohne dabei jene
Barrieren zu übersteigen, die sich durch die kleine Stadt zogen.
Nahezu 160 Namen von A wie Archenhold bis W wie Wollenberg finden in dem
Buch Erwähnung. Hinter jedem verbirgt sich eine Lebensgeschichte. Da ist es
etwas verdrießlich, dass zur besseren Orientierung Namen oder
Familienstammbäume im Anhang fehlen. Dagegen erklärt die Autorin, die weder
Historikerin noch Judaistin ist, im Glossar wesentliche, im Text vorkommende
jüdische Worte und fügt teilweise erstmals gezeigte Bilder an. Dieses Buch
ist ein Muss für jeden, der Halberstadts Geschichte adäquat erkunden und
verstehen will.
hagalil.com
18-12-06 |