"Was
kann der Philo-Atlas, ein lexikalisches Werk, das 1938 in Deutschland
kurz nach den Novemberpogromen als letztes Buch eines jüdischen Verlages
erschien, heute seinen Lesern vermitteln?" Die ausführliche Einleitung
von Susanne Urban-Fahr im Reprint des Handbuches, das sie im
wiedergegründeten Philo-Verlag herausgegeben hat, beantwortet diese
Frage ausführlich. Der Atlas zeigt, in sachlichen Stichwörtern
versteckt, die Sorgen und Zukunftsängste, die Versuche und
Schwierigkeiten deutscher Juden bei der Auswanderung. "Wer dieses
Handbuch heute genau liest, von Stichwort zu Stichwort blättert, wird
den Mythos in sich zusammenbrechen sehen, daß die deutschen Juden
Ausgrenzung und Verfolgung quasi passiv haben über sich ergehen lassen."
Der
Atlas bot für viele deutsche Juden die erste Quelle für wichtige
Basisinformationen. Da nicht alle Auswanderer nach Palästina wollten,
listet der Atlas unterschiedliche Länder mit ihren Details auf, daneben
Einreise-, Visa- und Zollbestimmungen, typische Krankheiten,
Landeswährungen, jüdische Organisationen und Rechtsbestimmungen. Der
Atlas erschien im Dezember 1938, also einen Monat nach den
Novemberpogromen. Auch die Herausgeber im Philo-Verlag, die lange Zeit
davon überzeugt waren, dass der Nationalsozialismus lediglich eine
vorübergehende Erscheinung sei, mussten mittlerweile die Auswanderung
als letzte Möglichkeit in Betracht ziehen. Der Atlas ist vom
Pragmatismus dieser Stunde geprägt.
Das "Handbuch für die jüdische Auswanderung" ist das dritte in einer
Reihe von Philo-Lexikas. Bereits 1934 erschien das "Handbuch des
jüdischen Wissens", das bis Ende 1937 viermal neu aufgelegt wurde. 1936
folgte das "Philo Zitaten-Lexikon. Worte von Juden – Worte für Juden".
Der Philo-Atlas war schließlich das letzte Buch, das von einem jüdischen
Verlag veröffentlicht wurde, zum 31. Dezember 1938 wurden endgültig alle
Aktivitäten des jüdischen Verlagswesens gewaltsam eingestellt. Der
Centralverein sowie der Hilfsverein der Juden in Deutschland hatten bei
der Konzeption des Handbuches mitgearbeitet. Susanne Urban-Fahr gibt in
der Einleitung auch einen Überblick über die Geschichte des Philo
Verlages, der 1919 unter dem Dach des Centralvereins deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens gegründet wurde.
Insgesamt bot der Philo-Atlas für 3,85 Reichsmark über 800 Stichwörter,
19 farbige Landkarten, sowie Tabellen zu Einwohnerzahlen, jüdischen
Gemeinden, Telefon- und Briefgebühren, Lebenshaltungskosten in Übersee
und mehr. Das Reprint wird durch die ausführliche Einleitung von Susanne
Urban-Fahr ergänzt, die neben der Entstehungs- und Verlagsgeschichte die
einzelnen Beteiligten in Kurzbiographien vorstellt.
Im
Vorwort des Philo-Atlas selbst heißt es: "Der Philo-Atlas –
Nachschlage-, Karten- und Tabellenwerk zugleich – ist in der Reihe der
Philo-Lexika ein ausgesprochen zeitbedingtes Speziallexikon. Die
jüdische Wanderungsbewegung unserer Tage hat das jüdische Leben völlig
umgestaltet und der jüdischen Sozialarbeit einen stark erweiterten
Wirkungskreis gegeben. Der einzelne jüdische Mensch steht vor Aufgaben
und Entscheidungen, die ein großes Maß zusätzlichen allgemeinen und
jüdisches Wissen verlangen. Der Philo-Atlas soll die zahllosen neu
entstandenen Fragen beantworten helfen. Er soll ein Informator für den
Auswandernden, ein Wegweiser für den Einwandernden und ein Bindeglied
zwischen den Menschen draußen und hier sein."
Die Lektüre des Handbuchs aus
heutiger Sicht zeigt die Geschichte der deutschen Juden aus einem
anderen Blickwinkel, scheinbar sachlich und distanziert. Tatsächlich
erwachen aus den Seiten die Ängste und Nöte derjenigen, die sich zur
Auswanderung entschließen mußten, die sich überlegen mußten, in welches
Land sie flüchten wollten, die fest im deutschen Alltag verwurzelten
waren und nichts von der Hakenwurmkrankheit oder Frambösie wußten. Eine
Lektüre, die mehr über die Schoah lehren kann als viele Geschichtswerke.
Lesebeispiele von A-Z
"Akklimatisierung
(Gewöhnung) d. Auswanderers an d.
Ò
Klima d. Einwanderungslandes hat m. Vorsicht zu geschehen (Ò
Hitzschlag,
Ò
Sonnenstich). – Bes. in trop. u. subtrop. Ländern wichtig, sich an dort
übliches. langsameres Arbeitstempo zu gewöhnen. Größere Beanspruchung
des Körpers durch Hitze u. Luftfeuchtigkeit würde sonst bald zu völliger
Erschlaffung führen. Vermeidung jeder Hast. Anpassung an d. veränderte
Umwelt auch in d.
Ò
Ernährung, Vorsicht m. körperlicher u. geistiger Arbeit, bis man d. Maß
d. Arbeitsfähigkeit im fremden Klima kennt, sind notwendige
Vorbedingungen f. A.
Bataten
(Yamswurzel): Wurzelknollen einer trop. Windenart v. leicht süßlichem
Geschmack. Wie Kartoffel bereitbar.
Carte d'identité
(span.: carta d'identidad): Personalausweis, d. viele Länder f.
Ausländer zum Gebrauch im Inland bei längerem Aufenthalt (z.B.
Frankreich über 2 Monate) verlangen.
Durchwanderer
sind Auswanderer, d. auf d. Reise ins Einwanderungsland ein anderes Land
passieren od. sich dort kurz aufhalten müssen. Hierzu meist
Ò
Transitvisum (vorher besorgen!) erforderlich.
Einordnung ins Einwanderungsland:
Vorbedingungen f. persönliche E.: 1) ausreichende Beherrschung d.
Landessprache; diese ist nicht nur wirtsch., sondern bes. auch in
sozialer Hinsicht v. größter Bedeutung; ohne ihre Kenntnis ist man v.
Leben d. Umwelt abgeschnitten. 2) Bereitschaft zum verkehr auch m. d.
einheimischen Bevölkerung: es gibt keinen größeren Fehler, als nur unter
Auswanderern zu verkehren; 3) andererseits ist es dringend notwendig,
sich vorhandenen j. Gem. anzuschließen; fehlen diese, so soll man sich
um ihre Gründung bemühen. Dies ist Voraussetzung einer j. E.
Ò
Auswanderung
Ò
Sprache
Finnland:
Republik, Größe u. Ew.
Ò
Tab. Sp. 231, Karte 3. x: Kein Visum erforderlich. Einreise kann an d.
Grenze verweigert werden, wenn d. Einreisende als unerwünscht angesehen
wird. Genehmigung f. jede Erwerbstätigkeit (auch f. selbständige)
erforderlich. Arbeitnehmer bedürfen bes. Arbeitserlaubnis vor d.
Einreise. Längerer als dreimonatiger Aufenthalt bedarf d.
Aufenthaltserlaubnis. Wenig Möglichkeiten (Ò
Eu). J: ca. 2000 = 0,05%, davon ca. 1200 = 0,4% in Helsingfors (=
Helsinki, 280 000 Ew.).
Grundstücke:
Verfügungen, Kauf, Tausch, Belastung usw. über im Ausland belegene G. v.
Deviseninländern sowie im Inland belegene G. v. Ausländern sind
genehmigungspflichtig. Tausch im Inland belegener gegen im Ausland
belegene od. Erwerb im Ausland belegener G. durch Deviseninländer wird
in bes. Ausnahmefällen genehmigt (Preußen u. Bayern Regierungs-, Berlin
Polizeipräsident; in d. meisten anderen dt. Ländern: Reichsstatthalter).
Hitachdut Olej Germania:
Organisation zur Beratung v. j. Einwanderern aus Dt. in
Ò
Pal. Gegr. 1933. Sitz:
Ò
Tel-Aviv.
Infektionskrankheiten:
Ansteckende Krankheiten durch
Ò
Kontaktinfektion, durch v. Kranken benutzte Gegenstände, Sprechen u.
Husten (verstreute Speicheltröpfchen = Tröpfcheninfektion),
Ausscheidungen d. Kranken, lebensfähige Erreger im Staub (bes. in d.
Umgebung d. Kranken) sowie Übertragung durch Fliegen, Mücken, Flöhe,
Läuse, Wanzen,
Ò
Zecken. Jede I. wird auf eine od. mehrere obengenannter Weisen
übertragen.
Ò
Prophylaxe setzt Kenntnis d. Ansteckungsweise
Ò
betr. Krankheit voraus.
Ò
Desinfektion.
Judentum
ist
infolge d. Dogmenlosigkeit in Glaubenssätzen nur schwer zu fassende
geistig-religiöse Grundlage d. Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, welche
nach übereinstimmender Auffassung alles j. Richtungen auf göttliche
Offenbarung zurückgeht. Da d. fortschreitende Auflösung d. religiösen
Formen, in welchen sich d. J auch nach d. Zerstörung d. Tempels u. d.
nationalen Gemeinschaft bewahrt hat, sowie d. gegenwärtige
Wanderungsbewegung in ihrer Bedrohung d. stärksten soziologischen
Stützpunkte (O- u. Mittel-Eu) d. J eine Gefahr f. d. Fortbestand d. Jt.
überhaupt darstellen, bedarf es d. gemeinsamen Überzeugung u.
unablässigen Bemühung d. Auswanderer sowie d. f. sie verantwortlichen
Organisationen, um d. Auswanderern d. Jt. zu erhalten u. an ihren neuen
Wohnsitzen neue Zentren j. Lebens erstehen zu lassen.
Kinderverschickung:
Vollständige Einordnung wird bes. durch Auswanderung in jungen Jahren
gewährleistet (Ò
Jugendalijah). Durch K. sind d. j. Wanderungsorganisationen bemüht,
10-12jährige Kinder bei j. Familien in USA. unterzubringen. Sehr
sorgfältige Auswahl d. Kinder erfolgt durch
Ò
Reichsvertretung in Verbindung m.
Ò
Hilfsverein, d. auch d. technische Durchführung d. Auswanderung u.
Erledigung alles Formalitäten obliegt. Eltern d. durch K. nach USA.
gelangenden Kinder dürfen selbst kein Auswanderungsprojekt betreiben u.
können nicht damit rechnen, in absehbarer Zeit ihren Kindern
nachzuwandern.
Landungsdepot:
Geldsumme in fremder Währung (zumeist USA-Dollar od. Währung d.
Einwanderungslandes), d. vor Einreise bei d. Schifffahrtsgesellschaft
od. bei d. Einreise bei d. Einwanderungsbehörden f. bestimmte Zeit
hinterlegt wird. L. soll d. Kosten d. Rückreise sicherstellen od.
garantieren, dass Einwanderer d. Öffentlichkeit nicht zur Last fällt.
Ò
Vorzeigegeld
Moskitonetz:
Netz aus engmaschigem Tüll (Maschenweite höchstens 1½
mm), d. v. Gestell gehalten d. Bett v. fliegenden Insekten freihält. Es
soll auch am Tage fest unter d. Matratze gesteckt u. regelmäßig abends
v. innen nach Fliegen u. Mücken abgesucht werden. Seitenteile werden
zweckmäßig v. Matratzenhöhe aufwärts m. etwa 30 cm breitem Streifen
kräftigen Stoffes verstärkt, um ein Hindurchstechen d. Insekten auf d.
Netz anliegenden Körper zu vermeiden.
Nansenpaß
erhalten nach internationaler Vereinbarung (auch in Dt.) russische
Flüchtlinge aus Estland, Lettland, Litauen u. d. Sowjetunion, wenn sie
am 1.8.1914 russische Staatsangehörige waren, vor d. 1.1.1923 ins neue
Staatsgebiet eingereist sind u. seitdem ununterbrochen dort leben,
staatenlos u. ohne Paß od. Paßersatz eines dritten Staates sind. Inhaber
v. N. verpflichtet d. ausstellende Staat nicht zum Schutz d.
Paßinhabers. Frauen und Kinder erhalten N. ohne Nachweis obiger
Voraussetzungen.
OSE
(Organisatia Sanitaria Eugenica): Gesellschaft f. Gesungheitsschutz d. J
(bes. in O-Eu), gegr. 1912 in St. Petersburg; Sitz seit 1938 Paris m.
Arbeitsausschuß f. Auswanderung j. Ärzte. Gibt heraus Revue Ose (Paris);
Soziale Medizin (Warschau); Folksgezunt (Wilna).
Passage:
Ausdruck f. Fahrpreis einschl. Verpflegung bei Überseereisen. P.-Sätze
richten sich nach Güte d. Schiffsklassen u. Lage d. Kabinen u. sind f.
d. einzelnen Routen meist durch internationale Abreden (Pool) d.
Reedereien geregelt.
Ò
Tab. Sp. 261.
Quote:
Von manchen überseeischen Einwanderungsländern festgesetzte Zahl d. aus
d. Auswanderungsgebieten im Höchstfall zuzulassenden Einwanderer (z.B.
USA, Brasilien).
Rückwanderer
sind Personen, d. in d. Vergangenheit aus ihrer Heimat nach Dt.
eingewandert sind u. in ihr Heimatland zurückkehren wollen. R.-Länder
sind vor allem d. Staaten in O-Eu. R. betreut Hauptstelle f. j.
Wanderfürsorge bei d.
Ò
Reichsvertretung u. ihr angeschlossene Wanderfürsorgestellen (Berlin:
Jüdische Gemeinde, C2, Rosenstraße 2-4).
Seekrankheit:
Übelkeit m. Erbrechen, ausgelöst bei empfindlichen Personen durch
Schaukelbewegungen d. Schiffes (Luftkrankheit in gleicher Weise im
Flugzeug). Vorbeugung: Mäßigkeit beim Essen, Nikotin- u. Alkoholgenuß.
Ablenkung durch Lesen od. andere Beschäftigungen. Möglichste Vermeidung
v. Küchen- und Essensgerüchen durch Aufenthalt auf d. Windseite.
Behandlung: m. Vasano (Schering) in Tabletten- u. vor allem
Zäpfchenform, Peremesintabletten (Heyden) u. Mothersill Sea Sick Remedy
(Burroughs & Welcome, London).
Transportversicherung
bei allen größeren Land- u. Überseetransporten anzuraten. Prüfen, ob bei
Verlust d. Gutes Auszahlung d. Versicherungssumme in d. Währung d.
Einwanderungslandes möglich ist.
Übersee:
Die
Überseewanderung ist zu scheiden von der Pal.-Wanderung (Ò
Alijah) u. steht im Gegensatz zur Eu-Wanderung. Seit 1934 wendet sich d.
Strom d. j. Auswanderung, des. d. v. d. j. Wanderungsorganisationen
planmäßig gelenkte, in immer stärkerem Umfange nach d. überseeischen
Ländern, bes. Am u. d. brit.
Ò
Dominions, da diese Länder im allgemeinen d. bereits Eingewanderten
nicht die Schwierigkeiten d. Arbeits- u. Aufenthaltserlaubnis in d. Weg
legen, welche Daueraufenthalt u. Existenzaufbau in eu. Ländern nur noch
in seltenen Ausnahmefällen zulassen. Anfang 1933 bis Mitte 1938 dürften
insgesamt ca. 63 000 j. Auswanderer aus Dt. nach Ü. eingewandert sein.
Ò
Dt.
Vertreter
finden Möglichkeiten fast nur in Ländern m. wenig entwickelter Ind. u.
m. verhältnismäßig starker weißer Bevölkerung (S- u. Mittel-Am). Über
aussichtsreiche Waren, Handelsgebräuche, Zahlungsgewohnheiten usw. geben
d. v. engl. Departement of Overseas Trade herausgebrachten
Länderberichte Auskunft. Gewöhnlich ist etwas eigenes Geld notwendig, um
etwa 1 Jahr bis zum Eingang d. ersten eigenen Einkünfte abwarten zu
können.
Wehrpflicht f. Auswanderer:
Bei Auswanderung Abgabe d. Wehrpässe u. Mitteilungd. Auswanderung an d.
Wehrbezirkskommando Ausland (Berlin W35, Herkules-Ufer 11). Auch J m.
Wohnsitz im Ausland of. Auslandsaufenthalt v. länger als 1 Jahr
unterliegen d. Wehrüberwachung durch d. zuständigen Konsul. Schriftliche
od. mündliche Meldepflicht d. Zu- od. Fortzugs od. d. etwaigen Wechsels
d. Aufenthaltsortes beim Konsul. Verpflichtung, jedem Gestellungsbefehl
Folge zu leisten.
Yen:
Währung Japans, Formosas, Mandschukuos. 1 mandsch. Yuan = 1 Yen.
Ò
Tab. Sp. 247.
Zwischendeck:
Primitivere Schiffsklasse, schlechter als 3. Klasse. Fehlt meist auf
modernen Ueberseedampfern.
Ò
Schiffsklassen." |