Sara Paretsky: Ihr wahrer Name. Ein Vic Warshawski Roman.
Piper Verlag, 2002
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Die Amerikanerin Sara Paretsky gehört
inzwischen auch hierzulande zu den bekannten Krimi-Autorinnen. Ihre
Heldin Vic Warshawski war einst - in den siebziger Jahren - Chicagos
erste weibliche Privatdetektivin mit Lizenz. Jetzt ist sie wieder
unterwegs, in ihrem nunmehr zwölften Fall.
Erst einmal fängt die Geschichte für Vic Warshawski als scheinbar
harmloser Routinefall an, nämlich mit dem Auftrag, einen
Versicherungsbetrug aufzuklären. Isahiah Sommers heuert die findige
Privatdetektivin an, damit sie herausfindet, was mit der
Versicherungssumme seines kürzlich verstorbenen Vaters passiert ist, die
angeblich schon vor zehn Jahren ausbezahlt worden sein soll. Die Spur
führt zur Ajax-Versicherung.
Zeitgleich passiert jedoch etwas Verwirrendes: Ihre
beste und älteste Freundin - zeitweise auch Ersatzmutter, die Ärztin
Lotty Herschel, stets kontrolliert und beherrscht, verliert völlig die
Fassung, als in einem Fernsehinterview ein Mann behauptet, er habe das
Geheimnis seiner Herkunft lösen können. Er sei Paul Radbuka, ein
jüdisches überlebendes Kind, das nach dem 2. Weltkrieg in London gelebt
hat und von seinem Stiefvater, einem Nazi, unter Vorspiegelung falscher
Tatsachen nach Amerika gebracht worden sei. Er sucht seine Familie und
ist überzeugt, sie in Lotty und ihren Freunden gefunden zu haben.
Vic Warshawski gerät sehr schnell zwischen die Fronten
zweier rivalisierender Bürgerrechtstruppen, nämlich der Organisation des
schwarzen Aktivisten Alderman Durham und der seines orthodoxen jüdischen
Gegenspielers Joseph Posner, dem sich Paul Radbuka angeschlossen hat.
Die Aktionen beider Gruppierungen richten sich gegen die Ajax
Versicherungsgruppe. Es geht um die Beiträge jüdischer Opfer des
Holocausts sowie die finanziellen Reserven, welche die Versicherung auf
Kosten schwarzer Sklaven erwirtschaftet haben soll.
Die beiden Fälle, die erst einmal nichts miteinander
zu tun haben, sind auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verquickt.
Der Schlüssel zur Lösung scheint in Lottys Geschichte zu liegen.Die
Freundschaft der beiden Frauen ist einer harten Bewährungsprobe
ausgesetzt, denn Lottys Überlebensstrategie ist es, sich nicht mit alten
Wunden zu konfrontieren. Gegen deren ausdrücklichen Willen beginnt Vic
in der Vergangenheit ihrer Freundin zu suchen.
Als junges Mädchen wurde Lotty vor Ausbruch des
Krieges mit einem der vielen Kindertransporte von Wien nach England
gebracht. Viele jüdische Familien versuchten damals, ihre Kinder in
letzter Minute auf diese Weise zu retten; so auch Lottys Familie, von
der - außer ihrem kleinen Bruder- niemand überlebte. Nach ihrer
Ausbildung zur Ärztin emigriert sie nach Amerika und macht dort
Karriere.
Und wer ist dieser Paul Radbuka wirklich, der sich
öffentlich als Holocaustopfer darstellt? An ihn ist nur unter großen
Schwierigkeiten heranzukommen, denn seine ehrgeizige
Hypnose-Therapeutin, die ihm beim Entschlüsseln seiner Vergangenheit
hilft, blockt alle Versuche der Kontaktaufnahme aus therapeutischen
Gründen ab. (Wilkomirski läßt grüssen!)
Sara Paretsky ist studierte Historikerin und hat 10
Jahre als Managerin in der Versicherungswirtschaft gearbeitet. Dieser
Hintergrund ermöglichte es ihr einen faszinierenden Krimi zu schreiben.
Sauber und detailgenau recherchierte sie die unterschiedlichen Milieus
jüdischen Lebens in Wien, wer auf welche Weise von der Notlage der Juden
finanziell profitierte, die Geschichte der Kindertransporte, die
Bedingungen, unter denen in der Nachkriegszeit in England die
Medizinerausbildung stattfand oder auch den Stand der psychoanalytischen
Forschung zu überlebenden Kindern bis hin zur Lektüre von Anna Freuds
Aufzeichnungen über den Umgang mit einer Gruppe überlebender Kinder
sowie neuere Forschungen über die Psychodynamik bei Therapien, bei denen
es um erfundene jüdische Biografien (Wilkomirsky-Syndrom) geht.
Selten habe ich diese Themen, die sonst meist über
fachwissenschaftliche Publikationen bekannt sind, so gut in
Alltagssprache umgesetzt gelesen und dann noch durch eine Krimihandlung
vermittelt.
Schwächen gibt es nur bei einer Nebenhandlung -
nämlich die um "Ilse Koch, die Wölfin". Hier sind der Verfasserin einige
Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen. Warum aus den osteuropäischen
jüdischen DPs (displaced persons) "Vertriebene" werden, unter denen im
deutschen Sprachraum eine ganz andere Personengruppe bezeichnet wird,
ist nicht verständlich.
Trotzdem ist "ihr wahrer Name" der beste der bisher
zwölf Vic-Warshawsky-Krimis und für alle, die gern Krimis zu jüdischen
Themen lesen ein MUST. Interessant war für mich bei der Lektüre von
Rezensionen nicht-jüdischer Rezensentinnen, daß ich die Kritik an
Passagen, die von diesen als unverständlich oder nicht konsistent
bezeichnet wurden, überhaupt nicht teilen kann. Das machte mir wieder
einmal deutlich, wie weitgehend eigene Prägungen und
Gruppenzugehörigkeiten sich auf Alltagswahrnehmungen auswirken. |